PSYCHISCHE UND QUALITATIVE OBSOLESZENZ

Die meiste Zeit haben wir absolut kein Problem damit, Gebrauchsgegenstände nicht so lange zu ge-brauchen, bis sie tatsächlich un-brauch-bar geworden sind, sie also nicht zu ver-brauchen. In dem Moment, in dem wir etwas aufregendes Neues entdecken, werden die vorhandenen Dinge ohnehin aus unserem Bewusstsein verdrängt. Und so wie sie in unserem Bewusstsein in den Hintergrund geraten, wandern sie auch in unseren Schränken immer weiter nach hinten. Erst in dem Moment, in dem man seine Schränke wegen Überfüllung »wirklich mal ausmisten« muss, holen einen diese Dinge ein. Denn im Gegensatz zu den Snapchat-, Facebook- und Insta-Storys, in denen man sie gepostet hat, löschen sich die Dinge nicht nach vierundzwanzig Stunden von selbst.

Dann kommt die Katerstimmung nach dem Kaufrausch. Es gibt wohl niemanden, für den es sich nicht irgendwie falsch anfühlt, im Grunde neuwertige Kleidungsstücke, Accessoires und Deko-Objekte eigenhändig in die Mülltonne zu werfen. In diesen Momenten des Wegwerfens fühlt man sich schlecht und untreu und oberflächlich und gierig, weil sich zeigt, wie schnell all diese Dinge in unserem Ansehen gesunken sind, obwohl sie doch eigentlich nichts von ihrem Wert eingebüßt haben. In solchen Momenten wünscht man sich insgeheim, diese Dinge wären tatsächlich kaputt. Denn dann bräuchte man kein schlechtes Gewissen zu haben, dass man sie wegwirft.

Die Idee, die Lebensdauer eines Produkts absichtlich zu verkürzen, ist nicht neu. Es gibt sie vermutlich schon so lange, wie es Menschen gibt, die ihr Geld damit verdienen, dass andere Menschen ihnen regelmäßig die gleichen Dinge abkaufen. Bei einer solchen qualitativen Obsoleszenz »versagt oder verschleißt ein Produkt zu einem bestimmten, geplanten, gewöhnlich nicht allzu fernen Zeitpunkt«.189 So verbauen zum Beispiel die Hersteller von Fernsehgeräten oft minderwertige Elektrolytkondensatoren, die spätestens nach fünf Jahren kaputtgehen, obwohl doppelt so lange funktionierende Kondensatoren kaum teurer sind. Seit hundert Jahren wird geplante qualitative Obsoleszenz systematisch und im großen Stil eingesetzt, um die »Ersatzrate« von Gebrauchsgegenständen zu erhöhen.190 In all dieser Zeit geschah das aber meist ohne das Wissen und immer gegen den Wunsch der Verbraucher. Denn der Homo oeconomicus, der seinen Nutzen maximieren wollte, wünschte sich natürlich grundsätzlich möglichst langlebige Produkte. Damals. Im 20. Jahrhundert.

Neu ist jetzt, im 21. Jahrhundert, dass sich nicht nur die Hersteller, sondern auch wir, die Konsument*innen, eine hohe Ersatzrate wünschen: Die Hersteller haben ein kommerzielles Interesse daran, dass wir uns regelmäßig neue Sachen kaufen, und wir haben unsere Freude daran, uns regelmäßig neue Sachen zu kaufen. Und da wir ohnehin nicht die Absicht haben, die Dinge, die wir kaufen, so lange wie möglich zu nutzen, haben wir auch kein Interesse daran, dass diese Produkte so lange wie möglich halten. Im Gegenteil: Eigentlich wünschen wir uns, dass die Dinge genauso lang – oder vielmehr genauso kurz – halten, wie wir sie nutzen wollen. Denn dann können wir sie guten Gewissens wegwerfen und durch neue ersetzen. Wir können den nächsten Lustkauf vor uns und der Welt als Bedarfskauf rechtfertigen. Denn dann kaufen wir uns nicht das hundertste Paar Schuhe, sondern wir kaufen uns neue Schuhe, weil die alten kaputt sind. Und dagegen ist ja nun wirklich nichts einzuwenden.

Also werden – im gemeinsamen Interesse von Herstellern und Konsument*innen – Produkte inzwischen nach Möglichkeit so hergestellt, dass sie ungefähr dann qualitativ obsolet werden, wenn sie für uns ohnehin psychisch obsolet werden. Oder anders ausgedrückt: Die Dinge werden so hergestellt, dass sie nur so lange halten, wie sie für uns in sind, und kaputtgehen, wenn sie für uns sowieso out sind. Insofern gibt es keinen Grund, überrascht zu sein, wenn sich von den witzigen Schuhen, die wir uns für den Sommer gekauft haben, tatsächlich am Ende des Sommers die Sohle ablöst. Solche Kleidungsstücke werden – sowohl modisch als auch qualitativ – nur für eine Saison gemacht. Das führte 2019 zu dem folgenden Hilferuf des Fachverbands Textilrecycling:

»Die Container quellen über, die Sammelmengen steigen stetig, die Lager sind voll mit Alttextilien. Die Zunahme der Menge allein wäre womöglich noch beherrschbar. In Kombination mit immer schlechterer Qualität der Sammelware wird das Geschäft jedoch ruinös. Die Textildiscounter und Fast-Fashion-Anbieter bringen in immer schnelleren Zyklen Mode in zunehmend schlechterer Qualität auf den Markt, die immer schneller entsorgt werden muss. Billige Synthetikfasern und Mischstoffe sind für die weitere Verwendung jedoch nur sehr eingeschränkt nutzbar. Sie eignen sich weder für den Second-Hand-Bereich noch für die Putzlappenherstellung oder die Faserrückgewinnung.«191

Inzwischen ist es so weit, dass von all den Dingen, die unsere Haushalte durchlaufen, nur ein Prozent sechs Monate nach Anschaffung noch in Gebrauch ist.192 Selbst die Dinge, von denen wir beim Kauf noch geglaubt hatten, dass wir sie länger behalten würden, sind dazu bestimmt, nach kürzester Zeit weggeworfen zu werden – entweder weil sie aus der Mode kommen oder weil sie kaputtgehen. Oder eben beides gleichzeitig.

Aber was war zuerst, der kurzlebige Konsum oder das kurzlebige Produkt? Gibt es Handys mit rahmenlosem Glas-Display, weil wir uns ohnehin alle zwei Jahre ein neues holen? Oder wechseln wir alle zwei Jahre das Handy, weil das Display dann ohnehin kaputt ist? Die Frage ist so müßig wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Es gäbe das eine nicht ohne das andere.