16. Dezember

Die Luft war kalt, und es war bewölkt, als sie über das gefrorene Heidekraut ging, zudem lag in den kalten Windzügen ein ganz eigener Geruch. Es roch nach Schnee.

Und ganz richtig. Da landete eine Flocke auf ihrer Wange. Und noch eine. Das war der gute Schnee, der einen Hauch der alten Erwartung aus Kindertagen weckte: der erste Schnee, Schneeballschlachten, Schlitten fahren, Skitouren. Blaue Abenddämmerung draußen, Wärme und Kerzen drinnen. Musik, der Duft von Plätzchen. Weihnachtsstimmung.

Ja, wo war in all der Aufregung mit Überschwemmung, lautstarken Jugendlichen und Gästen, die kamen und gingen, eigentlich die Weihnachtsstimmung abgeblieben? Ingrid erinnerte sich an die Weihnachtsfeste mit Mutter Borghild, als sie klein war. Manchmal hatten sie mit Verwandten zusammen gefeiert, und andere Male waren es nur sie beide gewesen, aber immer hier im Hotel. Geschenke und Abendessen an Heiligabend, immer in Tracht gekleidet. Wir machen uns nicht für andere schick, hatte die Großmutter gesagt. Das ist für uns selbst. Und für Weihnachten.

In den wenigen hellen Stunden der Weihnachtsfeiertage pf‌legten sie, zusammen Ski zu fahren. Lange, ruhige Touren mit Kakao, Apfelsinen und Pfefferkuchen im Rucksack, aber mit einem ordentlichen Tempo die Hänge hinunter. Die Großmutter war immer so vital gewesen. Fuhr Mutter Borghild noch immer Ski? Ingrid f‌iel auf, dass sie das nicht wusste. Wenn sie zusammen losziehen könnten, war das ein weiterer Grund dafür, sich über den ankommenden Schnee zu freuen. Nur bitte nicht zu viel davon.

Seit sie erwachsen geworden war, hatten Ingrids Aktivitäten an Weihnachten variiert. Ab und an hatte sie die Großmutter besucht, aber ebenso oft war sie mit irgendeinem Job oder einer Expedition beschäftigt gewesen und hatte Bescheid gegeben, auch an diesem Weihnachten nicht nach Hause zu kommen. Wenn sie jetzt daran dachte, versetzte es ihr einen Stich. Mutter Borghild aber hatte nie geklagt. Tu, was du tun musst, mein Mädchen, pf‌legte sie zu sagen. Und komm nach Hause, wann du kannst. Hier bist du immer willkommen.

Der Himmel hatte sich aufgehellt, während Ingrid draußen war, aber aufgrund der dicken Wolkenschicht f‌iel der Sonnenaufgang an diesem Tag dezent aus. Sie war eine längere Runde als üblich gegangen, an der Geröllhalde entlang bis zum Tiefmoor, bevor sie kehrtgemacht hatte und an der Südseite des Himmelnuten entlang zurückgewandert war. Es war Montag und damit für das Team des Hotels Wochenende – in dem Sinne, dass die Geschäftigkeit eine seltene kleine Pause einlegte. Die Mittag- und Abendessen des Wochenendes waren überstanden, und mehrere Gäste waren abgereist; jetzt war es bis zum kommenden Wochenende ruhig.

Sie hatte erneut eine Anfrage von einer der großen Hotelketten erhalten. Sie wollten gern so bald als möglich ein Treffen ansetzen, schrieb der Investitionsdirektor in einer E-Mail, die am Vorabend eingegangen war. Was dachten die sich eigentlich, so kurz vor Weihnachten? Hofften sie, dass sie verzweifelt war und umgehend verkaufen wolle? Ingrid hatte kurzgefasst geantwortet, dass sie dann im neuen Jahr einen Termin vereinbaren könnten.

