2. Dezember

Im Winter geht die Sonne über dem Himmelfjell spät auf, dachte Borghild Berg, sie nimmt sich die Zeit, die sie braucht. Ingrids Großmutter stand am Fenster und schaute über die Gebirgslandschaft – ein Anblick, dem sie niemals überdrüssig wurde, ohne den sie nicht leben konnte. Hier oben hatte sie immer gelebt, und hier würde sie sterben. Ein Pf‌legeheim unten im Tal wollte sie um jeden Preis vermeiden.

Das Panorama vor ihr war gefroren, und dennoch voller Leben. Die weiße Gestalt dort beim Hügel, war das ein Polarfuchs? Ja, es sah ganz so aus. Hätte er an diesem Dezembermorgen den Blick gen Südosten gehoben, hätte er den rötlichen Streifen ganz unten am Horizont des nächtlichen Himmels gesehen. Langsam, ganz langsam wuchs dieser Streifen zu einem breiten Band in allen Farben von Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Indigo, verblassend zu grau-rosa und grau-blauen Farbtönen, wenn man den Kopf Richtung Norden oder Süden drehte. Weit oben in dem dunklen Blau leuchtete noch immer kräftig ein einzelner Stern. Auch dieser vom Polarfuchs unbemerkt. Hätte er jedoch hochgeschaut, hätte er gesehen, dass die Sternbilder bereits im Begriff waren zu verblassen, jetzt da sich sowohl der Große als auch der Kleine Bär für heute in ihren Himmelsbau zurückziehen würden.

Für einen Moment erweckte es den Anschein, als würde die Sonne in Erwägung ziehen sich umzuentscheiden: Der Himmel wurde immer heller, die Sonne selbst war jedoch nicht zu sehen. Ein von morgendlicher Müdigkeit geplagter Mensch wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass auch die Sonne der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich wieder hinzulegen – noch ein wenig zu schlafen – unter der weichen Decke aus Nebelschwaden, die sich im darunterliegenden Tal versammelt hatten. Der Polarfuchs jedoch hatte keine Vorstellung von Bettdecken und war an diesem Morgen vermutlich auch keineswegs müde. Borghild sah ihn zielstrebig zum Bau im Geröll unter der Bergwand traben. Vielleicht hatte er heute Glück gehabt und seine komplette Morgenrunde gedreht, ohne dabei auf Rotfüchse oder Menschen zu treffen. Mit einer extra Portion Glück hatte er vielleicht sogar einen Lemming zum Frühstück gefunden. Es f‌iel nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Fuchs an einem Morgen wie diesem recht zufrieden war.

Allerdings war nicht nur der Fuchs früh auf den Beinen. Als sich die orange Kugel endlich über den Horizont schob und die ersten Strahlen am Himmelnuten heraufkrochen, waren die Leute vom Himmelfjell Hotel bereits mehrere Stunden mit ihren Aufgaben zu Gange.

An den meisten Tagen absolvierte Borghild Berg ihre Runde durchs Hotel, sobald sie sich angezogen hatte, heute aber hatte sie eine Weile am Schreibtisch ihrer kleinen Wohnung gesessen und Tagebuch geführt.

Borghild betrachtete sich im Spiegel neben dem Kleiderschrank. Zupfte einen Fussel von der blau-weißen Strickjacke mit Zinnknöpfen und schob am Dutt im Nacken eine Haarsträhne an ihren Platz. Die Sachen saßen gut, und das Haar war noch immer voll, auch wenn es mittlerweile komplett weiß geworden war. Nicht schlecht für eine Zweiundachtzigjährige, dachte sie, bevor sie ob ihrer eigenen Eitelkeit schnaubte.

Wie immer blieb sie für einen Augenblick vor den beiden Bildern stehen, die an der Wand hingen. Dem Hochzeitsfoto von ihr und Christian in Schwarz-Weiß. Dem kleinen Ölgemälde daneben, das zwei Mädchen in Tracht vor einer frisch gesprossenen Birke zeigte. Sie hatte sie mitgenommen, als sie in die Kårstua gezogen war. In die Direktorenwohnung waren Christian und sie als Frischvermählte vor einer gefühlten Ewigkeit gezogen und bis zum vergangenen Herbst war sie ihr Zuhause gewesen. Sechzig Jahre lang hatte sie diese Bilder jeden Tag betrachtet, aber noch immer konnte sie nicht daran vorbeigehen, ohne einen Stich in der Brust zu verspüren – sowohl aus Liebe als auch aus Wehmut. Eine Trauer über das, was gewesen ist, und das, aus dem niemals etwas geworden war.

