1. Dezember

Ruckartig setzt sich Ingrid Berg im Bett auf. Der gleiche Traum wie immer. Wieder und wieder sucht er sie heim. Das Dröhnen. Der weiße Drache. Die Schreie. Die Dunkelheit. Die Panik. Der Schmerz. Überall Schnee.

Es ist nicht viel, an das sie sich aus den ersten Stunden und Tagen erinnert, aber das grelle Licht, die weiß gekleideten, hektisch umhereilenden Menschen, die Schmerzen und das Blut, all das Blut – das wird sie niemals vergessen.

Sie bringt ihre Atmung wieder unter Kontrolle. Sie ist jetzt nicht dort. Nicht unter dem Schnee, nicht im Krankenhaus. Sie ist in ihrem Bett im Himmelfjell Hotel. Um sie herum ist es dunkel, und sie ist allein.

*

Bereits als kleines Kind hatte Ingrid mit dem Klettern begonnen. Zuerst an den kleinen Felsen in der Nähe des Hotels, in dem sie aufwuchs, dann an Bergwänden. Etwas in ihrem Inneren trieb sie immer weiter, immer steiler und immer höher hinauf. Die Leute hatten sich gewundert, dass ihre Großmutter, die sie Mutter Borghild nannte, das zuließ – erst recht nach dem, was den Eltern geschehen ist! Doch die Großmutter war stets ruhig geblieben. Ingrid ist zum Klettern geboren, hatte sie entgegnet. Ihr das Klettern zu verweigern, wäre, wie dem Raufußbussard das Fliegen zu verbieten.

Die Leute vom Himmelfjell sind immer Kletterer gewesen. Mutter Borghild hatte erzählt, dass sowohl sie selbst als auch Ingrids Mutter Engeline von Kindesbeinen an an den Bergwänden unterwegs waren, obwohl das zu dieser Zeit für Frauen noch ungewöhnlich war. Das Letzte, was Mutter Borghild also wollte, war Ingrid daran zu hindern, sich zu entfalten. Als Zugeständnis an die allgemeine Vernunft hatte sie dennoch dafür gesorgt, dass Ingrid einen Kletterkurs belegte, Sichern und Abseilen lernte und einen Helm benutzte, dass sie Kletterkameraden fand und tat, was nötig war, damit das Klettern so sicher wie möglich wurde. Mutter Borghild vertraute Ingrid. Und so hatte Ingrid sich selbst vertraut, keine Angst gehabt. Sie kannte die Berge, ihre Finger wussten, wohin sie greifen mussten, sie wusste immer, wohin sie den Fuß beim nächsten Schritt zu setzen hatte.

Und nach und nach war das Klettern zu ihrem Leben geworden. Sie war in die Welt aufgebrochen, zu neuen Herausforderungen, und hatte sich immer sicher gefühlt, nahezu unverwundbar.

Aber dann, im vergangenen Jahr, hatte sich dort oben im asiatischen Hochgebirge das Leben innerhalb weniger Minuten verändert. Die Bilder rasten wie eine Schneelawine an ihrem inneren Auge vorbei, wie die Lawine, die sie im Himalaya überrollt hatte. Prebens Versagen, die fatalen Konsequenzen – darüber würde sie niemals hinwegkommen, und jedes Mal, wenn sie daran dachte, war es, als wäre sie erneut unter meterweise Schnee gefangen und mühte sich damit ab, Luft zu bekommen.

 

Sie ließ warmes Wasser über Kopf und Körper laufen, während sie das Lied mitsang, das im Badezimmerradio lief. Every Day Is Christmas With You. Es war der erste Sonntag im Advent, die Weihnachtslieder wurden jedoch schon seit mehreren Wochen gespielt. Shampoo, Spülung, erneut Shampoo. Was für ein Luxus das war, sich täglich eine warme Dusche genehmigen zu können. Den Albtraum der Nacht in den Abf‌luss rinnen zu lassen. Ingrid hatte an genügend Expeditionen teilgenommen, um den Komfort des Indoorlebens wirklich schätzen zu wissen. Saubere, trockene Handtücher. Warmes Wasser. Warmer Badezimmerfußboden. Duftendes Duschgel. Candy cane kisses. With you! Beinahe vergaß sie, dass sie nicht singen konnte. Sie verteile noch etwas Spülung in den Händen und fuhr sich damit durch die langen, lockigen Haare, um des Gewirrs Herr zu werden. Why wait for mistletoe? I don’t need an excuse.

