24. Dezember

Die Sonne glitzerte im Schnee. Pia Ps Post auf Instagram zeigte den Weihnachtsbaum im Speisesaal vor dem blauen Himmel, der durch die großen Fenster zu sehen war. Es folgten Aufnahmen vom schneebedeckten Gipfel des Himmelnuten, einem Kerzenhalter mit brennenden Lichtern und der kleinen Ausstellung im Foyer mit Fichtenzweigen und Weihnachtswichteln. Die Hashtags lauteten #Weihnachtsglück, #FröhlicheWeihnacht und #WeihnachtenimHimmelfjellHotel. Der Beitrag hatte bereits mehr als zweitausend Likes erhalten.

 

»Ich habe Mama und Papa angerufen und mit ihnen gesprochen«, teilte Pia Ingrid mit, als sie nach dem Frühstück eine Tasse Tee zusammen tranken.

»Heute?«

»Ja, heute früh. Ich habe ihnen alles erzählt.«

Gestern Abend in der Peer-Gynt-Suite hatten sie das Drama, das sich in der Bibliothek abgespielt hatte, stundenlang analysiert. Und dann hatte Vegard, der Spinner, erzählt, dass er Tors Eltern zur Weihnachtsfeier eingeladen hatte! Heute Abend! Das war doch vollkommen verrückt. Aber auch ein bisschen schön. Und so war es nicht verwunderlich, wenn all das Gerede über Familie auch in Pia etwas ausgelöst hatte.

»Ich habe darüber nachgedacht, seit wir letztens darüber gesprochen haben«, sagte Pia. »Dass ich versuchen sollte, sie zubeziehen. Sie sind bekloppt, aber trotz allem sind es meine Eltern.«

»Wie haben sie reagiert?«, erkundigte sich Ingrid.

»Weißt du was? Sie haben sich so gefreut! Ich konnte hören, dass Mama am Telefon geweint hat, als ich erzählt habe, dass sie Großmutter wird. Zuerst dachte ich, sie würde verzweifelt sein und auf‌legen, aber sie sagte, sie sei noch nie so glücklich gewesen.«

Pia holte tief Luft.

»Meine Güte, ich werde schon wieder ganz emotional. Aber ich darf das Make-up jetzt nicht kaputtmachen, wo ich doch Weihnachtsfotos machen will.«

Vorsichtig wischte sie sich mit einer Serviette unter den Augen entlang.

»Das ist doch phantastisch, dass sie so reagiert haben!«, sagte Ingrid. »Gut, dass du Kontakt zu ihnen aufgenommen hast.«

»Ja«, bestätigte Pia. »Mama will mich nach dem Urlaub besuchen. Sie hat von Kinderwagen und allem Möglichen gesprochen, was sie kaufen will. Und auch wenn ich glaube, dass das ziemlich stressig wird, freue ich mich auch darauf.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee.

»Du weißt, dass ich diese Schwangerschaft anfangs mit ganz anderen Augen gesehen habe. Ich war sicher, die volle Kontrolle und alles vorbereitet zu haben. Aber es war so verdammt schwer. Ich habe mich so alleine gefühlt. Zeitweise dachte ich, das sei der größte Fehler meines Lebens. Und auf keinen Fall war ich in der Lage, in die Stadt zu gehen und die Babyausstattung zu kaufen.«

Sie lächelte. »Ganz im Gegenteil. Ich habe mich hier oben auf einem Berg versteckt. Daher ist ein bisschen Hilfe, wenn ich wieder in die Stadt komme, sicher ganz schön. Mit Kinderwagen und all dem.«

»Du wirst wohl einen Kinderwagen gesponsert bekommen, wenn du auf Instagram nur davon berichtest«, lächelte Ingrid. »Aber ich verstehe, was du meinst.«

*

»Wir haben heute über Skype mit Papa gesprochen!«, strahlte Hussein, der mit den Armen voller Geschenke, die er unter den Baum legen wollte, in den Speisesaal gekommen war. »Er sagt, er will nach Weihnachten nach Norwegen kommen!«

»Ja, wir hoffen, dass uns das gelingt«, fügte Aisha hinzu.