Das Foto wie auch das Gemälde stammten aus einer vollkommen anderen Zeit, als sie selbst auf der Schwelle zum Erwachsenenleben gestanden hatte, wie es bei Ingrid jetzt der Fall war. Gut, gut. Ingrid befand sich streng genommen schon längst im Erwachsenenleben, korrigierte sie sich selbst, schließlich war sie über dreißig! Als die Bilder entstanden, war Borghild selbst weitaus jünger gewesen. Heutzutage aber werden die Menschen später erwachsen. Es gab so viel zu erledigen, bevor sie zur Ruhe kommen konnten. Sie mussten eine lange Ausbildung absolvieren und noch länger reisen. Verschiedene Formen des Wohnens und Lebens wollten ausprobiert werden. Zu ihrer Zeit hatte es weniger Möglichkeiten und mehr Verpf‌lichtungen gegeben. Vieles, dem man sich einfach hatte annehmen müssen, ob man wollte oder nicht.

Dennoch hatte sie sich damals frei gefühlt. So als hätte das Leben alles Mögliche zu bieten. Und viel hatte es ihr gegeben. Auf vieles hatte sie aber auch verzichten müssen.

Jetzt ging sie zum Schreibtisch zurück und setzte sich wieder hin, nahm den Füllhalter und schrieb noch ein paar Zeilen. Dann saß sie noch für einige Sekunden mit dem Füller in der Hand da, nachsinnend, bevor sie das Tagebuch entschlossen zuklappte. Zusammen mit dem Füllhalter legte sie es in die Schublade, stand auf und verschloss diese mit dem Schlüssel, der an einer langen Goldkette unter ihrer Bluse hing. Einige Dinge behielt man besser für sich.

Borghild streckte den Rücken durch. Dann ging sie nach unten, um einen neuen Tag anzupacken. Bevor sie in den Flur hinausging und die Tür hinter sich schloss, warf sie einen letzten Blick auf die beiden Bilder. Nur Ingrid und sie selbst hatten einen Schlüssel zu der Wohnung. In ihren eigenen vier Wänden machte sie selbst sauber. So hatte sie es auch gehalten, als sie in der Direktorenwohnung gelebt hatte. Sie hatte es als unpassend empfunden, dass die Zimmermädchen dort hineingingen und in ihren Sachen herumräumten, und daran hielt sie auch heute fest.

 

Unten an der Treppe traf sie den kleinen Hussein mit dem Rucksack auf dem Rücken. Seine Mutter Aisha war nach draußen gegangen, um das Auto aufzuwärmen, bevor sie ihn zur Schule fahren musste. Der Sechsjährige war derart dick in Kleidung eingepackt, dass er kugelrund war, was ihn jedoch nicht an dem Versuch hinderte, die Treppe an der Außenseite des Geländers hinaufzuklettern.

»Guten Morgen, Hussein. Was treibst du da?«

»Guten Morgen, Frau Borghild! Ich bouldere nur ein bisschen!«, rief der Sechsjährige, sprang herunter und gab mit einem breiten Lächeln die Sicht auf die fehlenden Vorderzähne frei. Das kleine Gesicht glänzte vor Kälteschutzcreme und war zwischen der weit über die Ohren gezogenen Mütze und den vielen Schals kaum zu sehen.

»Ach so!«, sagte Borghild. »Bist du jetzt bereit für die Schule?«

»Ja! Wir haben heute Skitag!«, strahlte Hussein.

»Was du nicht sagst«, entgegnete Borghild. »Ja, sie haben ten im Skistadion die Schneekanonen wohl eine Weile laufen lassen. Aber hast du denn Ski?«

»Nein, aber wir können welche leihen.«

»Das wird sicher ein Spaß! Allerdings könnte es sein, dass du zum Skifahren ein bisschen zu warm angezogen bist«, ergänzte Borghild. »Das wirst du merken, wenn ihr erst einmal in Gang seid.«

»Mama sagt, dass man in Norwegen nie zu warm angezogen sein kann«, lautete Husseins Antwort.