Ingrid drehte den Wasserhahn zu und streckte sich nach dem Handtuch. Für einen Moment hatten das warme Wasser und die beschwingte, herrliche Musik sie in eine Zeit zurückversetzt, in der das Leben ganz anders gewesen war, in der sie selbst eine ganz andere gewesen war. Eine Zeit, in der sie dieses Lied geliebt hatte, genauso wie denjenigen, der es für sie gesungen hatte, obwohl auch er nicht singen konnte: Every Day Is Christmas With You!

Sie hielt kurz inne, wickelte sich das Handtuch um. Spürte, dass ihr kalt wurde. Ihre Muskeln verspannten sich; wie so oft, wenn die Erinnerung kam.

Sie schaltete das Radio aus, zog sich schnell an, cremte Gesicht und Hände ein. Nach einigen Minuten mit dem Fön waren die Haare trocken genug, um unter eine Mütze gestopft zu werden. Ingrid betrachtete sich im Spiegel, der, seit sie sich erinnern konnte, neben der Tür gehangen hatte. Als Kind hatte sie zusammen mit Mutter Borghild hier in der Direktorenwohnung des Himmelfjell Hotels gewohnt, dem »Privatbereich«, wie die Hotelangestellten sie nannten. Jetzt lebte sie allein hier. Die Großmutter hatte darauf bestanden, als Ingrid nach Hause gekommen war, um die Leitung des Hotels zu übernehmen. Mutter Borghild ihrerseits war in eine kleinere Wohnung auf derselben Etage gezogen, die »Kårstua«, das Altenteil. Das Personal wohnte im Nebengebäude, mit Ausnahme der Hausverwalterin und der Köchin, die eigene Zimmer im Hauptgebäude hatten.

Ingrid zog Schnürstiefel und Wolljacke an, lief die Treppen zur Rezeption hinunter und ging mit großen, schnellen Schritten hinaus, um ein wenig Tageslicht zu tanken. Ihr blieb Zeit für einen kurzen Spaziergang, bevor sie sich des Tagwerks annehmen musste.

 

Sie genoss den Anblick des Sonnenaufgangs am Himmelfjell. Die rosafarbenen Strahlen drangen durch die dünne Wolkenschicht und umrahmten die schöne Silhouette der Berggipfel und Bäume. Dreihundert Kilometer von Oslo und eine Stunde Autofahrt vom See Mjøsa entfernt, durch Täler hindurch und steile Gebirgsstraßen hinauf, lag das Hotel nahe der Baumgrenze. Hier oben wuchsen nur Birken und Kiefern, keine gewaltigen Fichten, wie auf den Hängen nach Dalen hinunter. Umso besser war die Aussicht. Der Himmel wechselte unaufhörlich seine Farben und selbst die Form des Gebirgsmassivs schien sich mit dem Licht zu verändern.

Unter ihren Stiefeln knirschte es, als Ingrid das Heidekraut Richtung Geröllhalde überquerte. Die Flechte und das Moos auf dem Boden waren mit Reif überzogen, der im frühen Morgenlicht glitzerte. Die an den Blau- und Preiselbeersträuchern verbliebenen Früchte waren in eine dünne Eisschicht gehüllt und sahen aus wie von der Natur sorgfältig ausgearbeitete, delikate Kunstgegenstände, nicht zu vergleichen mit irgendeinem von Menschenhand gefertigten Dekor.

Trotz eines kalten Herbstes hatte es bisher nur wenig geschneit. Lediglich der Gipfel hoch, hoch dort oben war von eisigem Weiß bedeckt. Die gigantische Spitze reckte sich zum Himmel. Manchmal verschwand sie in dicken Wolkenschichten, wie ein Wohnsitz Gottes, hoch erhaben über der Welt der Menschen. Nicht verwunderlich, dass der Berg den Namen Himmelnuten trug, und dass sich Mythen und Sagen um ihn rankten.

In der Senke unterhalb des Himmelnuten lag, blau-weiß und monumental, der gefrorene Wasserfall Styggfossen.

Die Sonne kämpfte sich durch die Wolkendecke, das Licht veränderte seine Farbe, wurde wärmer. Ingrid schloss die Augen und ließ die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmen, spürte, wie sie die Lebenskräfte weckten. Vögel und andere Tiere erwachten. Von einer Birke aus f‌log ein kleiner Schwarm Unglückshäher an ihr vorbei. Sie machten sich auf den Weg zum Kücheneingang, wo von den Hotelangestellten Brotkrümel zu erwarten waren, obwohl die Köchin den kleinen Rabenvögeln gegenüber misstrauisch war, die ihrer Meinung nach ihrem Namen alle Ehre machten und Unglück brachten. Ein ungerechter Name. Die Unglückshäher waren niedlich und lustig mit ihrer Abenteuerlust und ihrer verwegenen Frisur.