Leiser sagte sie an Ingrid gewandt: »Das ist alles so unsicher. Ich wage es nicht, dorthin zurückzukehren, und ich weiß nicht, ob wir hier eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis bekommen. Aber das will ich Hussein nicht sagen. Momentan geht es nur darum, dieses Fest zu genießen, und da soll er sich auf ein Wiedersehen mit seinem Vater freuen dürfen. Alles andere sehen wir später.«

Ingrid nahm Aishas Hand und drückte sie.

»Das ist ein guter Anfang«, sagte sie.

Dann gingen sie zum Mittagessen. Selbstverständlich wurde heute Reisbrei serviert.

Maja stellte große Schüsseln auf den Tisch, bestand aber darauf, den Anwesenden selbst aufzufüllen. Der Reisbrei, für den Maja stundenlang rührend am Topf gestanden hatte, dampfte noch.

»Ich habe heute eine sehr gute Nachricht erhalten«, verkündete Vegard, nachdem er den Reisbrei probiert hatte. »Das heißt, ich hoffe, ihr empf‌indet sie auch als positiv. Hanna, die Künstlerin, wisst ihr, und ihr Freund PX wollen nämlich am Neujahrsabend gern das Hotel besuchen. Sie waren zu einigen großen Sachen eingeladen, brauchen nach einer tigen Saison aber Entspannung. Ein paar Tage hier oben machen bestimmt Appetit auf mehr, und vielleicht können wir hier im Sommer ein Hanna-and-The-Hearts-Konzert organisieren.«

»Hanna und PX?«, rief Perle begeistert. »Neujahr? Hier? Dann möchte ich Neujahr doch nicht frei haben!«

Ingrid lachte. »Du wirst frei haben!«, sagte sie. »Aber als Gast bist du herzlich willkommen.«

»Super«, sagte Pia. »Ich kenne Hanna gut, sie ist megacool. Ein richtiges Partygirl. Wie ich es auch mal war.«

Sie lachte und klopfte sich sanft auf den Bauch.

»Deine Partyzeit ist noch nicht vorbei«, warf Freya Wilkins ein. »Warte nur ab.«

Sie legte eine Hand über die ihres Ehemannes und lächelte. Dann wurde sie wieder ernst.

»Es gibt ein paar Dinge, die ich gern sagen möchte«, begann sie. »Ich habe hier im Himmelfjell mehr gefunden, als ich gesucht habe. Es wird mehr als einen Weihnachtsbesuch brauchen, um all das zu verdauen – und damit meine ich nicht nur das Essen.«

Sie räusperte sich. »Wie ihr wisst, sind das für mich überwältigende Tage gewesen«, fuhr Freya fort. »Ich muss zugeben, dass ich unsicher bin, wie ich mich gegenüber Uncle Hallgrim und meinen neuen Cousins dort unten verhalten soll. Es schmerzt, daran zu denken, was meine Mutter in Dalen erlebt hat, und sie selbst hat entschieden, den Kontakt zu ihrer Familie hier abzubrechen. Aber wir werden sehen, was sich entwickelt. Allen voran bin ich froh und dankbar, den Ort gefunden zu haben, aus dem meine Mutter stammt und den sie geliebt hat. Und die Person, die sie geliebt hat.«

Mit glänzenden Augen sah sie Borghild an. »Ich hoffe, oft hier ins Himmelfjell zurückzukehren. Mir kam bereits der danke, meine Daughters-of-Norway-Loge zu einer Reise nach Norwegen mitzunehmen! Ja, vielleicht können sie auch noch mehr beitragen. Es sind einige wirklich gut situierte Damen darunter.«

Freya nahm einen Schluck aus dem mit rotem Saft gefüllten Glas.

»Aber da ist noch etwas. Ich verstehe, wenn das jetzt unerwartet kommt, aber es ist mir gelungen, diese junge Dame« – sie verwies mit einem Nicken auf Perle, die dabei war, Kaffee einzuschenken – »zu überreden, im nächsten Jahr in die USA zu kommen. Ich glaube, meine Kontakte können ihr dort ein paar gute Jobmöglichkeiten vermitteln.«

»In Kalifornien?«, fragte Ingrid.

»Ja! Eine junge Frau mit einem solchen Elan und einem solchen Talent wird dort drüben ihren Weg gehen.«

Ja, das kam in der Tat ein wenig unerwartet, dachte Ingrid. Und sie war nicht sicher, ob Amerika das Land war, in das zu ziehen sie in diesen turbulenten Zeiten jemandem empfehlen würde. Aber es passte. Perle war wie geschaffen für die große Welt. Sie musste raus und ihre Flügel ausbreiten. Sie mussten ihr das einfach gönnen.

