NATÜRLICHE OBSOLESZENZ VS. PSYCHISCHE OBSOLESZENZ

Die natürliche Obsoleszenz »tritt bei der altersüblichen Abnutzung auf, wenn Gegenstände das Ende ihrer erwarteten Lebensdauer erreicht haben und ihre Funktionsfähigkeit einbüßen«.182

Weder wir selbst noch unsere Umwelt erwarten von uns, dass wir jeden Gebrauchsgegenstand so lange benutzen, bis er tatsächlich unbrauchbar geworden ist. Einen Pullover beispielsweise trägt man selbstverständlich nicht so lange, bis er nicht mehr wärmt, sondern nur so lange, bis man keine Lust mehr hat, ihn zu tragen, oder vielmehr so lange, bis man mehr Lust hat, einen anderen Pullover zu tragen.183 Es ist für uns ganz normal, uns neue Dinge zu kaufen, obwohl die Dinge, die wir haben, »eigentlich noch ganz in Ordnung« sind. Man kann also eigentlich gar nicht mehr von »Verbraucher*innen« sprechen. Denn zum Verbrauch von Dingen kommt es fast nie mehr. Aus den »Verbraucher*innen« sind »Konsument*innen« geworden, die Dinge ersetzen, lange bevor sie verbraucht sind. Von vielen Dingen trennen wir uns also nicht, weil sie natürlich obsolet geworden sind, sondern weil sie für uns psychisch obsolet geworden sind.

Im Fall der psychischen Obsoleszenz wird nämlich »ein Produkt, das noch voll und uneingeschränkt nutzbar wäre, von den Konsument*innen nicht mehr gewünscht, da es unansehnlich geworden ist oder an Popularität verloren hat, also umgangssprachlich ›out‹ ist. Psychische Obsoleszenz resultiert meist aus Modetrends.«184

Das heißt: Ein Gegenstand wird nicht so lange genutzt, wie er hält, sondern nur so lange, wie der mit ihm verbundene Trend Gültigkeit hat. Ein neuer Modetrend macht uns zum Beispiel Lust, uns neu einzukleiden, ein neuer Wohntrend macht uns Lust, uns neu einzurichten, und so weiter. Der Rhythmus, in dem diese Trends wechseln, bestimmt den Rhythmus, in dem wir die Dinge austauschen, mit denen wir uns umgeben.

Wechselnde Modetrends als Ursache für psychische Obsoleszenz gab es schon lange vor der Digitalisierung. Es ist absolut nichts Neues, dass Menschen Dinge aussortieren, weil sie nicht mehr der Mode entsprechen. Neu ist aber die Erfahrung, dass die Dinge umso schneller aus der Mode kommen, je schneller sich die Bilder dieser Dinge verbreiten. Und weil sich die Bilder durch das Internet so schnell verbreiten wie noch nie, kommen die Dinge schneller aus der Mode als je zuvor. Und man sortiert seine Sachen schneller aus als je zuvor. Am Beispiel unserer Kleidung kann man verfolgen, wie sich die Lebensdauer von Trends und die Lebensdauer von Gebrauchsgegenständen im Gleichschritt verkürzen: Fast jeder Zweite sortiert den Großteil seiner Kleidung nach eigenen Aussagen »innerhalb von weniger als einem Jahr« aus.185 Da man in Deutschland Sommerkleidung nur im Sommer und Winterkleidung nur im Winter tragen kann, bedeutet »innerhalb von weniger als einem Jahr« im Klartext, dass Kleidung nur noch eine Saison getragen wird. So hat sich im Zuge der Digitalisierung tatsächlich mit der Lebensdauer der Trends auch die Lebensdauer von Kleidung auf ein halbes Jahr verkürzt. Ein halbes Jahr ist offenbar die Zeit, die es dauert, bis ein Stück »psychisch obsolet« wird. Oder anders ausgedrückt: Ein halbes Jahr ist im Moment die Zeit, die es dauert, bis man das, was man haben wollte, nicht mehr haben will.