Im neuen Jahr … wie würde da alles aussehen? Sie lebten gerade Schicksalswochen. Momentan wollte sie eigentlich nicht an die Möglichkeit eines Verkaufs denken, das wäre eine zu große Niederlage, aber der Gedanke ließ sie auch nicht in Ruhe. Alles, was sie momentan plagte … die f‌inanziellen Sorgen, die Überschwemmung, die Mäuse, die Bande aus dem Dorf, die elektrische Anlage … waren das Signale, dass sie aufgeben sollte? Obwohl sie nicht ans Übernatürliche glaubte oder an die Geschichten von Wichteln und Spuk, die Maja ständig erzählte, war da ein Gespenst, das sich ihr immer öfter zeigte. Das Gespenst namens Konkurs.

Der Gedanke, dass es Ingrid sein könnte, die das Handtuch werfen musste, nachdem ihre Familie das Himmelfjell 130 Jahre lang betrieben hatte, war unerträglich.

Gott erlegt uns nicht mehr auf, als wir tragen können, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Es war die Stimme von Bruder Giovanni. Giovanni, der jetzt im Kloster in Bozen hätte sein sollen, vollauf damit beschäftigt, neue Touren zu planen. Nun, streng genommen war er in Bozen. Jedoch nicht damit beschäftigt, seinem Umweltengagement oder seiner sozialen Arbeit nachzugehen. Und nicht zu Tisch mit seinen Klosterbrüdern, mit einem Glas des guten Weins, für den Muri-Gries so bekannt war. Er ruhte in der Erde des Klosterfriedhofs.

Sie vermisste ihren Freund so heftig. Sie hatten sich in vielerlei Hinsicht unterschieden. Ihre Lebensanschauung war vollkommen verschieden. Giovanni war jedoch nie missionarisch gewesen. Zumindest was Worte betraf. Vielleicht mehr im Hinblick auf Taten. Als sie bei der Arbeit auf Herausforderungen gestoßen waren, hatte er mehrfach über seinen Glauben an Gott mit ihr gesprochen. Er war der Meinung, Gott würde sie immer sehen und unterstützen. Ingrid war sich dessen nicht so sicher, damals nicht und heute noch weniger.

 

Als sie sich dem Kücheneingang näherte, f‌ielen die Schneef‌locken dichter. Aisha hatte Hussein in die Schule gefahren und war im Begriff, zusammen mit Perle nach dem Frühstück aufzuräumen. Heute hatte nicht für viele eingedeckt werden müssen, weshalb Maja ein paar Tage frei hatte.

Ingrid setzte sich an den Küchentisch, und Perle platzierte eine Tasse Milchkaffee vor ihr.

»Das wird nicht zu viel Arbeit für dich, Perle?«, erkundigte sich Ingrid. »Schließlich musst du dich auch um dein Studium kümmern.«

»Nein«, versicherte die junge Frau. »Das Semester ist doch vorbei. Und momentan könnte ich nichts Lehrreicheres tun, als hier im Himmelfjell zu arbeiten!«

Sie nahm das Handy aus der Schürzentasche. »Hast du Pia Ps schöne Story auf Insta gesehen? Die Buchungen werden nur so hereinströmen!«

Ingrid holte ihr eigenes Handy hervor und loggte sich ein. Sieh an, ja. Das Bild von Perles strahlendem Lächeln im Speisesaal und Pia selbst mit weißer Wollmütze über den honigblonden Locken vor dem Himmelfjell Hotel mit einem graublauen Himmel und leicht von Schnee überzogenen Bäumen im Hintergrund.

Schöner Ort! Würde ich es nicht selbst leiten, hätte ich def‌initiv Lust gehabt, ihm einen Besuch abzustatten, dachte Ingrid zufrieden und nahm einen Schluck von dem Kaffee. Sie blätterte sich durch ein paar weitere Posts über Wintersale und Geschenktipps, schob den Gedanken beiseite, dass auch sie sich bald um ein paar Weihnachtsgeschenke kümmern müsste und begab sich schließlich auf die Suche nach ihrer Großmutter. Sie sah in der Bibliothek nach, wo außer Bjørnar aber niemand war. Sie öffnete das Fach unten im Regal, fand, wonach sie suchte, und ging dann zur Wohnung der Großmutter und klopfte an.

»Komm rein«, vernahm sie von drinnen.

