Einige Menschen meinen herausgefunden zu haben, dass eine finstere Weltverschwörung von skrupelloser Großindustrie und korrupter Politik an unserem Überkonsum schuld sei. Und tatsächlich ziehen Unternehmer und Politiker hier an einem Strang. Die Politik drängt uns mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zum Konsum: Regierungen liberalisieren die Wirtschaft, manipulieren die Zinssätze und kürzen Steuern, nur damit wir noch mehr Geld ausgeben. Denn für sie sieht die Welt ganz einfach aus: Unser Konsum ist der Erfolg der Unternehmen. Und erfolgreiche Unternehmen bedeuten Steuereinnahmen und Arbeitsplätze. Also können Politiker nur erfolgreich regieren, wenn wir kräftig konsumieren.
Dass Konsum in unserer Gesellschaft geradezu als Bürgerpflicht betrachtet wird, zeigte sich, als wir während der Coronakrise von zahlreichen Initiativen aufgerufen wurden, trotz aller Hindernisse weiterhin wie gewohnt einzukaufen, um die lokale Handelslandschaft zu stützen. Mangelnder Bedarf oder fehlende Lust wurden als Ausreden nicht anerkannt. Wer nichts brauche und nichts wolle, der solle sich wenigstens einen Gutschein kaufen.
Die deutsche Autoindustrie ist ein hervorragendes Beispiel für die unheilige Allianz von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik: Während die Autohersteller uns ein unmoralisches Angebot nach dem anderen machen, schafft die Bundesregierung – durch Subventionen, Abwrackprämie und so weiter – für uns ständig neue Anreize, auf diese unmoralischen Angebote einzugehen.
Aber das macht uns noch lange nicht zu ahnungslosen, unschuldigen Opfern. »Man kann Menschen nicht nach Belieben manipulieren«, bestätigt selbst der Meister des Manipulierens, der Werbe-Guru Phil Barden. »Man kann uns nur manipulieren, wenn wir manipuliert werden wollen.«212 Es zwingt uns ja schließlich niemand, immer den neuesten und größten und stärksten SUV zu fahren, den wir uns leisten können. Niemand von uns kann sagen, er hätte nicht gewusst, was das für die Umwelt bedeutet.
Ja, Politik und Industrie sind in der Verantwortung, einen Kompromiss zu finden aus Ökonomie und Ökologie, aus freier Marktwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft, aus national und global. Sie sind in der Verantwortung, einen Kompromiss zu finden, der für uns als ihre Wähler*innen und Kund*innen akzeptabel ist. Und aus dieser Verantwortung sollten wir sie auf keinen Fall entlassen.
Aber vor allem müssen wir unsere eigene Verantwortung anerkennen. Wir sind es, die diese Welt gestalten. Wir gestalten sie nicht nur durch unsere Wahlentscheidung alle vier Jahre. Wir gestalten sie vor allem und viel tiefgehender durch die Kaufentscheidungen, die wir tagtäglich treffen. Durch unseren Konsum kommunizieren wir permanent mit der Industrie und der Politik. Kaufen signalisiert: »Mehr davon!« Nicht kaufen bedeutet: »Weniger davon!« Wenn wir uns zum Beispiel im Supermarkt ein paar Eier kaufen, kaufen wir uns nicht einfach nur ein paar Eier. Ob wir wollen oder nicht, stimmen wir durch unseren Kauf darüber ab, ob Hühner frei oder in Legebatterien gehalten werden sollen. Indem wir etwas weiter links oder rechts ins Eierregal greifen, entscheiden wir mit, ob männliche Küken geschreddert werden oder nicht. Mit jedem Kauf, den wir tätigen, geben wir unsere Stimme ab, für oder gegen Produkte und damit für oder gegen die Werte, die diese Produkte repräsentieren. Und genauso wie bei einer Bundestagswahl die relative Bedeutungslosigkeit unserer Stimme keine Entschuldigung dafür ist, nicht wählen zu gehen, ist die relative Bedeutungslosigkeit unserer Kaufentscheidungen auch keine Entschuldigung dafür, aus Bequemlichkeit weiterhin die falschen Produkte zu kaufen und die falschen Unternehmen zu unterstützen.
Investigative Journalisten und Dokumentarfilmer stoßen – bei ihren Recherchen über eingestürzte Fabrikgebäude, die Sklavenarbeit in der Textilproduktion, die Kinderarbeit bei der Kakaoernte, die Vergiftung von Gewässern durch das Färben von Stoffen, die Brandrodung des Regenwaldes zum Palmölanbau, Gesundheitsschäden durch Pestizide auf Baumwolle, die Enteignung von Grundwasser und so weiter – immer wieder auf dieselben Unternehmen. Immer wieder können dieselben großen Fast-Fashion-Ketten, dieselben großen Sportausrüster und dieselben großen Lebensmittelkonzerne in einen nachweislichen Zusammenhang gebracht werden mit der skrupellosen Ausbeutung von Menschen und Natur. Die Namen dieser Unternehmen werden in Zeitungsartikeln, Fernsehreportagen, Dokumentarfilmen, Blogbeiträgen und Radiosendungen genannt.
Warum kaufen wir diese Marken trotzdem immer weiter? Weil wir dem Schnäppchen einfach nicht widerstehen können? Weil alle es tun? Weil diese Marken hier bei uns sooo sympathisch rüberkommen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass sie am anderen Ende der Welt so schlimme Sachen machen? Weil ihre Produkte uns auf Schritt und Tritt angeboten werden?
Das sind zu schwache Entschuldigungen. Wenn wir wollen, dass sich etwas ändert, müssen wir konsequenter darin sein, diese Firmen zu boykottieren. Wir sollten bereit sein, ein paar Schritte mehr zu machen und ein paar Cent mehr auszugeben, um die nachhaltigere und fairere Alternative zu kaufen, auch wenn das immer schwieriger wird. In manchen Fällen existiert nämlich eine nachhaltig produzierte und fair gehandelte Alternative schon fast gar nicht mehr. Es gibt ganze Warengruppen, in denen das unmoralische Angebot der großen Oligopolisten schon so alternativlos geworden ist, dass ein ethisch vertretbarer Konsum kaum noch möglich ist. Bei Sneakern zum Beispiel liegt in den USA der Marktanteil von Nike bei über 60 Prozent, und den Rest teilen sich Adidas und Under Armour mit je ungefähr 20 Prozent.213