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Die SMS auf ihrem Blackberry hatte sie nicht erwartet.

»Hi. Tut mir leid. Wollen wir uns treffen? Wolfgang.«

Anne schaute ungläubig auf das Display. Sie kannte keinen Wolfgang.

Wütend tippte sie in ihre Tastatur: »Wer sind Sie?«

Als hätte der Typ hinter seinem Handy gesessen und auf ihre Antwort gewartet, kam prompt die Antwort: »Gespräch letzten Samstag. Erinnern Sie sich?«

Und ob sie sich erinnerte. Der Kerl mit der Kinder-Nummer! Das war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte. Sie begann, ihre Antwort einzutippen, doch dann zögerte sie. Sie hatte es nicht nötig zu antworten.

Wütend schaltete sie ihr Gerät aus.

Woher hatte der Kerl ihre Telefonnummer?

Jetzt brauchte sie einen Kaffee, bevor die trockene Luft im Archiv sie umbrachte. Das nächste Restaurant, in dem auch Kaffee serviert wurde, lag unweit der Gasse. Sie würde zu Fuß hingehen und dann erst mit dem Auto ins Staatsarchiv fahren. Sie kannte sich. Wenn sie jetzt ins Auto stieg, dann würde der Kaffee flachfallen.

»Und wie soll ich zum Nordfriedhof rauskommen?«, fragte Elder, der hinter ihr herlief wie ein kleiner Hund.

»Straßenbahn, Taxi, zu Fuß. Das Taxi zahlen Sie selber.«

Ohne sich um ihr lästiges Anhängsel zu kümmern, lief sie weiter. Er kam ihr nicht nach.

Zeit, sich ein wenig Gedanken über ihren Auftrag zu machen. Es roch geradezu nach einer krummen Sache.

Warum um alles in der Welt wirkte diese Wohnung so unbewohnt?

Anne strich sich ihr Haar aus dem Gesicht und versuchte, sich den Menschen zu dieser Wohnung vorzustellen. Aber es gelang ihr nicht.

Sie querte den Fronhof und lief zum Obstmarkt hinunter. Auf halbem Weg lag die Pyramide, ein gemütliches Restaurant. Sie bestellte ein Kännchen Kaffee, und während sie darauf wartete, zog sie noch einmal die Bilder aus ihrer Tasche.

Der Junge mit seinem Vater, der beinahe Achtzehnjährige im Reichsarbeitsdienst, eine Hacke geschultert. Sie drehte das Bild um. »1938« stand mit Bleistift aufnotiert.

Das nächste Bild drehte sie zuerst um. »1939, Unterscharführer« entzifferte sie. Dann musterte sie den jungen Mann auf dem Foto. Er trug eine SS-Uniform. Die beiden SS-Runen auf dem Kragenspiegel blitzten im Licht. Er deutete stolz auf ein Schulterstück. Dieser Hans Meister sah nicht so aus, als wäre er zur SS gezwungen worden. Im Gegenteil. Er lächelte, präsentierte stolz seine Abzeichen – wohl als eine Art Offiziersanwärter. Sie musste schlucken. Hans Meister war SS-Offizier gewesen. Ein Junge aus Oberhausen, der Arbeitervorstadt Augsburgs, und SS-Offizier!

Sie legte sich auch das Bild mit dem Dreirad auf den Tisch, doch es war zu klein für eine eingehende Betrachtung. Sie brauchte dazu Ruhe und eine Lupe.

Ihre Gedanken wurden von der Bedienung gestört, die das Kännchen brachte.

»Ich würde gerne gleich bezahlen«, sagte sie.

»Danke, das übernehme ich«, sagte eine Stimme, und dann saß ihr plötzlich Wolfgang gegenüber. »Das ist Ihnen doch recht. Schließlich habe ich etwas gutzumachen.«

Anne war zu verblüfft, um zu antworten, was die Bedienung als Zustimmung auffasste, und sie verließ den Tisch.

Jetzt erst zischte sie den Mann an. »Nein, ist es mir nicht. Ich lasse mich ungern einladen.«

»Ich kann ja Ihre Wut auf mich verstehen, aber … es war dumm von mir, Sie derart zu überfahren. Schließlich konnte ich nicht ahnen, dass Sie einfach aufstehen und abhauen.«

»Ach. Konnten Sie nicht?« Anne sammelte ihre Bilder zusammen und steckte sie zurück in die Tüte.