Sie sah sich um. Wenn man Glück hatte, konnte man an einigen Tagen an den Berghängen Herden wilder Rentiere erblicken. Heute jedoch war von ihnen keine Spur.

 

Die Sonne stieg, das Licht wurde weißer, das Funkeln stärker. Die Wintersonne würde sich nur wenige Stunden über dem Horizont halten, bevor ihr Licht verblasste und sie sich schläfrig verabschiedete, um in einem Meer aus Rot und Orange zu versinken. Dann würde sich die Dämmerung in farbenfrohen Streifen über den Horizont erstrecken, bevor gegen achtzehn Uhr die Nacht wieder hereinbrach – eine lange, dunkle und kalte Winternacht im norwegischen Gebirge.

 

Aber – Ingrid holte tief Luft – bevor es so weit war, sollte im Himmelfjell viel passieren. Nicht nur die Unglückshäher hatten ihre Aufgaben zu erledigen. Die Stunden zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang hielten auch für Ingrid Berg und ihr Team vieles bereit: Weihnachten näherte sich mit großen Schritten, sie mussten die Ankunft der Weihnachtsgäste vorbereiten und die Gerichte testen, die im Restaurant serviert werden sollten. In wenigen Wochen würde sich zeigen, ob all das, wofür sie die letzten Monate gearbeitet hatten, wirklich gelingen konnte.

Ingrid machte auf dem Absatz kehrt und ging über das Heidekraut zurück zum Hotel, das das Gebirgsplateau dominierte. So vertraut ihr das große Gebäude auch war, beeindruckte sie das Himmelfjell Hotel dennoch immer wieder aufs Neue. Hoch und breit, solide und braun gebeizt war es, mit weißen Fensterrahmen und Schnitzereien im traditionellen Drachenstil. Seit Hunderten von Jahren war die Familie Berg am Fuße des Hochgebirges ansässig. 130 davon hatte sie ein Hotel betrieben. In 1200 Metern Höhe, dort, wo die Straße endete und der Aufstieg zum Himmelnuten begann, stand das Himmelfjell Hotel, seit im 19. Jahrhundert die ersten Touristen ihren Fuß ins Gebirge gesetzt hatten.

Über die Jahrzehnte hinweg war das Hotel gewachsen. Anbauten und Nebengebäude im Stil des Haupthauses waren hinzugekommen. Daher verfügten sie nun, neben den zwanzig Zimmern und Suiten im Hauptgebäude, zusätzlich über Wohnungen und Familienunterkünfte. Die Erweiterungen waren schön gelöst worden, denn an einem Ort wie diesem sollte der Baustil traditionell sein. Hier gab es keine dieser hässlichen Annexe, die man bei einigen Hotels im Hochgebirge sah. Nein, dies war das familienbetriebene Himmelfjell Hotel, und Mutter Borghild hatte dafür gesorgt, dass der Originalstil beibehalten wurde.

Der große Platz vor dem Hauptgebäude war mit Kieselsteinen bedeckt. Eine breite Treppe mit Rampen zu beiden Seiten führte zur Eingangstür hinauf, die von einem Vordach geschützt und von großen schmiedeeisernen Laternen f‌lankiert wurde.

Viele Fenster waren dunkel und die Gardinen zugezogen. Noch waren nicht alle Gäste aufgestanden, zudem waren sie weit entfernt davon, ausgebucht zu sein. Im Erdgeschoss hingegen waren die Fenster erleuchtet. Dort wurde gearbeitet. Köchin Maja Seter stand vermutlich seit fünf Uhr in der Küche. »Morgenstund hat Gold im Mund«, lautete ihr Motto. Wenn die anderen gegen halb sieben in die Küche kamen, hielt Maja oftmals schon frisch gebackene Brötchen bereit. Da hatte sie bereits den Geschirrspüler ausgeräumt und neu bestückt, ein Salzfässchen umgestoßen, sich eine Prise Salz über die Schulter geworfen, um Unheil abzuwenden, den Tisch für die Kollegen gedeckt, die erste Kerze am Adventskranz entzündet und Kaffee gekocht. Und jetzt, da gegen neun die Sonne vollständig aufgegangen war, würde sie bereits mit den Vorbereitungen für das heutige Abendessen beschäftigt sein.