»Was für eine großartige Möglichkeit! Glückwunsch, Perle! Aber du hörst doch wohl nicht sofort auf?«

»Nein, ich werde mein Studium erst beenden«, antwortete Perle. »Ich möchte gern bis zum Sommer hier arbeiten, wenn ich darf. Und dann werde ich meine Arbeit abgeben.«

»Die über Werkzeugkästen?«, fragte Alfred.

»Ja, genau, die über Werkzeugkästen«, lächelte Perle.

»Ich habe die Mandel bekommen!«, rief plötzlich Hussein.

»Nein, wirklich? Was für ein Glück!«, sagte Maja. Sie zwinkerte Ingrid zu und holte dabei eine Tüte unter ihrem Stuhl hervor.

»Dann bekommst du dieses Geschenk«, sagte sie und zog, eingepackt in Zellophan, eine große Marzipankatze aus der Tüte.

»Echtes, hausgemachtes Marzipan«, verkündete sie. »Inspiriert von Svartlaug.«

»Miau«, war von Svartlaug zu vernehmen, die es sich unter dem Tisch gemütlich gemacht hatte.

*

Nach dem Essen bediente sich Ingrid eines Vorwands, um sich für ein paar Stunden in ihre Wohnung zurückzuziehen. Sie nahm ihr Handy und starrte es lange an. Suchte schließlich Prebens Nummer raus.

Sie dachte an das Himalaya-Projekt, die neue Stiftung, die zu gründen sie im Begriff waren. Ja, sie würde in vielerlei Hinsicht ihr Versuch des Ablasses werden, aber auch so viel mehr als das. Es ging darum, die Bürde zu schultern. Der Herausforderungen von Klimawandel, Erosion, Armut und Umweltzerstörungen waren es so viele und große, dass es leicht war, sich machtlos zu fühlen, aber sie würden sich dieser Machtlosigkeit nicht ergeben. Sie dachte an Giovannis Worte: Gott erlegt uns nicht mehr auf, als wir tragen können. Was Gott betraf, war sie sich nun nicht ganz sicher, aber sie wollte tragen, wozu sie in der Lage war.

Und dann f‌iel ihr etwas ein, das Mutter Borghild immer zu sagen pf‌legte: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

»Preben Wexelsen«, sagte die bekannte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Hei, Preben!« Sie spürte, wie ihre Stimme zitterte, aber sie hatte sich entschieden.

»Wie geht’s? Ja, ganz gut. Hier auch. Bald bereit für die nachtsfeierlichkeiten. Das hast du vor? Bist du gerade beschäftigt? Nein? Bist du allein? Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich an Heiligabend anrufe. Aber ich muss dir etwas sagen. Etwas, das du zu wissen verdienst.«

*

Dalen war in Glockengeläut gehüllt. Vom Turm der alten, braun gebeizten Kreuzkirche verbreitete sich der tiefe Klang über schneebedeckte Felder und Wiesen, über Höfe und Wald. Komm-komm, komm-komm, komm-komm!

Und die Leute kamen. Vom großen Hof oben auf dem Berghang, vom neuen Baugebiet sowie aus den Nachbardörfern kamen sie. In ihrem feinsten Zwirn, gefahren und zu Fuß, und einige sogar mit dem Tretschlitten, zwischen den Birken hindurch, die mit ihren nackten Ästen die Allee säumten. Sie gingen durch das große Tor und über den Friedhof, wo Kerzen auf den Gräbern brannten. Die Menschen strömten durch die weit geöffneten Kirchentüren, denn jetzt war Heiligabend, und der Festtagsfriede sollte eingeläutet werden.