Die Großmutter saß mit einem Notizbuch vor sich am Schreibtisch. Als Ingrid zur Tür hereinkam, klappte sie es zu. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte sie und verwies mit einem Nicken auf die Arbeitsplatte. »Setz gern selbst Kaffee auf, wenn du welchen haben möchtest.«

»Nein, danke, ich komme direkt vom Frühstück. Perle hat mich mit Kaffee versorgt.«

Ingrid setzte sich aufs Sofa. »Es gibt ein paar Dinge, über die ich gern mit dir sprechen möchte. In den letzten Tagen ist es ja nicht einfach gewesen, Zeit zu f‌inden …«

Die Großmutter schob das Notizbuch in den Schreibtisch, machte die Schublade zu und verschloss sie mit dem Schlüssel, den sie an einer langen Goldkette um den Hals trug. Dann nahm sie auf dem Stuhl neben dem Wohnzimmertisch Platz.

»Ich möchte dich wegen der Titelseite der Zeitung fragen, die Tor und ich gefunden haben. Mit der Geschichte über das verschwundene Mädchen.«

»Ja?« Das Gesicht der Großmutter zeigte keinerlei Reaktion, und sie machte auch keine Anzeichen, noch mehr sagen zu wollen, weshalb Ingrid fortfuhr. »Kannst du mir mehr über diese Sache erzählen?«

Borghild sah aus, als würde sie nachdenken. Sie holte tief Luft.

»Es gibt wohl einiges zu erzählen«, begann sie. Ihre Stimme war anders als sonst, fast unhörbar. Sie räusperte sich, saß eine Weile still da.

Ingrid wollte weiter fragen, als sie ein Pochen gegen die Wand vernahmen.

»Was war das?«, fragte Ingrid und war umgehend auf den Beinen. »Ist da draußen jemand?«

Auch Mutter Borghild stand auf, jedoch war Ingrid als Erste an der Tür. Sie öffnete sie und schaute hinaus auf den Flur. Dort, auf dem Bauch, mit dem Gesicht zur Seite gedreht und den Händen vor sich auf dem Teppichboden lag eine blasse, leblose Freya Wilkins, bekleidet mit Stirnband, lavendelfarbenem Jogginganzug und weißen Schuhen.

*

Sowohl Alfred als auch John Wilkens waren sofort zur Stelle, nachdem Ingrid angerufen und sie informiert hatte. Mit Leichtigkeit hob Alfred die schlanke Frau auf und trug sie in Borghilds Wohnung.

Als er sie berührte, hatte Freya ein paar Geräusche von sich gegeben, wirkte jedoch nicht wach.

»Leg sie hierhin«, sagte Mutter Borghild und verwies auf ihr Bett.

Alfred tat wie ihm geheißen. Daraufhin nahm John Wilkins seiner Frau das Stirnband ab und zog ihr die Joggingschuhe aus, bevor er sich auf die Bettkante setzte. Er überprüfte ihren Puls und sprach ruhig und vorsichtig auf sie ein. Mittlerweile hatte sie die Augen aufgeschlagen, aber noch immer nichts gesagt.

»Darf ich Sie freundlichst bitten, die Arzttasche zu holen, die in unserem Zimmer steht?«, fragte Wilkins an Alfred gerichtet. »Vermutlich ist ihr Blutdruck plötzlich abgefallen.«

An Borghild gewandt sagte er: »Möglicherweise müssen wir ihre Blutdruckmedikamente anders einstellen. In letzter Zeit ging es auf und ab, und jetzt ist sie auch noch auf die Idee gekommen, Sport treiben zu müssen.« Er gestikulierte in Richtung des Jogginganzugs.

Dann wandte er sich wieder an seine Frau und streichelte ihr über die Wange.

»Wie geht es dir, honey? Sweety, bist du wach?«

Es war das erste Mal, dass Ingrid ihn so reden hörte. John Wilkins war immer freundlich und besonnen, sowohl seiner Frau als auch anderen gegenüber, jetzt aber sah er besorgt aus, fand sie. War es normal, nach einem Schwächeanfall so lange benommen zu sein? Fehlte ihr womöglich etwas Ernsthaftes?