 

Es war richtig, hierher zurückzukehren, dachte Ingrid. Es fiel ihr schwer zu sagen, dass sie froh über ihre Entscheidung war, sofern sie denn eine Wahl gehabt hatte. Dafür brachte der Entschluss, die Hotelleitung zu übernehmen, zu viele Sorgen, zu viel Arbeit, zu viel Unsicherheit mit sich. Doch jedes Mal, wenn sie das Hotel betrachtete, wuchs etwas in ihr, der Keim von etwas, das vielleicht als Zufriedenheit bezeichnet werden konnte. Es hatte etwas damit zu tun rauszugehen, sich umzusehen und zurückzukehren. Ab und an fand sie auf ihren morgendlichen Touren zu einer inneren Ruhe, im Einklang mit der glitzernden, kalten Stille um sie herum.

Allerdings hielt diese Ruhe selten lange an. Und heute war sie von besonders kurzer Dauer. Denn bereits bevor Ingrid die Eingangstür erreicht hatte, durchbrach ein lauter Schrei die Stille.

*

»Maus! Maus!« Der alte Küchentisch knarrte unter Maja Seters ansehnlichem Gewicht. Die kräftigen Füße in soliden Hausschuhen, stand die Köchin auf der karierten Tischdecke. »Macht sie weg! Macht sie weg! Wir können in der Küche keine Maus gebrauchen!«

»Eine Maus? Wo ist sie?« Ingrid war zur Küche geeilt, kaum dass sie die Schreie vernommen hatte und stand jetzt in der Türöffnung, den Blick auf die zu Tode erschrockene Köchin gerichtet.

»Sie ist direkt vor mir langgelaufen, als ich den Backofen anschalten wollte!«, rief Maja aufgebracht. »Ja, sie hat mich mit großen, roten Augen angesehen … Und dann ist sie unterm Herd verschwunden! Sie war riesig! Ein richtiges Biest! Genau genommen könnte es auch eine Ratte gewesen sein.«

Die Köchin atmete schwer und hielt sich eine Hand vor die Brust. »Wir sollten ein paar von Gråpus Jungen holen«, fuhr sie fort, bevor Ingrid antworten konnte.

»Als wir noch eine Katze hatten, war es hier frei von Mäusen und anderen Ungeheuern.«

Ingrid war nicht ganz sicher, ob Katzen in der Küche sich besser mit den Vorschriften der Lebensmittelhygiene vereinbaren ließen, brachte jedoch nicht die Kraft auf, sich in diesem Moment einer Diskussion zu stellen.

»Ich f‌inde die Maus süß. Ihr gefällt es hier.«

Erst jetzt bemerkte Ingrid Hussein. Der Sechsjährige saß auf der Bank beim Fenster und lächelte sie an, wobei er den Blick auf eine Lücke freigab, dort, wo sich eigentlich zwei Schneidezähne bef‌inden sollten.

»Hast du die Maus gesehen, Hussein?«

»Ja, sie heißt Speedy, weil sie so schnell ist. Sie mag Brot. Und Käse.«

Ingrid sah ihn lange an.

»Du hast Speedy doch wohl nicht gefüttert, oder?«

»Nein, Tante Ingrid!« Hussein schaute schnell weg.

»Du darfst die Mäuse nicht füttern, weißt du. Maja will sie nicht in der Küche haben.«

Sie war kurz davor hinzuzufügen: Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzt Maja auf dem Tisch, schaffte es aber gerade so, sich zurückzuhalten.

»Nein, das will ich ganz gewiss nicht«, ertönte es vom Küchentisch. »Das ist lebensgefährlich! Habt ihr noch nie von der Mäusepest gehört? Wir brauchen Fallen! Oder Katzen! Oder Gift! Oder alles auf einmal! Sofort!«

»Was geht hier vor sich?«

In der Küchentür stand Aisha Noor mit einem verwirrten Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht. Eigentlich war Aisha der Inbegriff von Ruhe und Ordnung. Die langen, glatten Haare waren mit einer Spange im Nacken zusammengefasst, sie trug eine schwarze Hose, eine Bluse und einen marineblauem Blazer. Aisha war neu in der Rolle der Hausverwalterin des Himmelfjell Hotels und die Erste, die Ingrid eingestellt hatte, nachdem sie den Direktorenposten übernommen hatte.

