Durch unsere Smartphones stehen wir im permanenten Austausch mit der Welt. Ständig checken wir E-Mails, WhatsApp, Instagram, Twitter, Spiegel Online … als Erstes beim Aufwachen, als Letztes vorm Einschlafen, auf der Toilette, nach dem Sex, beim Überqueren der Straße, sogar beim Autofahren.138 Diese Allgegenwart von Information und Kommunikation geht einher mit einer enormen Beschleunigung der Information und Kommunikation. Dabei haben wir einerseits gelernt, Bilder und Informationen in einer nie da gewesenen Menge und Geschwindigkeit aufzunehmen. Andererseits hat sich jedoch unsere Aufmerksamkeitsspanne extrem verkürzt: Im Jahr 2000 konnten Menschen ihren Fokus noch durchschnittlich zwölf Sekunden lang halten. Diese Durchschnittszeit war aber 2015 bereits auf acht Sekunden zusammengeschrumpft. Damit haben wir Menschen inzwischen eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne als Goldfische, die schaffen nämlich durchschnittlich immerhin neun Sekunden.139
Durch dieses kollektive ADHS, diese kollektive Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, ist eine Kultur der Fahrigkeit entstanden, die weder Zeit noch Lust hat, etwas von Grund auf Neues zu schaffen. Um ein vollkommen neues Produkt an den Start zu bringen, fehlt uns die nötige Konzentration. Denn, um etwas nie zuvor Dagewesenes zu ersinnen, müsste man sich erst mal besinnen.
Nicht zu Unrecht stellte man sich echte Kreativität früher immer so vor, dass das Genie sich zunächst einmal in die Einsamkeit zurückzieht. In der Abgeschiedenheit seiner Einsiedelei geht der Schöpfer dann mit einem Gedanken schwanger, er brütet etwas aus und gebiert schließlich aus sich selbst heraus eine neue Idee. In die Stille, in die Leere hinein zaubert er sein Werk. Aus dem Nichts setzt er etwas Neues in die Welt.
Heute haben wir gar nicht mehr den Anspruch, aus dem Nichts etwas Neues zu schaffen. Wir können es nicht mehr, wir wollen es nicht mehr, und wir müssen es nicht mehr: »Das spätmoderne Subjekt fängt nicht ›bei null‹ an, sondern befindet sich in einem enormen, heterogenen, nicht zuletzt globalen und transhistorischen hyperkulturellen Netzwerk bereits bestehender, zirkulierender Praktiken und Objekte – alles ist in der Kultur schon da«, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz.140 Warum sollte man also alles Vorhandene wegräumen und künstlich eine Tabula rasa schaffen? Warum aus der Tugend eine Not machen? Mit all dem, was schon da ist, fällt es doch viel leichter, aus Vorhandenem auf die Schnelle etwas Neues zusammenzustellen. Für den spätmodernen Macher ist das weniger anstrengend, und für sein ADHS-Publikum ist es weniger fordernd. Und so macht es am Ende allen Beteiligten mehr Spaß.
Dieses Zusammentragen und neu Kombinieren von bekannten und vertrauten Dingen – auch »Kuratieren« genannt – hat sich inzwischen als Kulturtechnik in allen Bereichen unseres Lebens durchgesetzt: Remixe und Samples in der Musik, Retro-Looks im Design, Referenzen in der Architektur, Anspielungen in der Kunst, Zitate in der Literatur …
Doch auch wenn uns allen diese spielerische Kulturtechnik inzwischen schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, kommt es bei der Bewertung dieser Technik doch immer noch regelmäßig zu einem kulturellen Generationenkonflikt: Für die Älteren ist das alles keine Kunst. Für sie sind Leute, die so arbeiten, lediglich kulturelle Trittbrettfahrer, die auf dem kreativen Erbe früherer Generationen bequem durchs Leben surfen. Die Digital Natives hingegen wollen ihr gekonntes Remixen und Sampeln ganz selbstverständlich als kreative Leistung anerkannt sehen. Und diese Anerkennung wird ihnen auch immer öfter zuteil. Auch Reckwitz würdigt das Kuratieren als eine Kunst für sich: »Die Kunst des Kurators besteht in der klugen Auswahl und Aneignung, der kreativen Transformation und Einbettung. Er erfindet nichts von Grund auf Neues, er stellt klug zusammen.«141
Aber – »nichts von Grund auf Neues erfinden«, »auswählen«, »sich aneignen« und »klug zusammenstellen« – machen wir das nicht alle? Jeden Tag, wenn wir uns stylen? Wenn wir unsere Wohnung dekorieren? Wenn wir shoppen? Genau! »Die Praxis des Kuratierens lässt sich auf den spätmodernen Lebensstil insgesamt übertragen«, führt Reckwitz weiter aus. »Das spätmoderne Subjekt befindet sich seiner Welt und seinem Leben gegenüber in der Haltung eines Kurators – es lebt ein kuratiertes Leben.«142
Zu Ende gedacht heißt das: Indem wir das Kuratieren zunehmend als Kunst anerkennen und das kluge Auswählen und Zusammenstellen als kreative Leistung würdigen, verschwindet die Grenze zwischen »kreieren« und »konsumieren«, zwischen »schöpfen« und »shoppen«. In einer Radikalität und Konsequenz, wie es sich Warhol und Beuys in ihren wildesten Utopien nicht ausgemalt haben, wird Konsum zu einer Kunstform und dadurch jeder von uns zum potenziellen Künstler.