Plötzlich schlug Freya die Augen auf und sah sich im Zimmer um, hatte jedoch offensichtlich Schwierigkeiten, den Blick zu fokussieren. Wusste sie, wo sie war? Sie schien niemanden von ihnen zu erkennen, nicht einmal ihren Ehemann. Als sie den Kopf jedoch zur Wand drehte, durchfuhr sie ein Ruck und sie mühte sich damit ab, auf die Ellenbogen zu kommen. Dann hob sie den Kopf, um besser sehen zu können.

Ingrid folgte ihrem Blick.

Seltsam. Dort hing nur das alte Gemälde von den in Trachten gekleideten jungen Mädchen neben einer Birke. Sie hatten lange gef‌lochtene Zöpfe, blond die eine und braun die andere. Es war nichts Besonderes an dem Gemälde. Das Motiv war traditionell und das Handwerk leidlich, soweit Ingrid es beurteilen konnte. Gemalt 1962 von einem umherreisenden Künstler, war es nicht das, was die Großmutter gesagt hatte?

Freya aber sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Sie starrte auf das Bild und bewegte die Lippen. Plötzlich sang sie, mit heiserer Stimme, aber in unverkennbarem Norwegisch:

Sing ein wenig für mich, du Mama mein,

sollst haben Faden für den Pullover dein.

Dann wurde sie wieder bewusstlos.

*

Tor setzte sich an den üblichen Tisch hinten in der Ecke. Er war früh dran. Während seine Finger den Rillen des Tisches folgten, betrachtete er die Einrichtung. Die Möbel in der Caféecke von Dalen Burger & Benzin waren seit den achtziger Jahren dieselben, und vielleicht noch länger. Vier braun gebeizte Tische und sechzehn Sprossenstühle. Auf jedem Tisch standen auf einem Pappuntersetzer ein Teelichthalter und ein Korb mit Ketchup, Senf, Salz, Pfeffer, Würzmischung und Pommes-frites-Gewürz. An den Wänden hingen Wagenräder und alte Coca-Cola-Werbung. Hinter dem Tresen saß die Inhaberin Olga Plassen, und soweit Tor es beurteilen konnte, saß sie auch in der gleichen Stellung da, wie sie es in den achtziger Jahren getan hatte, mit den soliden Füßen gut auf dem Boden platziert, den Armen über dem umfangreichen Busen verschränkt und dem Blick auf die Eingangstür gerichtet. Jedes Mal, wenn die Glocke über der Tür ertönte, stand sie schwerfällig auf und nahm die hereinkommenden Personen in Augenschein. War es jemand, den sie kannte, wurden sie mit einem Nicken beehrt, ansonsten begnügte sie sich damit hinzustarren, als könne sie ihnen durch pure hypnotische Kraft die Bestellung, die Bezahlung und all ihre Geheimnisse entlocken.

Tor war ein Nicken zuteilgeworden, als er hereingekommen war. Schließlich war er seit Teenagerzeiten hier Stammkunde. Er hatte die Tankfüllung bezahlt und zwei Cola sowie zwei Dalen Burger Spezial mit Käse und doppelt Pommes bestellt.

Die Türglocke erklang erneut. Das Moschuskalb kam im selben Augenblick herein, als Geir Plassen, Olgas Sohn, mit zwei riesigen Portionen aus dem Hinterzimmer kam. Das Moschuskalb trug noch immer den Blaumann aus der Werkstatt, und die dünnen Haare sträubten sich in alle Richtungen. Während er durchs Lokal ging, hob er die Hand, um Olga zu grüßen. Er setzte sich Tor gegenüber und lächelte breit, als er die Burger sah, die Geir stillschweigend vor sie auf den Tisch stellte. Er hatte sich nicht lange bitten lassen, als Tor vorher bei der Werkstatt vorbeigefahren und angeboten hatte, nach Feierabend eine Mahlzeit zu spendieren.

»Du weißt, was ich mag, Tor«, sagte Karl.

»Ja, ich weiß, was du magst, Karl«, bestätigte Tor. »Denn ich mag das Gleiche.«

Karl verpasste dem Berg Pommes frites eine großzügige Ladung Gewürz, bevor er sich auf das Essen stürzte und mit gutem Appetit aß. Tor nahm einen Happen von seinem Burger. Er musste abwarten, bis sie ihren Hunger gestillt hatten, bevor er versuchen konnte, das Gespräch auf die Themen zu lenken, die ihn in den letzten Tagen beschäftigt hatten.