Borghild lächelte. Aisha hatte Unmengen an Geschichten über unvorsichtige Leute gehört, die sich in der unwirtlichen norwegischen Natur verletzt hatten oder erfroren waren, nicht zuletzt von Maja Seter. Die Köchin hatte immer eine gute unheilvolle Geschichte auf Lager, und Aisha hatte Todesangst bekommen, dass ihrem Sohn hier in diesem neuen, kalten und wilden Land etwas Schlimmes zustoßen würde.

Borghild verstand die Besorgnis. Sie erkannte in Hussein etwas von Ingrid wieder. Sie war auch so ein Kind gewesen, eines, das niemals ruhig dasaß, das immer kletterte: auf Möbel, Steine, Geländer, auf Bäume. Vor einigen Wochen war Aisha vom Lehrer angerufen worden: Während einer Schulexkursion war Hussein auf die große Statue im Dorf geklettert. Der Lehrer hatte keine Angst gehabt, dass Hussein sich verletzen würde, der Junge kam immer überall sicher wieder herunter, sondern davor, dass die anderen Kinder seinem Beispiel folgten und es auch ausprobierten.

Borghild begleitete Hussein zur Haustür und winkte Mutter und Sohn zum Abschied zu. Dann ging sie in die Küche, um sich ihren Kaffee zu holen.

*

Mit Hausmeister Alfred Haugs schweren Schritten hinter sich ging Ingrid entschlossen die Treppen hinauf. Wer viel zu tun hat, schafft viel, sagte eine Stimme in ihrem Inneren. Das waren Mutter Borghilds Worte. Alfred Haug schwieg. In der obersten Etage bogen sie auf den Flur ab, gelangten zur Treppe, die auf den Dachboden führte und nahmen die dunklen, unbehandelten Stufen in Angriff. Durch ein kleines Fenster ganz oben in der Wand drang ein wenig Licht.

Ingrid hatte es nicht geschafft, am Tag zuvor den Dachboden zu überprüfen und hatte nicht die geringste Lust, es jetzt zu tun. Alfred ging es offensichtlich genauso. Ingrid wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, die Augen vor dem Schimmel zu verschließen. Es war nur, dass sie es sich eigentlich auch nicht leisten konnte, etwas dagegen zu unternehmen, sollten sie tatsächlich welchen f‌inden. Sie hatte Schimmel gegoogelt und war beim Gedanken an das, was sie gelesen hatte, erschaudert: »Hat er sich erst einmal in Ihrem Haus festgesetzt, hat dies enorme Konsequenzen. Er wächst explosiv und oft im Verborgenen. Man hat kaum eine Chance, ihn zu entdecken, bevor er nicht bereits viel Schaden angerichtet hat.«

Sie nahm die letzten Treppenstufen, drückte die schwere Dachbodentür auf und tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter. Nackte Glühbirnen hingen von den schweren Holzbalken herunter und verbreiteten gelbes Licht. Die Ecken des großen Raums waren noch immer dunkel, weshalb sie die Konturen von Schachteln, Schränken und diversem anderen aussortierten, aber noch nicht entsorgten Mobiliar nur erahnen konnte. Die Luft war eiskalt. Ingrid hielt die Tür hinter sich auf, bis auch Alfred Haug die Treppe erklommen hatte. Er keuchte, nachdem er sich mit dem schweren Werkzeugkoffer vier Etagen nach oben gekämpft hatte. Er hatte geschnaubt, als Ingrid ihm mitgeteilt hatte, dass Aisha entlang der ten einige merkwürdige Auswüchse entdeckt hatte, und gegen die komplette Expedition protestiert. Das aber musste er sich def‌initiv ansehen. Er war der Hausmeister; das f‌iel in seinen Zuständigkeitsbereich.

Ingrid hatte eine solide Taschenlampe dabei, damit sie trotz der sparsamen Deckenbeleuchtung etwas sehen konnten. Sie bewegte sich tiefer in den Raum hinein, leuchtete entlang der Bodenleisten in Türnähe, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches entdecken. Auf halbem Weg notierte sie sich, dass in einer Ecke ein paar zusammengelegte Wolldecken lagen. War das nicht irgendwie merkwürdig? Wonach sie jedoch Ausschau hielt, war etwas ganz anderes. Sie ging weiter in den Raum hinein und erlaubte sich beinahe, erleichtert zu sein, weil sie an Wänden und Boden nichts entdeckte … bis – da spürte sie, wie ihr Herz in der Brust einen Satz machte. An der einen Wand lag auf den vergilbten Dielen ein bräunliches Pulver. Und was war das? Aus einem Loch zwischen Wand und Bodenleiste schien eine orangefarbene Substanz herauszuquellen.