Aisha und ihr Sohn Hussein waren im Frühjahr nach Norwegen gekommen und rechtzeitig vor Schulbeginn im Herbst ins Hotel gezogen. Ingrid war froh darüber, dass sie Aisha und Hussein diese Möglichkeit hatte anbieten können. Mit Wohltätigkeit hatte das jedoch nichts zu tun. Die stämmige Aisha hatte glänzende Referenzen von früheren Arbeitgebern vorzuweisen, sie hatte eine Ausbildung, sprach gut Englisch und verfügte über langjährige Erfahrung in der Hotelbranche. Nach nur wenigen Monaten im Land sprachen sowohl Aisha als auch Hussein zudem f‌ließend Norwegisch. Husseins Vater, Mohammed, stammte aus Syrien, lebte zurzeit aber in Jordanien.

»Hussein, hast du wieder etwas angestellt? Und warum steht Frau Maja auf dem Tisch?«, erkundigte sich Aisha.

Bevor Maja es schaffte, erneut »Maus« zu rufen, war Hussein bei seiner Mutter und bohrte sein Gesicht in ihren Blazer. »Frau Maja will Speedy umbringen!«, schluchzte er. »Nur, weil er schnell ist und Käse mag!«

*

Als die Situation in der Küche wieder unter Kontrolle war – nachdem Aisha Hussein mit in ihr Büro genommen hatte, Maja Seter vom Tisch heruntergeklettert war, und die Maus auch nach mehreren Minuten keine Anzeichen gemacht hatte, sich erneut zu zeigen –, schenkte sich Ingrid eine große Tasse Kaffee ein. Jetzt musste sie sich auf die Suche nach Mutter Borghild machen.

Um diese Zeit würde Ingrids Großmutter, ihre allmorgendliche Inspektionsrunde beendet haben. Ingrid sah sie vor sich, wie sie mit dem Zeigef‌inger über Leisten und Geländer strich. Sie würden auch heute staubfrei sein, wie sie es jeden Tag in den fünfzig Jahren gewesen waren, in denen Borghild die Verantwortung getragen hatte, mit der möglichen Ausnahme einiger chaotischer Wochen in den neunziger Jahren. Borghild pf‌legte die Angestellten in der Küche zu begrüßen, während Ingrid ihrerseits draußen unterwegs war. Dann nahm sie eine Tasse Kaffee mit in die Bibliothek, und Ingrid freute sich jeden Morgen darauf, sich zu ihr zu setzen.

Borghild war früh Witwe geworden, als Ingrids Großvater Christian im Alter von nur fünfzig Jahren an einem Herzinfarkt verstorben war. Da waren Borghild und Christian bereits fast dreißig Jahre verheiratet gewesen und hatten über zwanzig Jahre das Hotel gemeinsam geleitet. Anschließend hatte Borghild das Hotel mit ihrer Tochter Engeline und ihrem Schwiegersohn Marius weitergeführt – Ingrids Eltern.

Als Ingrid drei Jahre alt war, wurde die Familie jedoch erneut vom Unglück heimgesucht. Wenige Jahre nach Christians plötzlichem Tod verloren Engeline und Marius bei einem Autounfall ihr Leben, als sie auf dem Heimweg von einem Sommerfest von der Fahrbahn abkamen. Es gab keine Erklärung, kein anderes Fahrzeug war involviert. War es ein Augenblick der Unaufmerksamkeit? Ein Tier, das sich ihnen in den Weg gestellt hatte? Das wusste niemand. Im Alter von dreiundfünfzig Jahren blieb Borghild inmitten der Trauer erneut mit der Verantwortung allein zurück, nunmehr für den Hotelbetrieb und ihre dreijährige Enkelin.

So hatte Borghild das Hotel dreißig Jahre lang allein betrieben. Ingrids Bewunderung für die Großmutter war noch mehr gewachsen, nachdem sie eingesehen hatte, was für große Herausforderungen die Leitung eines Hotels mit sich brachte. Mutter Borghild hatte die Traditionen des Himmelfjell als Familienhotel bewahrt und gleichzeitig alles dafür getan, den Gästen all die Aktivitäten, zu denen das Terrain einlud, anbieten zu können, von Skifahren über Bergwanderungen und Gipfeltouren bis hin zum Wasserfallklettern. Mutter Borghild war ein Fels in der Brandung.