»Läuft es aktuell gut in der Werkstatt?«, fragte er und tauchte eine Pommes in den Ketchup auf seinem Teller.

»Gibt’s was Neues?«

Das Moschuskalb nickte enthusiastisch.

»Hab letzte Woche einen MB 220S von 1957 reinbekommen!«, erzählte er. »Even Langmoen hat ihn gekauft. Vater hat Teile von so einem aufgehoben, seit wir vor vielen Jahren mal einen kaputten hatten.«

Er fuhr mit einer detaillierten Beschreibung der auszuführenden Arbeiten fort, der Tor nur mit halbem Ohr zuhörte. Vermutlich musste er doch direkt zur Sache kommen.

»An dem Tag, an dem du bei mir warst«, begann er. »Wolltest du da was Spezielles? Wolltest du mit mir über etwas sprechen?«

Karls Blick schwirrte umher, bevor er anf‌ing, mit dem Zeigef‌inger ein paar trockene Reste der Pommes frites über den Teller zu schieben.

»Nein …«, sagte er. »Es war nur, dass … eigentlich nichts.«

»Karl«, hakte Tor nach. »Du hast doch gefragt, ob ich momentan oft oben im Himmelfjell bin. Ich glaube nicht, dass das völlig grundlos war.«

Karl antwortete nicht.

»Als ich dort oben war, hatte ich den Eindruck, dass dort momentan viele seltsame Dinge vor sich gehen. Es hat beinahe den Anschein, als würde jemand aus dem Dorf gegen das Hotel arbeiten. Weißt du was darüber?«

Karl schob weiterhin die Kartoffelstreifen zwischen dem Salz und dem Ketchup auf seinem Teller hin und her, als sei er eine Rennbahn und die Essensreste Spielzeugautos.

»Ingrid hat erzählt, dass es ungewöhnlich viele Stornierungen gegeben hat«, fuhr Tor fort. »Und dann war am Freitag eine Bande Jugendlicher oben und hat die Gäste erschreckt. Und es gab eine Überschwemmung … aber das kann wohl nicht …«

Die Worte blieben in der Luft hängen. Tor räusperte sich und schaute seinen Freund aus Kindertagen an.

»Du hast niemanden über etwas reden hören?«

Karl wischte sich mit dem Handrücken über die Mundwinkel und starrte ins Leere.

»Du weißt«, sagte er und heftete den Blick wieder auf Tor. »Onkel Bernt hat gesagt, ich dürfe nichts darüber sagen. Dass so viele Leute so viele Fragen über alles Mögliche stellen, da sei es das Beste, die Klappe zu halten. Aber das gilt wohl nicht, wenn ich nur einen kleinen Tipp gebe.«

Er nahm die Ketchupf‌lasche, drehte sie auf den Kopf und zeichnete umständlich zwei Buchstaben auf den Teller. Ein X und ein O. Roter Ketchup auf weißem Teller. Was in aller Welt sollte das bedeuten?

Tor schaffte es nicht zu fragen, bevor die Türglocke erneut ertönte. Die Tür ging auf, Olga erhob sich und nickte. Tor spürte, wie die Enttäuschung sich in seinem Körper breitmachte, aber auch ein anderes, dunkleres Gefühl. Mit schweren Schritten kam eine breitschultrige Gestalt auf ihren Tisch zu. Es war Hallgrim »Moschus« Dalen.

Hallgrim durchquerte das Lokal, warf seinem Enkelsohn einen strengen Blick zu und platzierte eine schwere Hand auf Tors Schulter.