»Alfred, sieh dir das an! Kann das echter Schimmel sein?«, fragte Ingrid.

»Was für eine Art von Schimmel soll es sonst sein?«, entgegnete Alfred Haug. »Eine Fälschung? Made in China

Ingrid seufzte. Sie wusste nicht, ob Alfred dumm war oder versuchte, sie aufzuziehen, in diesem Moment jedoch war sie kaum empfänglich für Humor.

»Schimmel ist ein Albtraum!«, brach es aus ihr heraus. Sie sah sich um. »Allerdings hatte ich nicht gedacht, dass das Hotel besonders anfällig dafür ist. Schließlich handelt es sich um einen soliden Bau.«

»Ja, genau«, sagte Alfred.

»Und es ist seltsam, dass er auf dem Dachboden auftaucht.«

»Ja.«

»Man sollte annehmen, dass es hier oben ziemlich trocken ist.«

»Ja.«

Sie drehte sich zu dem Hausmeister um und betrachtete den buschigen, grauen Kinnbart und die tief unter Hautfalten liegenden Augen. Wie alt mochte Alfred wohl sein? Unmöglich zu schätzen. Irgendwas zwischen fünfzig und hundert, dachte sie. Aber hatte er in den letzten Jahren die Instandhaltung schleifen lassen? Mutter Borghild war zwar eine geschäftige Frau, aber mit begrenzten Einnahmen aus dem Hotelbetrieb und einem kleinen Team waren dem, worüber sie den Überblick haben konnte, Grenzen gesetzt. Zudem war sie mittlerweile über achtzig. Vielleicht hatte der Verfall zu weit fortschreiten können.

Ingrid richtete die Taschenlampe erneut auf die Wand.

»Bist du in letzter Zeit hier oben auf dem Dachboden gewesen? Hast du das Feuchtigkeitsniveau überprüft?«

Alfred sah sie an, ohne zu antworten, ging jedoch zu der angeleuchteten Stelle. Mühselig begab er sich in die Hocke und tastete vorsichtig mit den Fingern nach dem vermeintlichen Schimmel. Er löste ein kleines Stück ab, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Roch daran. Dann steckte er es in den Mund.

Ingrid traute kaum ihren Augen. Zwar hatte sie Alfred Haug schon immer als etwas seltsam wahrgenommen, dass er jedoch geisteskrank war, nein, das hatte sie nicht mitbekommen. Warum hatte Mutter Borghild ihn so viele Jahre als Hausmeister behalten – einen Kerl, der sich auf den Boden hockte und Schimmel aß?

Alfreds wettergegerbtes Gesicht erstrahlte in einem breiten Lächeln. Er streckte den rechten Arm aus, nahm ein weiteres Stück der orangefarbenen Masse und erhob sich schwerfällig, die linke Hand auf das Knie gestützt. Wie ein Irrer grinsend ging er auf Ingrid zu. Als er vor ihr stand, hielt er ihr das, was er in den Händen hatte, vors Gesicht. Sie blinzelte. Es war orange und sah trocken und porös aus.

»Nimm einen Happen!«, forderte Alfred sie auf. »Das ist gewiss eine ganz besondere Art von Schimmel!«

Sie machte einen Schritt rückwärts, er aber fuhr fort: »Magst du keine Käsebällchen?«

Alfreds polterndes Lachen erschallte, bis die Dachbodentür wieder zugefallen war und sie sich auf den Weg die Treppen hinunter zur Küche begaben.

*

Ingrid gönnte sich fünf Minuten Pause mit Hussein auf der Bank unter dem Küchenfenster. Die Köchin hatte sich nach dem Mittagessen für eine Weile in ihr Zimmer zurückgezogen. Aisha war wieder in ihrem Büro.

Nach dem Schulausf‌lug waren Husseins Wangen noch immer rosig. Als Ingrid ihn fragte, wie es gelaufen sei, antwortete er begeistert.

