20. Dezember

Als sich die Tür zur Bibliothek öffnete und Ingrid hereinkam, klappte Borghild Berg das große auf ihrem Schoß liegende Buch zu.

»Guten Morgen, Ingrid!«

»Guten Morgen, Großmutter!«

Zielstrebig schritt Ingrid durch den Raum auf die Großmutter zu. Sie wirkte ein wenig angespannt. Und das war nicht verwunderlich, dachte Borghild. Sie war beeindruckt, dass die Enkeltochter nach den dramatischen Ereignissen der vergangenen Tage überhaupt auf den Beinen war. Zudem war es Freitag vor Weihnachten.

Ingrid setzte sich neben die Großmutter und legte eine Hand auf deren Arm.

»Großmutter, ich war gestern bei Freya Wilkins. Sie ist nicht wiederzuerkennen. Es hat den Anschein, als stünde sie unter Schock. Sie war so still, das sieht ihr nicht ähnlich. Allerdings hat sie etwas gesagt, das mich wirklich nachdenklich gestimmt hat. Sie hat von einem Bild von ihrer Mutter gesprochen. Dass sie es erneut sehen müsse. Was hat sie damit gemeint, Mutter Borghild? Warum glaubt sie, dass wir hier ein Bild von ihrer Mutter hängen haben?«

Mutter Borghild blieb eine Weile still.

»Ich werde dir von dem Bild erzählen«, sagte sie schließlich. »Aber es gibt so viel zu erzählen, und ich brauche Zeit, um es ordentlich zu vermitteln. Ich weiß, dass es an der Zeit ist, dass du erfährst, wie alles zusammenhängt. Doch ich glaube, dass wir das auf später verschieben müssen. Hier gibt es so viele Unterbrechungen, und jetzt kommen bald neue Gäste. Wir reden besser, wenn nicht so viel zu tun ist.«

Das besänftigte zwar nicht Ingrids Neugierde, aber vermutlich hatte Mutter Borghild recht. Das war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort. Jetzt standen bald die Gäste vor der Tür, und die Mysterien der Vergangenheit mussten für eine Weile beiseitegeschoben werden. Die Zukunft des Hotels hing von den heutigen Gästen ab, unabhängig davon, welche Geschichten sich hinter alten Gemälden verbargen, und unabhängig davon, was für unangenehme Pläne Hallgrim Dalen schmieden mochte. Sie mussten sich auf das konzentrieren, bei dem sie etwas ausrichten konnten.

Für dieses Vorweihnachtswochenende hatte Ingrid eine Vereinbarung mit Dalen Skyss bezüglich des Bustransfers vom Bahnhof für die Gäste getroffen, die nicht mit dem eigenen Auto kamen, und eine Familie wurde mit dem Zug erwartet, der um 10:04 Uhr in Dalen ankam. Als der Minibus gegen halb elf vor dem Hotel vorfuhr, war die Haustür geöffnet, das Geländer mit Fichtenzweigen geschmückt und in der Bibliothek knisterte das Kaminfeuer.

Maja bereitete das Mittagessen vor, Alfred stand bereit, um das Gepäck hereinzutragen und Ingrid spürte, wie sich eine gewisse Ruhe über sie legte. Das war es, worauf sie sich vorbereitet hatte. Es war wie früher, als sie geklettert war: Alles im Kopf war Nervosität, Unruhe, Vorbereitungen und Lärm – bis sie eines Tages vor der Bergwand stand, die sie besteigen sollte. Da wurde es im Kopf still, und sie konzentrierte sich auf die Griffe, den Weg nach oben, das, was sie geübt hatte, das, von dem sie wusste, dass sie es tun musste.

Und das, was sie jetzt tun musste, war, die Gäste men zu heißen, dafür zu sorgen, dass sie ihre Zimmer fanden und Essen bekamen, dass sie sich gut umsorgt fühlten. Sie erwartete sie an der Rezeption, sog den Duft der Fichtenzweige ein, mit denen sie geschmückt hatten, und der Pfefferkuchen, die in Körben auf den Tischen standen, und setzte ihr herzlichstes Lächeln auf.

»Willkommen im Himmelfjell Hotel!«

Plötzlich stand Mutter Borghild neben ihr.