Ja, sogar vom Himmelfjell kamen sie. Die alte Borghild Berg und ihre Enkelin Ingrid wurden bemerkt, wie sie die Kirche betraten, zusammen mit der blonden Amerikanerin, die im Dorf unterwegs gewesen war und mit dem einen oder anderen gesprochen hatte, in Familiengeschichten und alten Überlieferungen gegraben hatte – alle drei trugen sie Trachten mit klirrenden Broschen. Begleitet wurden sie von einer gemischten Truppe aus Hotelgästen. Ein vornehmer Herr, das war der Amerikaner. Ein paar jüngere Männer im Anzug, die aussahen wie Stadtmenschen. Eine hübsche Frau in weißer Kleidung, hochhackigen Stiefeletten und mit honigblonden Locken, die die Aufmerksamkeit der Jüngsten der Kirchgemeinde auf sich zog. Ist das nicht …? Doch, das ist sie! Und ist sie …? Es sieht so aus. Ja, ganz sicher. Oi! Aber das hat sie nirgends gepostet …?

Doch die eine Sache, über die anschließend gesprochen wurde, war, dass Borghild sich auf dem Weg zu ihrem Platz umgedreht und Hallgrim Dalen und dem Moschus-Clan zugenickt hatte, der bereits in der Kirche Platz genommen hatte. Eine Sensation!

Und da kam doch tatsächlich auch Familie Seter. Torbjørn, Toril und ihr Sohn Tor. Sie waren nur selten in der Kirche zu sehen. Heute Abend aber saßen sie mit den Leuten vom Himmelfjell zusammen.

In der Sakristei stand die frisch gebackene Gemeindepfarrerin Hanne Kristoffersen und ging in Gedanken die Predigt des Tages durch. Das war ihr erster Weihnachtsgottesdienst in der Kirche von Dalen, und zweifellos war sie nervös. Sie und ihre Ehefrau Mari wohnten erst seit wenigen Monaten hier.

Sie hörte, dass viele Leute in der Kirche waren. Jetzt läutete die Uhr dreimal. Zeit hineinzugehen.

*

»Es begab sich aber zu der Zeit«, las die junge Gemeindepfarrerin, »dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.« Als sie die Worte des Weihnachtsevangeliums in die Kirche dringen hörten, wurde es in der Gemeinde ganz still. »Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.«

 

Es erklang »Stille Nacht, heilige Nacht«, und dann war Weihnachten. Als sie die Kirche verließen, war der Himmel dunkel, und als sie hinauf auf den Berg kamen, sahen sie über dem Himmelnuten die Sterne funkeln. Der weiße Vollmond spiegelte sich im Schnee. Vor dem Hotel warfen die Fackeln ihr f‌lackerndes Licht über den Eingangsbereich.

Es war gut, nach drinnen ins Warme zu kommen. Maja hatte für alle Glögg vorbereitet, und sie nahmen ihre Becher mit in den Speisesaal.

Die Lämpchen des Weihnachtsbaums leuchteten hell, und unter den schweren Zweigen lag ein großer Berg Geschenke. Aus den kleinen Lautsprechern auf den Ecktischen erklang Bachs Weihnachtsoratorium.

Alfred, Aisha, Hussein und Maja hatten alles vorbereitet, und selbst die Köchin sollte am Weihnachtsessen teilnehmen, sobald sie in der Küche alles Nötige erledigt hatte. Der herrliche Duft von Lammrippe zog in den Raum. Die Tische waren mit weißen Decken, Kristallgläsern, Porzellan, Fichtenzweigen und roten Kerzen ausgestattet.

Wie schön es ist, dachte Ingrid. Was für ein Glück ich habe, das gemeinsam mit Menschen erleben zu dürfen, die mir nahestehen. Ein schwarzer Schatten schlich an ihr vorbei. Svartlaug stolzierte durch den Speisesaal und lief anschließend in die Bibliothek. Ingrid hatte vor einigen Tagen begonnen so zu tun, als könnte sie das Tier nicht sehen. Nicht ordnungsgemäße Katzenhaltung war ein Problem, das sie nicht beabsichtigte, genau jetzt zu lösen. Und sie musste zugeben, wenn auch nur sich selbst gegenüber, dass es durchaus ein wenig gemütlich war, die Katze hier zu haben.

Sie sah sich um. Das war schon eine spannende Gesellschaft: Mutter Borghild, Freya und John Wilkins, Ingrids Freunde, Tors Familie. John Wilkins trug Anzug und Weste und sah aus wie ein vornehmer Gentleman – was er ja auch war, dachte Ingrid. Freya Wilkins sah in Charlottes Tracht glänzend aus. Wie sich herausgestellt hatte, hatte Borghild sie all die Jahre im Hotel aufbewahrt, seit sie 1961 für das Gemälde Modell gestanden hatten. Sie hätte zur Hochzeit 1962 zum Einsatz kommen sollen, aber so weit war es ja nie gekommen.