»Ich glaube, ich war richtig gut auf den Ski«, sagte er. »Und das fand der Lehrer auch. Obwohl Mikkel gesagt hat, ich würde nur watscheln. Und dann hat er irgendwas von Moses in der Wüste gesungen, der auf Ski watschelt.«

Mikkel. Dabei musste es sich wohl um Mikkel Dalen handeln, den Sohn von Freddy Dalen, an den sie sich aus Schulzeiten erinnerte. Mikkel war somit – was war das? – der Urenkel, ja, das musste es sein, des berühmt-berüchtigten Hallgrim »Moschus« Dalen.

 

Hallgrim war eine Art Dorfkönig, Clanchef und Eigentümer der bedeutenden Firma Moschus Maschinen. Seine Familie dominierte das Dorf schon, seit Ingrid denken konnte. Ganz sicher auch davor. Sie hatte die Familie Dalen immer als unangenehm empfunden, besonders die Jungen. In der Schule hatten sie stets einen abfälligen Kommentar oder ein anzügliches Wort auf den Lippen. Hatte man ein neues Kleidungsstück oder einen neuen Ranzen bekommen, konnte man sicher sein, dass diese im Laufe des Schultages schlechtgemacht und möglicherweise beschmutzt wurden. Sie erinnerte sich an den Tag, als Freddy Dalen und einige seiner Kumpanen versucht hatten, auf dem Schulhof einen jüngeren Schüler an der Fahnenstange hinaufzuziehen. Er hatte eine neue Jeans von einer teuren Marke getragen und musste für diese Eitelkeit bestraft werden. Der Junge hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, doch die älteren Kinder hatten ihn übermannt und die Fahnenschnur durch die Gürtelschlaufen seiner Hose gezogen. Mit vor süßem Grauen leuchtenden Gesichtern hatten die anderen Kinder nur dagestanden und zugesehen. Plötzlich jedoch war ein blonder Junge über den Schulhof gelaufen gekommen. Es war Tor Seter, Ingrids Klassenkamerad. Er war viel jünger als Freddy, aber groß und stark für sein Alter, und war Freddy auf den Rücken gesprungen. Lass ihn los!, hatte Tor gebrüllt. Das ist lebensgefährlich!

Freddy ließ von dem Jungen ab und stürzte sich stattdessen auf Tor. Halt dich da raus!, schrie er und stieß Tor zu Boden. Verf‌luchter Schafbauer! Er setzte sich auf Tor und schnitt Grimassen. Du stinkst nach Scheiße! Schafscheiße! Tor war groß, aber Freddy Dalen war größer. Und er hatte eine ganze Bande im Schlepptau. Jetzt ließen sie von ihrem ersten Opfer ab, das mit intakter neuer Hose umgehend das Weite suchte, während sich die Rabauken darauf konzentrierten, Freddy den Rücken freizuhalten, der nun Faustschläge auf Tor niederprasseln ließ. Ein Lehrer war nicht zu sehen, aber mit einem Mal durchbrach eine zarte Stimme das Spektakel. Freddy! Hör auf! Es war Freddys kleiner Bruder Karl, der mit Tor und Ingrid in eine Klasse ging. Karl – das Moschuskalb, hatten sie ihn genannt, erinnerte sie sich – war klein und dünn, das komplette Gegenteil von seinen massigen Brüdern und Cousins. Er ist nicht ganz normal, sagten die Leute im Dorf. Er war viel allein unterwegs gewesen, aber Tor hatte sich seiner angenommen. Normalerweise war Karl still, jetzt aber schrillte seine Stimme über den Schulhof: Tor ist mein Freund! Ich sage es Mama, wenn du ihm etwas tust! Freddy lachte laut, stellte aber die Schläge ein. Er stand auf, wischte sich die Hände an der Hose ab, bevor er Karl eine zimperliche Rotznase nannte und den Schulhof, gefolgt von seinen Untertanen, verließ.

Es war, als müssten die Dalen-Jungs damals einfach unangenehm auffallen, und so war es offensichtlich noch immer. Oder sah sie am helllichten Tag Gespenster? Es hatte nicht den Anschein, dass Hussein das Necken als schlimm empfand. Trotzdem wollte sie die Sache im Blick behalten. Ingrid wusste nur zu gut, dass Mobber kleine Dörfer gut im Griff haben konnten, und da Hussein aus einem anderen Land stammte, gab es zusätzlich reichlich Anlass, aufmerksam zu sein.

