Viele Menschen behaupten von sich selbst, dass sie sich beim Einkaufen angeblich keine Gedanken darüber machen, was ihre Umwelt von ihnen denkt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten würden sie sich schöne Dinge nicht kaufen, um andere zu beeindrucken, sondern nur und ausschließlich, um sich selbst eine Freude zu machen. Sie stützen diese Behauptung zum Beispiel mit dem Hinweis darauf, dass sie ja schließlich eine diskrete Bottega-Veneta-Handtasche ohne sichtbares Markenzeichen tragen und niemals mit einer marktschreierischen Louis-Vuitton-Tasche voller LV-Monogramme herumrennen würden.
Dieser angeblich rein private Konsum ist längst als Mythos enttarnt. Eine Studie hat ergeben, dass Modemarken, die auf weithin sichtbare Logos verzichten (wie zum Beispiel Bottega Veneta und Stella McCartney), größte Mühe haben, neue Handtaschenformen einzuführen. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Die Kund*innen, die solche vermeintlichen Understatement-Taschen kaufen, legen Wert darauf, dass ihre Umwelt von der wiedererkennbaren Form ihrer Tasche auf die Marke ihrer Tasche und damit auf den Preis ihrer Tasche schließen kann.165 Das heißt: Es gibt gar keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Bottega-Veneta-Kund*innen und den Louis-Vuitton-Kund*innen – was für die einen das wiedererkennbare Logo ist, ist für die anderen die wiedererkennbare Form, das ist alles.166
Handtaschen sind nie nur Gepäckstücke, Armbanduhren sind keineswegs nur Zeitmesser und Autos sind nicht nur Fortbewegungsmittel, sondern immer auch Statussymbole. Ausnahmslos alle benutzen sie, um zu zeigen, dass sie es im Leben zu was gebracht haben – nur manche eben etwas plumper und andere etwas subtiler.
Der Glaube, dass man selbst von derartigem Statusdenken frei sei und sich Dinge einfach nur für sich selbst kaufe, ist in den allermeisten Fällen eine Illusion. Eine Illusion, der man sich nur allzu gerne hingibt, um vor sich selbst nicht als unsouverän dazustehen. Entsprechend überrascht waren wir darüber, wie gering unser Interesse an Konsum war, als es in der häuslichen Isolation der Coronakrise für unseren Konsum plötzlich kein Publikum mehr gab.167 So viele Dinge, die wir unter normalen Umständen immer haben wollen, hatten damit für uns schlagartig ihren Reiz verloren.
Es liegt in unserer Natur, mit unserem Konsum Anerkennung zu suchen. Wenn es nach dem Soziologen Pierre Bourdieu geht, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als es zu tun: In dem Kampf um gesellschaftliche Positionen, dem wir tagtäglich ausgeliefert sind, sind wir gezwungen, nicht nur unser ökonomisches, sondern auch unser soziales, symbolisches und kulturelles Kapital zum Einsatz zu bringen.168 Wir können es uns also gar nicht erlauben, unseren Konsum für uns zu behalten und auf den damit verbundenen Distinktionsgewinn zu verzichten.
Damals, in der analogen Welt, in der Bourdieu das schrieb, war privater Konsum schon nicht wirklich privat. Heute, in der digitalen Welt, ist er es aber erst recht nicht mehr. Denn auf Social Media geht es im Grunde um nichts anderes, als darum, sein soziales, symbolisches und kulturelles Kapital auszuspielen, um sich gesellschaftlich nach vorn zu bringen. Und dank der Smartphone-App mit dem Sofortbildkamera-Icon haben wir jetzt alle, egal wo wir sind, rund um die Uhr die Möglichkeit, unseren Lifestyle sofort – also insta-ntly – öffentlich zu machen.
Und die Konkurrenz schläft nicht. Wenn wir morgens aufwachen, hat über Nacht schon wieder jemand Fotos von seinem tollen Abend mit kunstvoll angerichtetem Essen gepostet. Jemand anderes lässt uns wissen, dass er schon bei Sonnenaufgang ein Flugzeug bestiegen hat. Und Freunde schicken Fotos von Cocktails am Infinity-Pool in Indonesien. Privater Luxus wird permanent öffentlich vorgelebt. Um da mithalten zu können, darf auch unser Konsum nie ruhen. Der Feed will regelmäßig gefüttert werden. Denn in den sozialen Medien wird nicht nur von Prominenten, sondern von jedem von uns erwartet, dass er eine persönliche Marke pflegt und kuratiert. Das bedeutet für uns, dass nicht nur unser Instagram-Account, sondern auch der Konsum, den wir dort zeigen, permanent aktualisiert und ausbalanciert werden muss, um für unsere Umwelt spannend und attraktiv zu bleiben. Denn nur wenn unser Lebensstil attraktiv ist, bleiben auch wir für andere attraktiv.
Wer auf Instagram und Facebook nicht nur dabei sein, sondern dazugehören will, der muss dort seinen privaten Lebensstil öffentlich machen. Wer nicht den Anschluss an die Digitalisierung verpassen, ins gesellschaftliche Abseits geraten und in der erbarmungslosen Ökonomie der Aufmerksamkeit untergehen will – so wird uns von allen Seiten suggeriert –, muss heutzutage bereit sein, die Mauer zwischen privat und öffentlich einzureißen. »Das Private ist kein Rückzugsort mehr«, schreibt die Dozentin für Körperkultur Diana Weis, »es ist ein Safe Space mit Wänden aus Glas.«169 Dessen sind wir uns sehr bewusst. Wir haben es verinnerlicht, und wir haben uns darauf eingelassen. Und inzwischen genießen wir es sogar. Sehr sogar. Wir genießen die Aufmerksamkeit, die uns und unserem gesamten Tagesablauf im Netz zuteilwird. »Wir stilisieren uns selbst zu Stars in unserem eigenen Film, den die ganze Welt betrachten kann. Wir üben jeden Handgriff so aus, als würden uns Tausende gebannt dabei beobachten.«170
So haben die sozialen Medien einen kollektiven Exhibitionismus geschaffen. Und wo kollektiver Exhibitionismus ist, entfaltet sich natürlich auch ein kollektiver Voyeurismus. Denn die Freude an der Indiskretion ist selbstverständlich wechselseitig: Die anderen können auf Social Media – fast wie mit einer Webcam – unser Leben verfolgen. Und genauso verfolgen wir – fast wie mit einer Webcam – begierig das Leben der anderen.
Instagram ist das Fenster, durch das wir beobachten können, wie sie leben, wie sie wohnen, was sie essen, was sie tragen, wohin sie reisen …