Pia, Vegard und David hatten sich auf einer Stuhlreihe bei den Fenstern niedergelassen. Vegard und David hatten sich mit Glögg versorgt, während Pia selbst die alkoholfreie Variante dankend abgelehnt hatte. Sie war mit Vegard und David zur Kirche gefahren; sie hatte darauf bestanden, dabei zu sein, obwohl sie vorgeschlagen hatten, sie könne im Hotel bleiben und sich ausruhen. Sie war so fröhlich und enthusiastisch gewesen, als sie heute Morgen vom Telefongespräch mit ihren Eltern berichtet hatte. Jetzt wirkte sie indessen erschöpft, dachte Ingrid, und sie war wirklich blass, trotz des fachkundig aufgetragenen Make-ups.

In einer kleinen Gruppe etwas abseits standen Tor und seine Eltern. Wie attraktiv Tor in dunkler Hose, weißem Hemd, Weste und Krawatte war. Es war ungewohnt, ihn so zu sehen. Sie hatte sogar einen schwachen Duft von Parfüm vernommen, als sie sich vor der Kirche getroffen und er sie in den Arm genommen hatte. Er hatte Torbjørn und Toril in seinem Auto von der Kirche mitgenommen. Die Eltern waren so beklommen gewesen, als sie durch die Hoteltür kamen, und hatten gemurmelt, sich nicht aufdrängen zu wollen, Ingrid hatte sie jedoch lachend und mit dem Blick auf Vegard gerichtet daran erinnert, dass sie eingeladen worden waren und wie froh sie alle waren, sie dabeizuhaben.

Aber es fühlte sich auch … seltsam an. So als wären sie plötzlich eine Familie.

Ingrid schlug an ihr Glas, um die Gäste willkommen zu heißen und sie zu Tisch zu bitten, allerdings kam sie nicht weiter als bis zu den einleitenden Phrasen, bevor Pia Pihlstrøm sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob und sich mit einem unterdrückten Stöhnen an der Rückenlehne abstützte.

Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden richtete sich umgehend auf sie.

»Entschuldigt mich für einen Augenblick«, sagte Pia mit ungewohnter Stimme. Schnell durchquerte sie den Raum. »Ich muss nur kurz hoch. Wartet nicht auf mich, nehmt einfach Platz.«

Sie wankte zur Tür und hinterließ dabei eine nasse Spur auf dem Boden.

Vegard sprang auf und war als Erster bei ihr.

»Aber … aber … das, das ist ja wie im Film! Wie heißt das? Ist die Fruchtblase geplatzt? Du bekommst das Kind, meine Liebe!«

Er drehte sich zu den anderen um: »Jemand muss einen Krankenwagen rufen!«

Es dauerte nicht lange, bis John Wilkins an ihrer Seite war. »Ich bin Arzt«, sagte er nur. »Ich kann ihr helfen. Zuerst müssen wir schauen, wie weit die Geburt vorangeschritten ist und wie schnell es aller Voraussicht nach gehen wird. Ruft trotzdem im Krankenhaus an. Ms. Berg und Mr. Vang, kommen Sie mit.«

Zusammen halfen Ingrid und Vegard der verwirrten Pia aus dem Speisesaal heraus.

»Wir brauchen ein sauberes Zimmer mit einem großen Bad«, informierte Doktor Wilkins, während er Anzugjacke und Weste auszog und beides seiner Frau reichte. Die silbernen Manschettenknöpfe ereilte das gleiche Schicksal. Dann krempelte er die Hemdsärmel hoch.

»Freya, kannst du mit meiner Arzttasche in Pias Zimmer kommen?«

»Soll ich sie irgendwo hinfahren?«, fragte Tor, als Doktor Wilkins den Kopf auf den Flur hinausstreckte.

»Nein, ich glaube nicht, dass sie es ins Krankenhaus schafft«, antwortete der Arzt. »Vielleicht anschließend, sofern die Hebamme der Meinung ist, sie solle ins Krankenhaus eingewiesen werden.«

»Der Krankenwagen ist unterwegs, und deine Mutter spricht mit der Hebamme«, ließ Ingrid Tor wissen.