Ingrid wusste, dass auch Mutter Borghild ein angestrengtes Verhältnis zur Familie Dalen hatte. Sie grüßte Hallgrim nicht einmal, wenn sie sich im Dorf begegneten, obwohl sie sich von Kindesbeinen an kennen mussten. Es sah Borghild überhaupt nicht ähnlich, unhöf‌lich zu sein, also musste es dafür einen Grund geben. Waren sie schon zu Schulzeiten nicht miteinander klargekommen, oder steckte etwas anderes dahinter? Vor langer Zeit einmal hatte Ingrid die Großmutter danach gefragt, jedoch keine klare Antwort erhalten. Mutter Borghild hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, es sei besser, sich von manchen Menschen einfach fernzuhalten. Hallgrim Dalen und seine Söhne hatten den Ruf, in Geschäftsangelegenheiten schlau zu sein. Manchmal vielleicht ein bisschen zu schlau. Und dass sie sich nicht scheuten, Menschen zu Verträgen zu drängen, die immer zum Vorteil der Familie Dalen ausf‌ielen.

»Er hat gesagt, ich sei gut darin, Bären zu schießen«, sagte Hussein.

Ingrid sah ihn verwirrt an, bevor sie verstand, was er meinte.

»Das war seltsam«, fügte Hussein hinzu. »Der einzige Bär, dem ich bisher begegnet bin, ist Bjørnar, und der wurde erschossen, lange, bevor ich ihn kennengelernt habe.«

Ingrid hätte Hussein erklären können, dass »Bären schießen« eine Umschreibung dafür war, beim Skifahren hinzufallen, aber das würde er noch früh genug erfahren.

»Du, Hussein«, sagte sie. »Hat Speedy oben auf dem Dachboden Verwandte?«

Hussein warf ihr mit seinen großen, dunklen Augen rasch einen Blick zu, bevor er sich abwandte. Er antwortete nicht sofort, sondern konzentrierte sich auf die Schnitzereien auf der Lehne der Bank.

»Alfred und ich haben in einem Mauseloch nämlich Käsebällchen gefunden«, sagte Ingrid. »Und auf dem Boden Kekskrümel. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht weißt, wie die dort hingekommen sein könnten?«

»Die kleinen Verwandten hatten auch Hunger«, entgegnete Hussein. »Denen, die hungrig sind, muss man zu essen geben.«

Nachdem die Überraschung in Sachen »Schimmel« einigermaßen verdaut war, hatte Ingrid sowohl die Wolldecken in der Ecke als auch die Essensreste auf dem Boden in Augenschein genommen. Die Käsebällchen waren in ein kleines Loch gestopft worden, sodass es ausgesehen hatte, als würden sie aus der Wand wachsen. Das braune Pulver hatte sich bei näherer Betrachtung als Krümel erwiesen. Nicht als die befürchteten Schimmelsporen. Und zwischen den Decken hatte sie einen Comic und eine halbe Packung Schokoladenkekse gefunden.

»Ist das deine geheime Höhle, die wir dort oben gefunden haben, Hussein?«, fragte sie und nahm seine Hand. Er lächelte sie zögerlich an.

»Weißt du, das ist vollkommen in Ordnung«, sagte Ingrid. »Du kannst gern hoch auf den Dachboden gehen, wenn du Zeit für dich brauchst. Auch wenn es dort oben schrecklich kalt ist. Aber du musst mir versprechen, nicht mehr die Mäuse zu füttern.«

Hussein nickte zaghaft und nicht ganz überzeugend.

Ingrid fuhr fort: »Und das Nächste, was ich dir sagen muss, ist noch wichtiger. Ich habe dort oben nämlich auch eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer gefunden. Die darfst du NICHT verwenden! Wir werden dir eine Taschenlampe besorgen. Kerzen sind wirklich gefährlich, verstehst du. Stell dir vor, das ganze Hotel würde abbrennen!«

Erschrocken sah Hussein sie an: »Entschuldigung, Tante Ingrid! Ich will das Hotel nicht abbrennen!«

Ingrid sah, dass er kurz davor war zu weinen, und bereute den strengen Ton. Zudem erweichte es ihr Herz, wenn er sie Tante Ingrid nannte. Schließlich war sie nicht seine Tante, betrachtete es jedoch als eine Liebeserklärung. Sie legte einen Arm um Hussein, der sein Gesicht gegen ihre Schulter presste.

So saßen sie da, bis Maja in die Küche kam und mit ungeheurer Energie Gefäße und Lebensmittel hervorholte. Ab und an warf sie einen Blick auf den Boden unter dem Herd, so als bereite sie sich darauf vor, jeden Nager anzugreifen, der sich dort hervorwagen mochte.