Ingrid zuckte beinahe zusammen, derart vertieft in die eigenen Gedanken hatte sie nicht bemerkt, dass die Großmutter herausgekommen war.

»Das ist nicht das Schlechteste, oder?«, fragte Borghild, »Menschen hier willkommen zu heißen?«

Aus dem Impuls heraus zog Ingrid die Großmutter an sich.

»Nein, das ist wahrhaftig nicht das Schlechteste«, bestätigte sie.

*

Ein paar Touristen aus Japan, die enttäuscht waren, als sie entdeckten, dass es auf dem norwegischen Festland keine Eisbären gab, hatten dennoch einen gewissen Trost gefunden, als sie in die Bibliothek kamen und auf Bjørnar trafen, mit dem sie Bilder machen konnten. Er war ein akzeptabler Ersatz. Zudem könnten sie Glück haben, während ihres Aufenthalts Rentiere zu sehen, erklärte Ingrid ihnen. Und Nordlichter?, hatten sie gefragt. Ja, das sei in der Tat nicht auszuschließen. Sie könne nichts garantieren, aber mitunter leuchteten sie über den Bergen herrlich auf. Sie zeigte ihnen eine App, die man herunterladen konnte, um nachzusehen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für Nordlichter am aktuellen Standort war. Damit waren sie beschäftigt, bis das Essen serviert wurde.

So viele Gäste hatten sie bisher noch nicht zum Mittagessen gehabt. Neben den neu angekommenen saßen die »Veteranengäste« an einem eigenen Tisch: Pia P und das Ehepaar Wilkins. Freya sah aus, als hätte sie sich wieder einigermaßen erholt. Die blonden Locken waren frisiert und mit Haarspray f‌ixiert, zudem trug sie eine farbenfrohe Strickjacke. Sie aß vorsichtig von der gebratenen Gebirgsforelle mit Gurkensalat.

Nachdem das reguläre Mittagessen beendet war, aßen Mutter Borghild und Ingrid in der Küche zusammen mit dem Team und Hussein. Hussein hatte darauf bestanden, in die Schule zu gehen, obwohl er von den Strapazen mitgenommen war und sowohl um Handgelenk als auch Fußknöchel einen Stützverband trug. Trotz allem war dies der letzte Schultag vor Weihnachten. Er war mit einer bunten Karte von den Klassenkameraden – GUTE BESSERUNG, HUSSEIN, DU BIST SPITZE – sowie einer Tüte Weihnachtsschmuck zurückgekommen, den er selbst gebastelt hatte. Ingrid versprach, er solle einen eigenen kleinen Weihnachtsbaum bekommen, den er und Aisha zusammen schmücken konnten.

Die Nachmittagsstunden vergingen wie im Flug. Als sie auf die Uhr sah, war es bereits nach vier. Von Vegard hatte sie bisher nichts gehört. Er wollte eine Nachricht schicken, wenn David und er in Oslo losfuhren. Aber wie erwartet verzögerte sich das Ganze ein wenig. Vermutlich würde es spät werden, bevor sie hier waren. Sie hoffte nur, dass nicht in letzter Sekunde etwas dazwischenkommen würde. Sie brauchte ihren besten Freund dieses Wochenende hier.

*

Es war halb zehn. Das Abendessen war beendet, und viele der Gäste waren in die Bar gegangen, während sich die ältesten und die jüngsten in ihre Zimmer zurückgezogen hatten.

Das Essen war ein Erfolg gewesen, die Gäste waren zufrieden, und Perle und die Küchenhilfen waren den ganzen Abend lang hin und her gelaufen, um die Schüsseln nachzufüllen, die leer waren, bevor sie sich versahen.

Majas Gesicht war vor Anstrengung und Nervosität ganz rot, als sich das geschäftige Treiben jedoch beruhigte und nur noch sie beide in der Küche waren, war Ingrid versucht, sie ein wenig mehr zum Fall des vermissten jungen Mädchens auszufragen. Wusste Maja mehr? Es gab ein paar Dinge, die sie noch immer nicht richtig einordnen konnte.

Die Köchin drehte sich zu ihr um und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Die Schwester von Hallgrim Dalen? Das war vor meiner Zeit.«

»Kannst du nicht so nett sein und mir erzählen, was du weißt?«, hakte Ingrid nach. »Es scheint, als … wollten die Leute am liebsten nicht darüber reden.«

Was sie eigentlich meinte, war, dass Mutter Borghild nicht darüber reden wollte.