Pias Zimmer wurde zum Kreißsaal umfunktioniert, und Toril Seter hatte ihre Hilfe angeboten. Sie war nicht nur eine erfahrene Bäuerin, sondern auch Mutter mehrerer Kinder und damit als Geburtshelferin besser qualif‌iziert als die meisten anderen der Anwesenden – mit Ausnahme des Arztes. Sie hatte ihr Outf‌it schnell von Festkleid in Jogginghose und Baumwollpullover geändert, die Ingrid in ihrem eigenen Kleiderschrank gefunden hatte. Die sonst so stille Frau schien in ihrem Element zu sein, jetzt, da sie gebraucht wurde, und stand in engem telefonischen Kontakt mit der Geburtsklinik in Lillehammer.

Ingrid und Aisha liefen in den Waschraum, um Handtücher und anderes zusammenzusuchen, was bei einer Geburt benötigt wurde.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Aisha. »Ich meine, es ist doch …«

Ihr Blick strahlte Mitgefühl aus.

»Ja, alles in Ordnung!«, entgegnete Ingrid. »Für einen Moment graute mir, selbst während der Geburt dabei sein zu müssen, und um ehrlich zu sein, bin ich froh, dass ich nicht gebraucht werde. Das würde mir dann doch ein Stück zu nahe gehen.«

»Das verstehe ich gut«, sagte Aisha. »Wir machen uns lieber in anderer Weise nützlich.«

Als sie wieder in die erste Etage hinaufkamen, verrieten die Schmerzensschreie aus Pias Zimmer, dass der Geburtsvorgang begonnen hatte. Das ging offensichtlich schneller, als jemand es hätte erwarten können. Davor liefen Vegard und David wie zwei ängstliche Väter auf dem Flur auf und ab. Als Doktor Wilkins die Tür öffnete, um die Textilien entgegenzunehmen, fragte er Ingrid, ob sie die beiden, for God’s sake, nicht mit nach unten nehmen und ihnen einen Drink geben könne.

»Aber gerne doch!«, entgegnete Ingrid.

Jetzt versammelten sich alle, die nicht zu Geburtshelfern ernannt worden waren, unten in der Bibliothek. Sich an den Tisch zu setzen und das Abendessen zu genießen, schien undenkbar, stattdessen hielten sie sich mit Getränken bei Laune. Maja war natürlich aufgewühlt. Dass im Hotel eine Geburt stattf‌inden sollte, war eine Sache, aber dass davon auch die Essenspläne durcheinandergebracht wurden (Noch einer! Nach all der Aufregung gestern!). Doch sie hielt die Speisen warm und beteuerte, dass alles gut gehen würde. Freya Wilkins verhielt sich überraschend ruhig. Sie war es sicher gewohnt, beiseitezutreten, wenn ihr Ehemann seinen Arztberuf ausübte, dachte Ingrid.

Als der Krankenwagen vor dem Haus parkte, war John Wilkins bereits aus der ersten Etage nach unten gekommen. Er hatte sich gewaschen und ein sauberes, weißes Hemd angezogen und berichtet, dass Pia ein gesundes, hübsches kleines Mädchen zur Welt gebracht hatte.

*

Nie zuvor hatten sie wohl ein solches Weihnachten gefeiert. Die Lammrippe kam vier Stunden zu spät auf den Tisch, und die Gäste wechselten sich mit den Besuchen bei der frisch gebackenen Mutter ab, bis der Arzt Einhalt gebot und sagte, Pia müsse sich ausruhen. Die Hebamme hatte bestätigt, dass alles in Ordnung war und kein Bedarf für eine Einweisung ins Krankenhaus bestand. Sie wollte am nächsten Tag wiederkommen, und dann würden sie alles Weitere besprechen.

Jetzt schliefen Pia und ihre Tochter. Zuvor hatte sie noch ihre Eltern über FaceTime angerufen und ihnen ihr Enkelkind vorgestellt. Ingrid hatte ihr mit dem Handy geholfen und den Tränen freien Lauf gelassen, als sie Pia mit dem kleinen, hellroten Geschöpf betrachtete und im Hintergrund den überwältigenden Ausbruch der Eltern hörte. Sie wollten sich am nächsten Morgen ins Auto setzen und so schnell wie möglich ins Himmelfjell kommen.