Sie hatten Höhen und Tiefen durchlebt. Konkurrenz von größeren Hotels, sinkende Besuchszahlen, Bedarf an Ausbauten und Ausbesserungen, bürokratische Hürden und wechselnde wirtschaftliche Konjunkturen. Für alles hatte Mutter Borghild die Verantwortung getragen. Bis jetzt – da Ingrid nach Hause gekommen war, um den Staffelstab zu übernehmen.

Seit Ingrids Rückkehr aus dem Ausland hielten sie und die Großmutter jeden Morgen ihre Tagesbesprechung in der Bibliothek ab. Sie nutzten diese Stunden, um praktische Fragen zu klären sowie den Umgang mit kleinen und großen Krisen zu diskutieren. Und in diese Kategorie f‌iel die Maus: Schädlinge im Hotel bedeuteten in der Tat eine Krise, auch wenn Ingrid sich in der Küche bemüht hatte, ruhig zu wirken. Die Lebensmittelaufsicht würde von Mäusekot in den Ecken nicht sonderlich begeistert sein.

Knarzend f‌iel die Tür hinter Ingrid zu, und obwohl der Eingangsbereich mit Fichtenzweigen und Kerzen schön weihnachtlich geschmückt war, seufzte Ingrid, als sie auf dem Weg zur Bibliothek die Rezeption passierte. Sie lächelte der neuen Mitarbeiterin zu, die hinter dem Empfangstresen stand, war gedanklich jedoch mit ihren Aufgaben beschäftigt. Sie musste Alfred bitten, die Türscharniere zu ölen. Oder vielleicht konnte sie das auch einfach selbst machen. Das, und dann die Bretter an der Kellerwand überprüfen, die möglicherweise morsch waren. Die Liste würde kein Ende nehmen. Es gab so viel zu beachten, so viel, was in einem Hotel schiefgehen konnte. Als sei die physische Instandhaltung nicht schon herausfordernd genug, musste man auch dafür sorgen, dass das Buchungssystem funktionierte, die Internetseite aktuell war und die Präsentation in den sozialen Medien bestenfalls stilvoll war. Man trug die Verantwortung für die Personalplanung, dass sich die Lebensmittelbestellungen sowohl im Umfang als auch preislich in einem angemessenen Rahmen befanden, dass die Hygieneregeln eingehalten wurden. Und dann war da noch all das, was man nicht beeinf‌lussen konnte. Straßensperrungen. Stromausfall. Krankheit.

In ihren dunkelsten Stunden fürchtete sie das, dieses Unkontrollierbare. Dass etwas geschehen würde, das die Gäste dazu brachte, sie im Stich zu lassen, sodass sie das Handtuch werfen und das Hotel der Familie verkaufen musste, um die nicht unbedeutenden Schulden zu tilgen. Es gab Interessenten, die das Himmelfjell Hotel erwerben wollten, das wusste sie. Die Hotelketten, die sich in den letzten Jahren in den Tälern etabliert hatten und die norwegische Hotelbranche zusehends dominierten, hatten, nahezu ausnahmslos, Kontakt zu ihnen aufgenommen. Ihre Preisvorstellungen waren jedoch lächerlich niedrig gewesen.

Außerdem hatte Ingrid nicht vor, sich so leicht zu ergeben. Nachdem sie sich erst einmal entschlossen hatte, den Hotelbetrieb zu übernehmen, tat sie das mit voller Kraft. Doch der Einsatz war hoch und die Fallhöhe entsprechend.

Sie öffnete die Tür zur Bibliothek und fand ihre Großmutter in einem der großen Ohrensessel am Kamin.

 

»Es ist ein Mäusejahr, ja. Ich habe mit Bjørnar darüber gesprochen«, sagte Mutter Borghild und legte ein großes Buch auf den Tisch neben sich, eines der Werke über die Geschichte der Region, für die sie sich so sehr interessierte.

»Großmutter. Bjørnar ist ein ausgestopfter Bär«, entgegnete Ingrid. Sie setzte sich in den Sessel neben dem der Großmutter, legte eine Hand über ihre und schaute zu dem großen Bären hinauf, der mit offenem Maul und steifen Lippen neben dem Kamin stand. Groß, dunkel und stillschweigend starrte Bjørnar sie an.

»Ja, das weiß ich«, fuhr die Großmutter fort, während sie ihre Strickjacke zurechtzupfte. »Du glaubst wohl, ich bin völlig verkalkt?« Sie sah Ingrid scharf an.

