Kinderpornografie darf bei uns nicht verkauft werden. Auch dann nicht, wenn sie in einem Land hergestellt wurde, in dem Kinderpornografie nicht verfolgt wird. Unser Rechtsverständnis ist also entscheidend dafür, ob ein Produkt bei uns verkauft werden darf, nicht das Rechtsverständnis in seinem Herkunftsland. Deshalb erwarten wir völlig zu Recht, dass Produkte, die mit Sklaven- und Kinderarbeit hergestellt wurden oder bei deren Herstellung giftige Abwässer ungefiltert in die Flüsse geleitet wurden, bei uns gar nicht erst angeboten werden dürfen. Wir wollen uns darauf verlassen können, dass es bei der Herstellung der Dinge, die wir kaufen, mit rechten Dingen zugegangen ist. Können wir aber nicht. Im Gegenteil: Es gibt bei uns ganze Fußgängerzonen und ganze Shopping Malls, in denen wahrscheinlich kein einziges fair gehandeltes und nachhaltig hergestelltes Produkt angeboten wird.
Eigentlich müsste uns das inzwischen klar sein. Wir verdrängen es aber. Wir kaufen einfach weiter all diese Produkte und reden uns ein, dass irgendwer das bestimmt irgendwo kontrolliert hat. Wenn die Produktionsbedingungen wirklich so schlimm wären – so glauben wir, weil wir es glauben wollen –, würde das ja irgendjemand verbieten.
Die deutsche Politik denkt aber überhaupt nicht daran, solche Produkte zu verbieten. Bei den meisten Importprodukten schaut sie lieber weg. Sie will die Produktionsbedingungen im Ausland gar nicht kontrollieren. Und sie entlässt auch die im Ausland produzierenden Unternehmen aus der Verantwortung, die Produktionsbedingungen vor Ort selbst zu kontrollieren. So wollte und konnte zum Beispiel das Landgericht Dortmund Anfang 2019 den Textil-Discounter KiK nicht für den verheerenden Brand in seinem Zulieferbetrieb in Pakistan zur Verantwortung ziehen. Dort waren 258 Menschen ums Leben gekommen, weil KiK seine Pflicht zur Kontrolle der vorgegebenen Brandschutzstandards vernachlässigt hatte.214
Da Exekutive, Legislative und Judikative sich also offenbar darauf geeinigt haben, hier systematisch wegzuschauen, wäre es eigentlich an der Presse, ihrer traditionellen Aufgabe als Vierter Gewalt nachzukommen. Eigentlich wären die öffentlichen Medien in der Verantwortung, solche staatlich geduldeten oder sogar protegierten Missstände aufzudecken und anzuprangern. Eigentlich. Tatsächlich sind aber für viele Medien inzwischen oft genau die Konzerne, um die es dabei gehen müsste, wichtige Anzeigenkunden. Und da Journalismus heute mehr denn je auf Werbeeinnahmen angewiesen ist, berichtet man eben einfach über etwas anderes. Themen gibt es ja genug.
So werden die Unternehmen am Ende gar nicht kontrolliert. Es gibt niemanden, der nachhält, ob bei der Herstellung der Waren, die bei uns verkauft werden, irgendwelche ökologischen oder humanitären Mindeststandards eingehalten werden.
Dass wir auf eine freiwillige Selbstkontrolle der Industrie schon gar nicht hoffen können, machen die nicht enden wollenden Umweltskandale und die anhaltenden Arbeitsrechts- und Menschenrechtsverletzungen in den Produktionen sehr deutlich. So ist zum Beispiel der Anteil von Biobaumwolle am Weltmarkt in den letzten Jahren sogar noch zurückgegangen – von einem Prozent auf 0,6 Prozent. Und der Preis, den die führenden Unternehmen ihren Produzenten in Bangladesch bezahlen, ist seit dem Rana-Plaza-Unglück nicht etwa gestiegen, sondern tatsächlich noch um 13 Prozent gesunken.215
Solche Erfahrungen zeigen, dass die Industrie kein Gewissen hat. »Die Industrie« verhält sich nicht moralisch. Sie verhält sich auch nicht unmoralisch. Sie verhält sich amoralisch. Ethisch akzeptables Verhalten ist für sie keine Frage der Überzeugung, sondern des Risiko-Managements. In der Geschichte des Kapitalismus haben Unternehmen nur selten eine ökologische oder humanitäre Schweinerei beendet, weil sie eingesehen haben, dass sie unrecht ist. Sie ändern ihr Geschäftsgebaren meist erst dann, wenn sie durch einen Skandal mehr Geld verlieren, als sie durch die ursächliche Schweinerei einsparen können.
Also müssen wir dafür sorgen, dass es genau so kommt.
Die Digitalisierung hat uns neue und machtvolle Mittel an die Hand gegeben, die uns helfen können, die Industrie zur Einhaltung ethischer Mindeststandards zu bewegen. Social Media erweist sich hier als Fluch und Segen zugleich. Denn als Teil von sozialen Netzwerken kämpft der Einzelne – auch wenn er gegen die skrupellosen Machenschaften gigantischer Unternehmen kämpft – nicht mehr auf verlorenem Posten. So wie beim Schmetterlingseffekt der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann, so kann auf Social Media ein einzelner Tweet einen Shitstorm auslösen, der selbst Politiker und Konzernsprecher in weniger als vierundzwanzig Stunden zum Einlenken zwingt. Im Netz kann sich die Empörung über moralische Fehltritte von Unternehmen viral verbreiten und verstärken. Auf Facebook kann sich Protest innerhalb kürzester Zeit formieren und als Protestmarsch auf die Straße ergießen. Der Boykott Einzelner kann zu einem Massenboykott eskalieren, der selbst für börsennotierte Unternehmen existenzbedrohend wird. Die Heftigkeit und Unkontrollierbarkeit dieser Kettenreaktionen macht sie unheimlich, nicht nur für uns, sondern vor allem für die Unternehmen. Und das ist sehr gut so.
Da Wirtschaftsunternehmen in einem entfesselten Kapitalismus offenbar keine ethische Selbstkontrolle mehr haben, brauchen sie die Drohkulisse eines potenziellen Shitstorms, um sich ethisch korrekt zu verhalten. Die sozialen Medien sind die neue Vierte Gewalt. Die kollektive Empörung im Netz ist das letzte verbliebene Mittel, um ein Wirtschaftssystem einzunorden, das seinen eigenen moralischen Kompass verloren hat. Wenn wir nicht wollen, dass reiche Unternehmen weiterhin Menschen unter unwürdigen und lebensgefährlichen Bedingungen für sich arbeiten lassen und die Luft, das Wasser und die Erde unseres Planeten für Generationen verschmutzen, um ein paar Prozent Kosten zu sparen, dann müssen wir diese Missstände im Netz anprangern und die Informationen darüber in unseren Netzwerken verbreiten, so oft und so deutlich wie möglich.