»Ich kann mir kein besseres Weihnachtsgeschenk für Pia und die Kleine vorstellen, als dass die Eltern und Großeltern Teil ihres Lebens werden«, sagte sie zu Vegard. »Verschwörungstheorien hin oder her.«

»Und zum Glück gibt es in der Herberge ausreichend Platz für sie«, lächelte Vegard.

Tors Mutter trug wieder ihr Festkleid und nahm den ihr angebotenen Aquavit nach der Aufregung dankend an.

»Normalerweise trinke ich nicht viel«, teilte sie dem Ehepaar Wilkins mit. »Aber das sind besondere Umstände.«

»O nein, da haben Sie wirklich recht«, bestätigte Doktor Wilkins und gönnte sich selbst einen soliden Schluck Aquavit. »Das können wir wohl durchaus als ein außergewöhnliches Weihnachten bezeichnen.«

»Kein Essen schmeckt besser als das, was man selbst gegessen hat«, sagte Alfred satt und zufrieden und strich sich über den Bauch.

Kransekake und Kaffee kamen auf den Tisch, und Hussein – dem Anlass entsprechend wie ein feiner kleiner Herr in Anzug und Krawatte gekleidet – nahm sich der Aufgabe an, alle Knallbonbons zerplatzen zu lassen und die Witze darin laut vorzulesen. Auf den Köpfen von Gästen und Angestellten wurden Kronen und Hüte platziert, wobei Aisha die schönste Krone bekam, eine rosafarbene.

Dann war es an der Zeit, die Geschenke zu verteilen – auch das war eine Aufgabe, der sich Hussein mit dem größten Ernst annahm. Er f‌litzte zwischen Weihnachtsbaum und Tisch hin und her, während er die Aufschriften auf den Paketanhängern laut vorlas.

Mutter Borghilds Geschenk an Ingrid war der Entwurf des ersten Kapitels von Dem Himmel entgegen. Die unbekannte Geschichte des Himmelfjell Hotels, das sie vorhatte, innerhalb der kommenden zwei Jahre in Zusammenarbeit mit Tor fertigzustellen.

»Aber da ist noch ein Geschenk von Tor«, sagte Hussein und reichte Ingrid ein viereckiges Päckchen. Oh! Sie hatte für Tor oder seine Eltern keine Geschenke gekauft …

Als sie es auspackte, war sie überwältigt. Es war ein eingerahmtes Foto von ihr selbst, auf dem Weg die Treppe zum Himmelfjell hinauf.

Das Hotel erhob sich mit Turmspitzen und Drachenköpfen vor dem blauen Himmel, und sie selbst sah aus wie ein natürlicher Teil des Ganzen. Tor musste es an einem der Tage aufgenommen haben, an denen sie ihn zum Auto begleitet hatte. Wann aber hatte er geschafft, es zu entwickeln und zu rahmen? Als sie ihn fragte, lächelte er nur verschmitzt. »Das ist ein Beweis dafür, dass du hierhergehörst«, sagte er.

Die Form des Geschenks an Hussein von seiner Mutter gab keinen Anlass zu Fehldeutungen: Ein Paar neue Langlaufski. Er strahlte vor Freude, als er das Papier abriss.

»Ich werde der Erste draußen sein, wenn sie neben dem Hotel die Loipen spuren«, sagte er.

»Ich werde dich begleiten«, sagte Ingrid.

Ingrid schenkte Hussein eine Smartwatch mit GPS. Das war vermutlich das erste und einzige Mal, dass sie von Preben Geschenktipps angenommen hatte.

Dann lief Hussein erneut los und holte ein kleines Päckchen, das er Ingrid entgegenstreckte, während er vor Eifer auf und ab hüpfte. »Für Ingrid, von Hussein.«

Es war ein Stein. Ein kompakter, schwerer Feldstein. Und eine winzig kleine Wichtelf‌igur mit blonden Locken, die aus der Mütze hervorschauten. Bekleidet war sie mit Bergsteigerausrüstung.

»Ich dachte, der Stein könne ein Berg in deiner Wichtellandschaft sein«, sagte Hussein. »Dort muss es doch auch einen echten Bergsteiger geben.«

 

»Du siehst fantastisch aus in Tracht«, ließ Ingrid Freya wissen. »Du siehst aus, als seist du dafür geboren, sie zu tragen. Und das kann man wohl durchaus so sagen.«

Freya griff ihre Hand. »Ich bin nach Norwegen gekommen, um meine Wurzeln zu f‌inden«, sagte sie. »Aber nie hätte ich geglaubt, eine Familie und ein Zuhause wie dieses zu f‌inden«, fuhr sie fort. »Denn das habe ich. Ich habe ein Zuhause gefunden.«

Ingrid erwiderte ihren Händedruck.