Die Köchin schielte zur Tür und nahm einen Topf vom Herd, bevor sie einen Stuhl vorzog und sich an den Küchentisch setzte.

»Das ist durchaus ein Fall, über den es schwer zu reden ist«, sagte sie. »Vielleicht waren diejenigen, die sie gekannt haben, der Meinung, es sei besser, die Geschehnisse in Vergessenheit geraten zu lassen. Es muss für alle entsetzlich gewesen sein, als sie verschwand. Schließlich war sie sehr jung, gerade mal ein Teenager.«

»Aber hast du etwas darüber gehört, was passiert sein könnte? Was glauben die Leute im Dorf?«

»Nein, keiner weiß was Genaues«, sagte Maja. »Allerdings gab es viele Gerüchte. Einige behaupten, sie sei von zu Hause abgehauen, dass sie einen Freund hatte, den die Familie ablehnte. Andere glauben, sie sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Die meisten scheinen jedoch zu glauben, dass sie sich das Leben genommen hat. In den Wasserfall gesprungen ist. Und über so was hat man zu dieser Zeit am besten nicht gesprochen.«

»Aber warum hätte sie das tun sollen?«, fragte Ingrid.

»Es gab gewiss Gerüchte, dass sie schwanger war«, erläuterte Maja. »Und dass der, den sie heiraten sollte, nicht der Vater war.«

*

Die Küchenhilfen hatten den Speisesaal aufgeräumt und für den Rest des Abends frei bekommen. Vegards und Davids Essen stand bereit, um aufgewärmt zu werden, wenn die beiden denn irgendwann ankommen würden. Denn bisher gab es noch kein Lebenszeichen von ihnen.

»Ich gehe so lange nach oben ins Zimmer«, hatte Pia gesagt. Ingrid fand, sie sehe niedergeschlagen aus. Sie hatte sich sicher auch darauf gefreut, dass die Freunde kommen sollten. Sich vielleicht sogar ein wenig extra schick gemacht. Ingrid hatte das weiße Wollkleid bewundert, in dem Pia zum Essen heruntergekommen war, und bemerkt, dass sich ihre Haare an diesem Abend in besonders schönen Wellen über den Rücken legten. Und nun war der Abend fast vorüber. Recht schwerfällig war Pia die Treppe hinaufgegangen und hatte sich dabei am Geländer festgehalten.

Ingrid schickte Vegard eine Nachricht und bekam zur Antwort, dass sie nunmehr ganz in der Nähe seien! Glaubten sie!

Es war halb elf, als Davids Auto vor dem Hotel einbog. Ingrid hatte sich in der Rezeption beschäftigt, während sie gewartet hatte. Sie vernahm Musik vom Autoradio, bevor diese abrupt abgeschaltet wurde, woraufhin Ingrid zur Haustür ging, um ihre Gäste willkommen zu heißen. Die Fackeln leuchteten noch immer entlang der Treppe und sorgten in der Dezemberdunkelheit für einen hellen Pfad.

David öffnete die Tür, stieg aus dem Auto, hob die Hand zum Gruß und ging nach hinten, um den Kofferraum zu öffnen. Vegard sprang auf der Beifahrerseite aus dem Auto und war schnell oben auf der Treppe, um Ingrid in die Arme zu nehmen. Endlich war er zurück! Sie spürte, wie die Erleichterung durch sie hindurchströmte. Und da kam David.

»Ihr bekommt die Peer-Gynt-Suite!«, sagte sie, nachdem sie auch ihn umarmt hatte. Sie reichte ihm eine Schlüsselkarte. »Braucht ihr Hilfe mit dem Gepäck?«

»Nein, danke, das passt«, ließ Vegard sie wissen. »Wir gehen nur hoch und stellen die Sachen ab, dann gebe ich Pia Bescheid, dass wir hier sind.«

 

Okay, so weit, so gut, dachte Ingrid, als sie endlich in ihr Bett f‌iel. Wenn dieses entscheidende Wochenende mit einer Bergtour verglichen werden sollte, dann hätten sie jetzt mit dem Aufstieg begonnen.