»Abgesehen von mir ist Bjørnar schließlich am längsten im Hotel, wie du weißt. Allerdings hält er sich besser als ich. Zudem sagt er, er habe Schlimmeres gesehen. Im großen Mäusejahr 1961 zum Beispiel gab es so viele Mäuse im Hotel, dass die Katzen ihrer nicht Herr wurden. Es waren sogar welche hier in der Bibliothek und haben an seinem Fuß genagt. Sieh nur, du kannst den Abdruck dort im Fell sehen.«

Ingrid sah wieder zur Großmutter hinüber und entdeckte das Funkeln in ihren Augen. Oh, sie scherzte! Gott sei Dank! Ingrid musste lachen. Sie war so viele Jahre weg gewesen, dass sie beinahe den verschmitzten Sinn für Humor der Großmutter vergessen hatte. Nein, Mutter Borghild war wohl noch nicht völlig durcheinander. Dennoch glaubte Ingrid, dass die Großmutter in der Tat dann und wann ein paar Worte mit dem ausgestopften Bären wechselte. Ja, sie war nicht einmal sicher, ob dieser nicht auch antwortete.

 

»Und wie läuft es sonst mit den Vorbereitungen?«, erkundigte sich die Großmutter, während sie sich mit einer Hand über die weißen, hübsch hochgesteckten Haare strich. »Nicht mehr lang, bis deine Freunde kommen.«

Nun, Mutter Borghild hatte noch immer mindestens genauso viel Kontrolle über die Vorbereitungen wie sie selbst, dachte Ingrid. Jedoch betonte die Großmutter, dass sie selbst nunmehr im Begriff war, zurückzutreten, und dass Ingrid die neue Direktorin des Himmelfjell Hotels war, mit all der Verantwortung, die das mit sich brachte. Und das war viel Verantwortung. Nicht ohne Grund war Ingrid einmal davor davongelaufen. Den Berg hinunter, in die Stadt hinein und später andere Berge hinauf, und das weltweit.

Jetzt aber war die Zeit gekommen. Die Großmutter war über achtzig, und Ingrid brauchte einen Neustart.

Nach dem, was im Himalaya geschehen war, war der Druck groß gewesen, und Ingrid hatte sich einfach nur weggewünscht. Weg von Preben, weg von der Aufmerksamkeit, weg von all den Erinnerungen und – nicht zuletzt – so weit weg vom internationalen Bergsteigermilieu wie nur möglich. Ein wenig paradox, dass sie dann hierher zurückgekehrt war, ins Himmelfjell Hotel – mit der Aussicht auf den Himmelnuten, den sie in ihrer Jugend so oft bestiegen hatte und von dem sie jetzt, im Alter von vierunddreißig Jahren, nicht wusste, ob sie jemals wieder einen Fuß daraufsetzen würde.

Mutter Borghild hatte einmal zu ihr gesagt, das Wichtigste für einen Bergsteiger sei, gut im Vergessen zu sein. Wer Berge besteigen wolle, müsse die Angst vergessen können, all die Stürze und die verfrorenen Finger, die Streitereien und Hindernisse, um die man nicht umhinkommt.

Und genau so war es schließlich. Um weitermachen zu können, musste man lernen, den Schmerz zu vergessen. Man musste Freude am Bewältigen f‌inden, das Schwierige wegschieben – wieder und wieder. Und das hatte sie getan. Bis etwas geschehen war, das sie unmöglich vergessen konnte.

Ingrid hob den Blick. Die Großmutter hatte eine Frage gestellt. Sie musste sich aufs Hier und Jetzt konzentrieren.

»Die Vorbereitungen … Ja, die gehen ihren Gang. Heute Abend werden wir die gepökelte Lammrippe probieren. Sofern die Maus sie nicht aufgefressen hat. Schließlich wollen wir wissen, ob sie genau so ist, wie sie sein soll, bevor wir sie den Gästen servieren«, sagte Ingrid.

»Glaubst du, dass sie gut ankommt?«, wollte die Großmutter wissen.