»Wir hätten die Jungen von Monsine behalten sollen«, sagte Maja zu Ingrid. »Es ist, wie meine Großmutter gesagt hat: Hält man keine Katze, dann hält man Mäuse.«

*

Ingrid nahm ein Smørbukk-Karamell aus der Schale auf dem Schreibtisch und steckte es in den Mund, während der Computer mit einer kleinen Fanfare hochfuhr. Obwohl Ingrid dieses Geräusch täglich hörte, bereitete es ihr noch immer ein gewisses Unbehagen. Monatelang waren für sie Computer und Handy mit sozialen Medien, unerwünschter Aufmerksamkeit und schmerzlichen Erinnerungen verbunden gewesen. Die Erfahrung des vergangenen Jahres hatte ihr gezeigt, dass Menschen unbegrenzt Spekulationen und Gerüchte über Personen in die Welt setzen konnten, die sie nicht einmal kannten.

Promibergsteiger in Todesunglück verwickelt. Kritik an Kletterern nach Todeslawine. Warnungen ignoriert. Unklar, ob verunglückter Bergsteiger aus dem Lawinengebiet geborgen werden kann. Verlor engen Freund – und die Liebe. Spekulationen über Trennung. Die Medien waren indiskret gewesen, und die Kommentarfelder noch schlimmer. Allein der Gedanke daran löste bei Ingrid körperliche Reaktionen aus, sie spürte, wie ihr Puls stieg und die Übelkeit einsetzte. Sie hatte gelernt, welche Internetseiten sie meiden musste und hatte die Nutzung sozialer Medien auf ein Minimum reduziert, um nicht wieder und wieder in dieses schwarze Loch zu fallen.

Ein internetfreier Alltag war jedoch keine Option, und sie war gezwungen, Messenger und Snapchat zu verwenden, die bevorzugten Kommunikationskanäle ihres Freundes Vegard. Vegard Vang war durch die dunkelste Zeit für sie da gewesen, und war es noch immer.

Vegard und Ingrid hatten sich vor vielen Jahren in einem Hotel in den Alpen kennengelernt und waren unmittelbar beste Freunde geworden. Vegard hatte damals für eine Eventagentur gearbeitet, die eine große Konferenz für Führungskräfte aus der Wirtschaft veranstaltete, auf der Ingrid einen Inspirationsvortrag halten sollte. Sie mochte solche Aufträge nicht besonders, weil diese Konferenzen oft voll von aufgeblasenen Wichtigtuern waren, allerdings war dieser richtig gut bezahlt gewesen, weshalb sie trotzdem zugesagt hatte.

Vegard hatte sich von den anderen Konferenzteilnehmern abgehoben. Dass seine legere Kleidung teuer und modern war, hatte sie erst später begriffen. Er hatte zerzauste dunkelblonde Haare, blaue Augen, eine Stupsnase und ein ansteckendes Lächeln. Außerdem hatte er etwas Lebhaftes und charmant Jungenhaftes an sich. Im Anschluss an die Konferenz verbrachten sie zusammen einen heiteren Abend an der Hotelbar. Anfangs hatte sie geglaubt, Vegard würde versuchen, sie zu verführen, in kürzester Zeit begriff sie jedoch, dass er niemals auf diese Weise an ihr interessiert sein würde.

Du bist die Schwester, von der ich nicht wusste, dass ich sie vermisse!, lachte Vegard, als sie sich nach der Konferenz mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten. Ich habe zwar bereits eine Schwester. Aber du bist besser!

Da hatte auch sie lachen müssen. Und ja, wie gerne hätte sie Vegard zum Bruder gehabt. Sie war ohne Geschwister aufgewachsen, und so war es ein Glück, als Erwachsene einen Bruder zu f‌inden. Seither sahen sie sich, sooft es nur möglich war. Vegard hatte gesagt, sie könne immer bei ihm abstürzen, wenn sie in Oslo war. Konnten sie sich nicht treffen, schickten sie sich Nachrichten oder telefonierten miteinander. Sie hatten einander sowohl in beruf‌lichen Fragen als auch bei privaten Angelegenheiten unterstützt. Als Ingrid mit Preben Wexelsen zusammenkam, hatte sie schnell bemerkt, dass die beiden sich unsympathisch waren. Obwohl Preben schnell verstand, dass Ingrids Freund auf der romantischen Ebene keine Konkurrenz darstellte, war das Verhältnis zwischen den zwei Männern niemals herzlich geworden. Preben und Vegard hatten einander toleriert, mehr jedoch nicht. Für Ingrid war das schwer gewesen, weil ihr beide so viel bedeutet hatten. Allerdings war es die Freundschaft zu Vegard, die sich als am strapazierfähigsten erwiesen hatte.