»Ich bin so froh, dass du es so siehst«, sagte sie. »Schließlich muss es ziemlich überwältigend gewesen sein, all das, was du während deines Aufenthalts hier erfahren hast.«

»Ja, das war es. Aber so wie ich es sehe, ist es allen voran ein großes Geschenk, das ich bekommen habe. Und bevor ich wieder nach Hause fahre, werde ich Uncle Hallgrim erneut einen Besuch abstatten«, erklärte Freya.

Uncle Hallgrim! Es würde Zeit brauchen, sich daran zu gewöhnen, dachte Ingrid, während sie den zornigen, argwöhnisch dreinblickenden Ochsen vor sich sah.

»Wenn ich das nächste Mal nach Norwegen komme, gibt es hier Tanz! Mit Mutter Borghild und ihm als Tanzlehrer.«

Ingrid musste lachen.

»Tanz? Glaubst du wirklich, du wirst es schaffen, sie dazu zu überreden?«

»Ich kann Menschen zu vielem überreden, das kann ich dir sagen!«, versicherte Freya.

»Das glaube ich gern!«, entgegnete Ingrid.

»Wusstest du, dass der Tanz der Grund dafür ist, warum der Bär hier ist?«, erkundigte sich Freya.

»Wie bitte? Welchen Zusammenhang sollte das haben?«, fragte Ingrid erstaunt.

»Sie haben gewettet!«, erzählte Freya. »Hallgrim glaubte, es würde niemand zu ihrem Tanzkurs kommen. Sollten sich mehr als zehn anmelden, sollte Borghild den ausgestopften Bären bekommen, den er im Sommer zuvor geschossen hatte. Dann kamen dreißig. Am Neujahrsabend hat er den Bären hierhergebracht.«

Ingrid lachte laut auf. »Ich frage mich, was der Wetteinsatz von Mutter Borghild war.«

»Nun, darauf wollte Uncle Hallgrim nicht eingehen«, sagte Freya.

Es hatte beinahe den Anschein, als würde Bjørnar sie aus seiner Ecke heraus anlächeln.

*

Als Sättigungsgefühl und Müdigkeit langsam ihren Tribut forderten, waren Ingrid und Tor auf die Treppe vor dem gang hinausgegangen. Sie mussten bald wieder rein, allerdings war es so gut, dort ein wenig zu stehen, in seinen Armen die Ruhe und die Aussicht zu genießen.

»Mir ist da etwas eingefallen. Könntest du vielleicht Hussein ein bisschen helfen?«, schlug Ingrid vor. »Du weißt, wie es ist, hier im Dorf ein Junge zu sein. Vielleicht könntest du mit ihm und Aisha sprechen und schauen, ob wir etwas tun können, um es leichter für ihn zu machen?«

Tor nickte.

»Das mache ich sehr gern«, sagte er. »Weil er ein guter Junge ist. Aber vor allem, weil du mich darum bittest.«

Sie nickte und erlaubte sich einen Augenblick, die Wärme zu spüren, die hinter seinen Worten steckte. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und atmete tief ein. Dann hob sie ihr Gesicht, und Tor beugte sich zu ihr und küsste sie behutsam auf den Mund.

Am Himmel tauchte das Nordlicht die Berggipfel in einen grünen Schimmer.

»Nun ist also Weihnachten im Himmelfjell Hotel«, ertönte direkt hinter ihnen eine zarte Stimme.

Ingrid und Tor drehten sich gleichzeitig um und lachten.

»Ja, so ist es«, bestätigte Tor. »Fröhliche Weihnachten, Hussein!«

Der Sechsjährige lächelte sie an und gab dabei den Ausblick auf seine fehlenden Schneidezähne preis. Dann zog er etwas Braunes aus der Hosentasche. »Fröhliche Weihnachten! Mögt ihr Pfefferkuchen? Speedy tut es. Ich habe ihm welche vor sein Loch in der Küche gelegt. Aber sagt es nicht Frau Maja.«