»Das will ich wohl meinen! Die Leute wollen solide, traditionelle Gerichte, wenn sie hierherkommen. Ich erinnere mich, dass wir üblicherweise Bratklößchen serviert haben, als ich klein war«, sagte Ingrid. »Und dann gab es an Weihnachten Rippchen und Rinderfrikadellen. Und Würstchen.«

Mutter Borghild lächelte breit. »Würstchen hast du geliebt! Und die Rippchen waren beliebt, def‌initiv. In alten Zeiten war es Tradition, kurz vor Weihnachten Brühefest zu feiern.«

»Brühefest? Was ist das?«

»Nun, zu dieser Zeit haben wir die Rippchen vor dem Braten gekocht und die Fleischbrühe mit Brot serviert. Das war herrlich! Und dann gab es an einem der Weihnachtsfeiertage Rakf‌isk. Das könnte man vielleicht für deine Touristen ausprobieren? Für Rakf‌isk muss man allerdings ziemlich hart im Nehmen sein!«

Ingrid zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das Risiko eingehen will. Kann man nicht an einer Vergiftung sterben, wenn man da was falsch macht?«

Borghild lachte.

»Maja macht nichts falsch, das solltest du wissen. Außerdem klingt es so, als hättet ihr beide den Speiseplan im Griff.«

Borghild strich sich über den Bauch. Sie war seit jeher darauf bedacht gewesen, ihre Figur zu halten, und selbst jetzt in weit fortgeschrittenem Alter wies der Stoff über dem Tweedrock lediglich die schwache Andeutung eines Bauchansatzes auf.

»Das wird demnächst viel Probeessen für uns«, lächelte sie. »Dazu noch all die Kuchen von Maja. Nicht dass das für dich sonderlich gefährlich wäre, Ingrid. Das Fett setzt sich bei dir sowieso nicht fest. Du uferst an keiner Stelle aus. Aber wir anderen müssen ein bisschen aufpassen, weißt du.«

Instinktiv griff Ingrid sich an die Taille. Die Großmutter versuchte lediglich, ihr ein Kompliment zu machen, ahnte jedoch nicht, wie hart die wohlgemeinten Worte sie trafen. Denn das war das Einzige, worüber Ingrid nie mit der Großmutter gesprochen hatte. Sie musste den Blick abwenden. Nein, an Ingrid uferte nichts aus. Und das würde es sicher auch niemals tun.

*

Die Zeit vor dem Mittagessen hatte sie für Büroarbeiten eingeplant, doch es f‌iel ihr schwer, sich auf die lange To-do-Liste zu konzentrieren. Sie spürte, wie die Rastlosigkeit in ihr kribbelte, während ihr Blick ständig aus dem Fenster auf die schöne Landschaft f‌iel. Sollte ihr Leben künftig wirklich so aussehen? Was sie am Himmelfjell so schätzte, war – neben dem Hotel selbst und der Großmutter selbstverständlich – die Natur. Das herausfordernde Terrain, das Licht in den Bergen. Der Wechsel der Jahreszeiten, die frische Luft. Nun aber saß sie die meiste Zeit drinnen und starrte auf den Computerbildschirm.

Es lag auf der Hand, dass sie auch ihre Erfahrung als Bergsteigerin einbringen sollte. Sie war hinreichend bekannt, dass es für viele interessant sein dürfte, ihr zu begegnen und von ihrer Erfahrung zu lernen, sie vielleicht als Bergführerin für Touren in der näheren Umgebung zu haben oder Vorträge von ihr zu hören, wie ihr Freund und Berater Vegard Vang es vorgeschlagen hatte. Themenwochenenden. Inspiration für Leute aus der Wirtschaft. So etwas war eine Geldquelle!

Stimmt, aber wenn sie nur wüssten, wie es ihr ging, dachte sie. Wer würde sich von einer Bergsteigerin inspirieren lassen, die mittlerweile Höhenangst entwickelt hatte?

 

Sie hatte sich gerade zusammengerissen und sich im Mehrwertsteuerregister eingeloggt, als das Telefon klingelte. Es war Aisha.

»Ich habe oben auf dem Dachboden etwas entdeckt«, sagte sie. »Ich glaube, es könnte Schimmel sein.«

»O nein!«, brach es aus Ingrid heraus. »Mäuse, Schimmel. Was kommt als Nächstes?«

Sie stützte den Kopf auf die Hand. War es überhaupt möglich, das umzusetzen – das Projekt der Revitalisierung des Hotels, um es in eine neue Zeit zu führen? Oder hatte sie sich zu viel vorgenommen?

Sie bekam Lust, alles einfach hinter sich zu lassen. Der Großmutter zu sagen, dass es zu viel wurde, dass sie das Hotel verkaufen müssten.

Aber das konnte sie nicht. Sie konnte jetzt nicht aufgeben.

»Ich sehe mir das zusammen mit Alfred an«, ließ sie die Hausverwalterin wissen.

Gib noch nicht auf, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Halte durch, f‌inde Halt, mach noch einen Schritt.