Sie waren verschieden, sie und Vegard. Sie interessierte sich für Aktivitäten in der freien Natur, er für das urbane Leben. Wo sie praktische Wanderkleidung bevorzugte, folgte er in den sozialen Medien den neuesten Trends. Aber sie teilten etwas Tieferliegendes, etwas, das Vertraulichkeit, Wohlwollen und Vertrauen schuf. Nach und nach wusste Vegard alles über sie. Auch das Allerschwierigste hatte sie mit ihm geteilt. Das, was kein anderer wusste. Mit einem Freund wie Vegard an ihrer Seite hatte sie das Gefühl, alles schaffen zu können.

Und als Vegard einen Partner fand, war das etwas vollkommen anderes als damals, als Ingrid und Preben ein Paar wurden. Ingrid hatte David Wong sofort ins Herz geschlossen. Und das war in der Tat ein wenig überraschend, denn als Vegard erzählt hatte, dass er in einer Bar in Oslo einen wohlhabenden Investor mit norwegisch-chinesischen Wurzeln kennengelernt hatte und dass sie nunmehr ein Paar waren, war sie alles andere als sicher gewesen, ob das eine gute Idee war. Doch schon bei ihrer ersten Begegnung war Ingrid von der Beziehung überzeugt. Da lag etwas in Davids Haltung, seiner Stimme und der Wärme in seinen hübschen mandelförmigen Augen, wenn er Vegard ansah.

Obwohl sie David noch nicht häufig begegnet war – er wurde stets von seinen Geschäften in Anspruch genommen – hatte er im Hintergrund geholfen und viele gute Ratschläge gehabt, sowohl in praktischen als auch in f‌inanziellen Dingen. Bei David schienen Lebensweisheit und Ökonomie miteinander zu verschmelzen. Vegard nannte ihn manchmal liebevoll »Kauz«. Während David Vegard als »mein Eichhörnchen« bezeichnete. Ein bisschen albern, aber ein treffender Kosename, fand Ingrid: Vegard war sozial und gescheit und gleichzeitig f‌leißig und gut im Planen.

Ohne den Zuspruch von ihren Freunden hätte Ingrid es nicht gewagt, sich auf das Hotel einzulassen. Go for it!, hatte Vegard in charakteristischer Weise gesagt. Ich werde dir helfen! Und geholfen hatte er wirklich. Inspirator, Stratege und Medienberater – Vegard Vang war nicht mit Gold aufzuwiegen. Ja, erst recht nicht, wenn man sein bescheidenes Gewicht in Betracht zog. Zusammen mit David hatte er sich sowohl Ingrids private Finanzen als auch die Bilanzen des Hotels der letzten Jahre angesehen und Ingrid und Mutter Borghild dabei geholfen, einen Plan für die Ref‌inanzierung und den weiteren Betrieb zu erstellen. Das Paar hatte auch angeboten, selbst in das Hotel zu investieren, aus Furcht vor dem Gefühl, Almosen anzunehmen, hatte Ingrid jedoch dankend abgelehnt. Die beste Hilfe von Vegard und David, oder Vang & Wong, wie sie in geschäftlichen Belangen hießen, wäre so oder so nicht direkte f‌inanzielle Hilfe gewesen, sondern Unterstützung dabei, das Hotel für die Zukunft lebensfähig zu machen. Ein Neuanfang!

Soziale Medien, für die sich Vegard so interessierte, spielten für den Erfolg eine zentrale Rolle. Sie brauchte sie für das Marketing des Hotels, und faktisch auch der Marke Ingrid Berg, wenn man sie als solche betrachten wollte. Vegard hatte ihr bei der Umsetzung geholfen, und das Interesse am Himmelfjell Hotel war beträchtlich gestiegen.

In diesem Augenblick leuchtete auf dem Display eine Nachricht auf. Wenn man von der Sonne spricht – es war Vegard. Fantastische Neuigkeiten!, schrieb er. Ruf mich an!