Lelani
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich das Knarren der Dielen höre. Ich halte den Atem an. Eine unheilvolle Vorahnung überkommt mich, als ich höre, wie sich jemand meiner Zimmertür nähert. „Bist du bereit?“, fragt Derrick.
Ich atme tief durch und nicke auf die Frage meines Bruders. „Ich bin bereit.“
„Komm schon. Wir haben nicht viel Zeit.“ Ein Hauch von Zigarettenrauch weht mir entgegen, als Derrick mir den Koffer aus der Hand nimmt.
„Wo ist Tony?“, frage ich, bevor ich im Stillen die Schritte zähle, die ich von meinem Zimmer bis zur ersten Stufe der Treppe brauche. Tony ist einer der Männer meines Onkels und normalerweise derjenige, der auf mich aufpassen soll.
„Er ist draußen am Poolhaus und lässt sich von Carmen einen blasen.“
Ich ignoriere die widerwärtige Information, die Derrick von sich gibt.
„Wir haben nicht viel Zeit. Ich will vor dem Morgen zurück sein. Wenn jemand herausfindet, dass ich dir helfe, bin ich geliefert.“
Die Alarmanlage piept, während Derrick den Code eingibt, und ein Schwall warmer Las-Vegas-Luft schlägt mir ins Gesicht, als sich die Tür öffnet. Mein Herz beginnt wild zu klopfen, als ich hinter meinem Bruder zu seinem Auto laufe. Er packt mich genau in dem Moment am Oberarm, als ich höre, wie sich die Autotür öffnet. Ohne ein Wort zu sagen, klettere ich auf den Beifahrersitz. Meine Handflächen beginnen zu schwitzen, als der Motor anspringt und das Auto vorwärts schlingert. Ich warte darauf, dass uns jemand anhält oder dass mein Bruder seine Meinung ändert. Er hat nicht gelogen, als er sagte, dass er Ärger bekommen würde, wenn die Familie ihn dabei erwischt, wie er mir zur Flucht verhilft.
Vor ein paar Monaten habe ich meinen Bruder gebeten, mir dabei zu helfen, Las Vegas zu verlassen und dem Leben zu entkommen, das mein Onkel für mich vorgesehen hat. Ein Leben, das ich nicht will. Mein Onkel bestimmte bisher über mein Schicksal. Seine Entscheidung, mich ohne meine Zustimmung zu verheiraten, hat mich letztlich in meine jetzige Situation gebracht.
Ich bin mein ganzes Leben lang behütet worden und weiß nicht viel über die Welt da draußen, aber ich bin bereit, dazuzulernen, wenn ich dadurch die Freiheit erlange, so zu leben, wie ich es will. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, aber ich bin entschlossen, stark zu bleiben und es herauszufinden. „Nochmals vielen Dank, dass du mir geholfen hast. Das bedeutet mir sehr viel.“ Ich warte auf eine Antwort, aber alles, was ich höre, ist das Geräusch, mit dem er einen Zug von seiner Zigarette nimmt. „Ich werde dich vermissen. Versprichst du trotzdem, mich in ein paar Tagen anzurufen und mir zu sagen, wie es dir geht? Ich will sicherstellen, dass niemand herausfindet, dass du mir geholfen hast und dass es dir gut geht.“ Derrick hat mir von einigen Freunden in Arizona erzählt, die sich bereit erklärt haben, mich bei sich wohnen zu lassen, bis sich der Wirbel gelegt hat. Der Plan ist, seine Freunde eine Stunde außerhalb der Stadt zu treffen. Als das Auto kurz vor der Ankunft stehen bleibt, frage ich: „Warum halten wir an?“ Noch bevor er antworten kann, öffnet sich die Beifahrertür, und ich schrecke zusammen. Mein erster Gedanke ist, dass Tony oder einer der Männer meines Onkels uns erwischt haben, aber es ist nicht Tonys Stimme, die ich vernehme.
„Du bist spät dran, Derrick.“
„Halt die Klappe, Bobby. Ich bin doch hier, oder nicht? Jetzt lass uns das hinter uns bringen.“
„Derrick?“ Ich bin verwirrt. „Derrick, wer ist Bobby? Du hast mir gesagt, dein Freund heißt Scott und er würde mich mit seiner Frau Melinda abholen.“
„Steig einfach aus dem verdammten Auto aus, Lelani.“ Die grimmige Stimme meines Bruders lässt mich hochfahren und ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit. Ich spüre, wie jemand in der geöffneten Autotür auftaucht. Ich habe gelernt, meinem Bauchgefühl zu vertrauen. Ich bin zwar blind, aber mein Instinkt sagt mir, dass etwas nicht stimmt.
„Ich habe es mir anders überlegt, Derrick. Bring mich nach Hause.“ Ich bleibe wie angewurzelt auf dem Beifahrersitz sitzen und weigere mich, mich zu bewegen.
„Zu spät.“ Eine Hand umklammert meinen Arm und zerrt mich aus dem Wagen meines Bruders. Da ich keine Zeit habe, mein Gleichgewicht wiederzufinden, falle ich zu Boden und lande auf den Knien. Der Kies knirscht unter meinen Handflächen und zerfetzt meine Haut, sodass ich aufschreie. „Lasst mich los! Was machst du da?“ Ich versuche, mich zu befreien und wegzukriechen, aber meine Füße verfangen sich in dem Stoff meines knöchellangen Rocks.
„Verdammter Mist“, spuckt mein Bruder und schlägt mir ins Gesicht. „Du warst immer eine einzige Nervensäge. Ich bin froh, dass ich dich jetzt endlich los bin.“
„Mich los bist? Was?“ Tränen laufen mir über die Wangen, als ich von Angst und Panik übermannt werde. „Was ist los?“
„Du machst alles kaputt, Lelani. Glaubst du, ich lasse mir von dir nehmen, was mir rechtmäßig gehört?“
„Ich will überhaupt nichts, Derrick.“
„Halt die Klappe, Lelani. Ich habe diese Unschuldsmasche so was von satt. Wenn du nicht wärst, würden unsere Eltern noch leben, und ich hätte alles, was mir zusteht.“
Ich erschaudere bei den Worten meines Bruders. So hat er noch nie mit mir gesprochen. „Das meinst du nicht ernst. Woher kommt das alles?“
„Blind und dumm bist du, Schwesterherz. Eine gottverdammte Platzverschwendung und eine Belastung für die Familie“, faucht mein Bruder, als wäre ich nichts weiter als Dreck unter seinen Schuhen.
„Derrick, bitte“, flehe ich. „Ich weiß nicht, was los ist, aber lass mich gehen. Ich verspreche, dass ich verschwinde und nie mehr zurückkomme.“ Ich strecke die Hand vor mir aus und greife nach seinem Hemd, während mir unkontrolliert Tränen übers Gesicht laufen.
„Oh, du wirst tatsächlich verschwinden.“ Er schlägt meine Hand weg und die Steine knirschen unter seinen Füßen. „Und ich werde dafür sorgen, dass dich niemand jemals findet.“
Das sind die letzten Worte, die ich meinen Bruder sprechen höre, bevor mich etwas Scharfes in den Nacken sticht.
Einige Zeit später wache ich auf, orientierungslos, mir ist übel, und sobald ich mich aufsetze, rebelliert mein Magen. Ich drehe mich um und beginne zu husten. Nachdem ich mein flaues Gefühl im Magen durch ein paar tiefe Atemzüge unter Kontrolle gebracht habe, beginnt die Erinnerung daran, wie ich hierhergekommen bin, meinen Körper mit Angst zu durchfluten, und ich gerate in Panik. