SHOPPING ALS ERMÄCHTIGUNG

In ihrer Studie über die Jahrtausendwendekinder schreiben Bosch, Eck und Hipperli: »Sie sind aufgewachsen in einer Welt, in der alles verfügbar, alles erreichbar scheint. Die Werkzeuge der Selbstermächtigung gegenüber der Welt sind mehr und besser geworden. Die Jahrtausendwendekinder lernen neue Formen der Effektivität von Handlungen kennen, sie können mit geringstem Aufwand, einem Fingerwisch, relevante Vorgänge veranlassen und Entscheidungen treffen.«147

Tatsächlich sind die Digital Natives regelrecht in eine Schaltzentrale, von der aus sie alles steuern können, hineingeboren. Alles, was ihnen wichtig ist, ist nur ein leichtes Tippen auf den Touchscreen entfernt – ihre Freunde, ihre Idole, ihre Musik, Multiplayer-Spiele, das Essen vom Lieferservice, Netflix-Serien, die Antwort auf die Fragen, die sie sich nicht zu stellen trauen, YouTube-Tutorials, Pornografie und erste Liebe.

… und zusätzlich noch all die Dinge, hinter denen sie ihre Unsicherheit verbergen können; Produkte, die ihrer noch wackeligen Identität Halt geben: Slogan-T-Shirts, Handyhüllen, Kopfhörer, Sonnenbrillen, Basecaps, Sneaker. Sämtliche Marken, Modelle, Varianten und Farben sind im Netz verfügbar. Sie können sie alle haben. Und selbst die Dinge, die man sich in dem Alter vielleicht noch nicht leisten kann, werden ihnen angeboten. Die gesamte Welt der Waren liegt ihnen zu Füßen – Produkte bieten sich ihnen an, Marken werben um ihre Gunst, Apps unterwerfen sich ihrem Urteil, Händler wollen von ihnen bewertet werden. All diesen Angeboten ihre Gunst zu gewähren oder zu verweigern, verleiht den Digital Natives an sich schon ein Gefühl der Macht und der Wichtigkeit.

Da ist der Eintritt ins »wahre Leben« natürlich eine harte Landung. »Man muss Schritt für Schritt lernen, mit der handfesten Realität und ihren Widerständen klarzukommen«, so Bosch, Eck und Hipperli. Und man fragt sich zunehmend, ob und warum man sich das überhaupt noch antun soll: »Ein Teil dieser Generation entzieht sich dem klassischen Verständnis von Persönlichkeitsentwicklung, die am Leben und an Widerständen erst wachsen muss.«148

So geht es inzwischen nicht nur den Jahrtausendwendekindern. »Die Akzeptanz für die kleinschrittigen Mühen des Alltags und die Widersprüche des Lebens schwindet«, diagnostiziert der Psychologe Stephan Grünewald. »Wir kippen ständig zwischen digitaler Allmacht und analoger Ohnmacht.«149 Wir alle erleben unser Offlineleben zunehmend als vergleichsweise enttäuschend. Wenn man von seinen Ausflügen in die virtuelle Welt in die echte Welt zurückkehrt, fühlt man sich irgendwie ernüchtert, zurückgestuft und unterbewertet. So, als wäre man in seinen Möglichkeiten plötzlich eingeschränkt und könnte sein wahres Potenzial nicht mehr voll ausschöpfen. Vom Entscheider zum eigenen Handlanger degradiert. Muss man denn hier alles selbst machen? Der analoge Weg von der Entscheidung zu ihrer Umsetzung erscheint einem unverhältnismäßig lang und mühselig.

So läuft man Gefahr, in eine ähnliche Spirale zu geraten wie der Workaholic: Beim Workaholic leidet das Privatleben darunter, dass er zu viel arbeitet. Und je mehr sein Privatleben den Bach runtergeht, desto mehr flüchtet er sich in seine Arbeit. Und je mehr er sich seiner Arbeit zuwendet, desto besser läuft seine Arbeit. Und je mehr Erfolgserlebnisse sie ihm bietet, desto mehr arbeitet er. Und je mehr er arbeitet, desto mehr bleibt sein Privatleben auf der Strecke …

Unser Privatleben – also unser Privatleben IRL (in real life) – leidet zunehmend unter unserer wachsenden täglichen Bildschirmzeit. Denn wir verbringen inzwischen durchschnittlich mehr als die Hälfte unserer sechzehn Wachstunden mit unserem Smartphone, im Internet und vor dem Fernseher. Das heißt, dass man von zehn Lebensjahren nur vier im echten Leben verbringt.150 Und je mehr unser echtes Leben den Bach runtergeht, desto mehr wird das Netz zu einem Zufluchtsort, an dem man sich all die Bestätigung und die Erfolgserlebnisse holt, die einem in der analogen Welt verwehrt bleiben – man verbessert seinen Score bei Minecraft, vermehrt seine Follower auf Instagram, bekommt noch mehr Likes auf Facebook und noch mehr Zustimmung auf Twitter. Im Netz ist alles mühelos. Das Netz ist eine Gegenwelt, in der es keinen Kampf mit den banalen Notwendigkeiten des Alltags gibt und kein Scheitern an den Widrigkeiten des Lebens – bei uns selbst nicht und bei allen anderen scheinbar auch nicht. Die Onlinewelt ist die Bühne, auf der man glänzen und sich entfalten kann. Die Offlinewelt hingegen ist irgendwann nur noch der Backstage-Bereich, in dem man sich ausruht, umzieht, schminkt und vorbereitet.

Und je bedeutungsloser die Offlineexistenz wird, desto mehr Zeit verbringt man an dem Ort, an dem einem die Welt wirklich zu Füßen liegt und den man deshalb gerne als seinen rechtmäßigen Platz auf Erden empfinden will: dem Onlinestore. »[Denn dort] ist der Kunde bereits König«, erklärt Grünewald. »Sein zentrales Macht- und Herrschaftsinstrument ist das Smartphone. Es dient als magisches Zepter.«151 Also geht man auf amazon.de und zalando.de und schwingt dort sein Zepter: Man lässt Lampen liefern, schickt Hosen zurück, legt eine größere Auswahl Schuhe in den Warenkorb, vergleicht Kosmetikpreise, informiert sich über Fitness-Uhren … So verbringt die knappe Hälfte der amerikanischen Millennials bereits mehr als eine Stunde pro Tag in Webshops. Denn das Browsen und Shoppen ist nach eigener Aussage für 70 Prozent der Frauen und die Hälfte der Männer eine Form von »Entertainment«.152