»Nein. Ich teste damit normalerweise die Frauen, die vor mir sitzen.«

»Ach, Sie testen sie also damit, dass Sie ihnen vorschlagen, sie im Bett auszuprobieren?«

»Blödsinn. Aber Sie glauben nicht, wie viele darauf ganz versessen sind.«

»Ich … bin … es … nicht!«, fauchte Anne. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe zu arbeiten.«

Sie erhob sich, drehte sich um und ließ ihn einfach sitzen. Nach vier Schritten drehte sie sich doch noch einmal um. Eine Sache ließ ihr keine Ruhe. Sie ging drei Schritte auf diesen Wolfgang zu.

»Woher wussten Sie, dass ich hier sitze?«

Wolfgang schmunzelte spitzbübisch, dann wurde er unvermittelt ernst.

»Wenn Sie es wissen wollen, müssen Sie mir schon zuhören. Sie können ja dazu Ihren Kaffee trinken«, sagte Wolfgang. Er lächelte wieder – und Anne fühlte sich von dieser entwaffnenden Ehrlichkeit durchaus angezogen. Außerdem siegte die Neugier. Der Mann sah einfach zu gut aus.

Sie setzte sich wieder, rückte jedoch den Stuhl etwas vom Tisch ab. Sie wollte ein klares Zeichen setzen.

»Schießen Sie los.«

Wolfgangs Lächeln wandelte sich in ein bubenhaftes Grinsen, als hätte ein Plan funktioniert, den er sich zurechtgelegt hatte. Er bestellte selbst eine Tasse Kaffee, dann griff er sich in die Brusttasche seines Hemdes und holte eine Visitenkarte heraus.

Anne erkannte sie sofort. Es war die ihre.

»Sie haben das Kärtchen bei Ihrem, sagen wir überstürzten, Aufbruch liegen lassen. Ich habe es einfach an mich genommen.«

Anne schnaufte durch die Nase. Sie hatte geahnt, dass ihre Impulsivität ihr irgendwann Schwierigkeiten bereiten würde.

»Jetzt schauen Sie nicht wie sieben Tage Regenwetter«, sagte Wolfgang.

»Sie sind im Vorteil. Sie kennen mich, meine Telefonnummer, meine Geschäftsadresse, meinen Beruf. Ich weiß von Ihnen nichts. Außerdem erklärt das Kärtchen nicht, woher Sie wussten, dass ich hier sitze.«

»Da haben Sie recht. Man braucht nur ein wenig Technik dazu und – Kombinationsgabe.«

»Ach, und Sie verfügen tatsächlich über beides?«

Anne trank einen Schluck Kaffee. Sie hatte ihn sichtlich in seiner Ehre getroffen.

Er legte sein Handy auf den Tisch, drückte ein wenig darauf herum, und es erschien eine kleine Karte mit einem blinkenden Punkt.

»GPS«, sagte er. »Damit wusste ich ungefähr, wo Sie waren, jedenfalls in einem Umkreis von zwanzig Metern. Die Mittagszeit verriet mir, dass Sie vermutlich etwas essen wollten. Da kam in der Gegend nur ›Die Pyramide‹ in Frage. Voilà! Schon hatte ich Sie.«

Anne nahm ihr Blackberry aus der Tasche und schaltete es ganz aus.

Sofort verschwand der blinkende Punkt vom Display. Vor Überraschung blieb ihr die Luft weg. Das war doch die Höhe, dass dieser Kerl sie einfach ortete, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie wollte ihm gerade gehörig die Meinung sagen, da blickte sie in seine Augen.

Wolfgang sah sie an. Sein Bubenlächeln war verschwunden. Ein anderer Ausdruck lag in seinen Augen – und es war nicht dieser »Ich will dich im Bett haben«-Blick, den sie hinlänglich kannte. Sie fühlte sich einerseits unwohl, andererseits genoss sie die Neugier, die dahinterstand.

»Verzeihen Sie mir meine etwas rüpelhafte Art? Wenn Sie wollen … ich würde Sie für heute Abend gerne zum Essen einladen. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.«

Anne war hin- und hergerissen. Sie wollte dem unverschämten Kerl eigentlich eine Absage erteilen, andererseits konnte sie diesem Blick nicht widerstehen. So war sie noch nie angesehen worden. Sie fühlte sich unter diesen Augen nicht als Wild, das erlegt, oder als Burg, die erobert werden musste. Sie fühlte sich einfach als – Frau.

Sie stieß Luft aus und nickte dann zögernd.

»Rufen Sie mich an.«

»Vergessen Sie nicht, Ihr Handy einzuschalten.«

»Keine Sorge. Nach zwanzig Uhr ist es auf Sendung.«

Sie ging, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen, doch sie spürte seinen Blick – und sie hatte das Gefühl, er lag nicht auf ihrem Hintern, sondern beurteilte ihren Gang, die Geschmeidigkeit ihres Körpers. Sie musste den Kopf schütteln. Wie sie nur auf solche Gedanken kam?