»Nun, Jungs«, sagte er. »Hier sitzt ihr also, esst Burger, trinkt Cola und quatscht. Völlig sorglos. Nein, Karl, du kommst mit nach Hause zu deinem Vater und deiner Mutter. Es gibt genug Arbeit, die erledigt werden muss. Und du, Seter.« Hallgrim presste die Finger zusammen, sodass Tors Schulter schmerzte. »Hast du nicht einen Hof zu bewirtschaften? Vermutlich geht es schnell bergab, wenn du hier sitzt und die Zeit verplemperst. Der Seter Hof ist doch wohl noch nicht ganz schuldenfrei, wenn ich mich recht erinnere. Denk dran, dass dein Vater Geld von mir für den Traktor geliehen hat, als die Bank ihm nichts mehr geben wollte. Er wird nicht erfreut sein zu hören, dass du Zeit und Geld vergeudest.«

*

Tor streifte die Schuhe ab, hängte die Stallkleidung in den Windfang und schloss die Tür hinter sich, nachdem er ins Haus gegangen war. Das tat er für gewöhnlich nicht, heute aber machte er es fast automatisch. An einem anderen Tag hätte er vielleicht im Flur ein wenig innegehalten, sich die Fotograf‌ien von Gebäuden und Tieren angeschaut und darüber nachgedacht, was der nächste Schritt in dem ewig währenden Instandhaltungs- und Renovierungsprozess des Hofes war. Heute aber ging er direkt ins Bad, zog die restliche Kleidung aus und stellte sich unter die Dusche. Während er das heiße Wasser über den Körper laufen ließ, wünschte er, er könnte die ruhe zusammen mit der Seife und dem Geruch von Schafstall in den Abf‌luss rinnen lassen.

Aber die Begegnung mit Hallgrim Dalen hatte seine Gedanken unablässig im Griff.

Er hatte sich keine Mühe gemacht, die Drohungen zu verbergen. Der Seter Hof hatte es lange schwer gehabt, vor allem nach der neusten Umstellung der Unterstützung für die Landwirtschaft. Und Tors Vater, Torbjørn Seter, war nicht der Geschickteste, was die Finanzen betraf, um es mal vorsichtig auszudrücken. Jetzt hatte sich Torbjørn Seter zurückgezogen und hoffte, sein Sohn würde den Hof besser betreiben, als er selbst es getan hatte. Hallgrim Dalen hatte sie mehrfach f‌inanziell unterstützt. War unterstützt das richtige Wort? Man konnte ebenso gut sagen, er hatte gutgläubigen Menschen wie Torbjørn Fallen gestellt. Hallgrim war es, zu dem die Leute gern gingen, wenn die Bank Stopp sagte und die Verzweif‌lung einsetzte. Und Hallgrim konnte fast immer helfen. Aber alles hatte seinen Preis. Und jetzt wurde Tor daran erinnert, worin dieser Preis bestand. Hallgrim Dalen hatte die Familie Seter in der Hand, und des Umstands hatte er gedacht, sich zu bedienen, sofern Tor sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.

Tor aber sah Ingrids Gesicht vor sich. Fröhlich und stolz als Gastgeberin des Hotels. Gespannt und eifrig, wenn sie über die Geschichte des Hotels sprachen. Ernst, wenn sie über die Buchhaltung des Hotels gebeugt war. All die Sorgen, die über ihr hingen, diese Unsicherheit, in welche Art von Spiel sie und das Hotel hineingezogen wurden. Und wenn er daran dachte, war sich Tor keineswegs mehr sicher, ob es noch ausreichte, sich weiterhin nur um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Er musste herausf‌inden, worin das Ganze gründete, sowohl für sich selbst als auch für Ingrid. Ingrid Berg, die vor so vielen Jahren ihr breitestes Lächeln aufgesetzt und sich mit einem Winken von Dalen und dem Himmelfjell verabschiedet hatte, aber nunmehr zurück war, um das Hotel zu leiten. Er gönnte ihr von ganzem Herzen, dass sie damit Erfolg hatte. Und er wollte gern – sehr gern – derjenige sein, der ihr dabei half, dass es gelang.

Tor drehte das Wasser ab und griff nach dem Handtuch, das über der Duschkabinenwand hing. Die Schulter tat noch immer weh, dort, wo Moschus’ Finger zugedrückt hatten. Er hob die Hand und zeichnete mit dem Finger dieselben zwei Buchstaben an die beschlagene Wand, die das Moschuskalb mit Ketchup notiert hatte. XO.

*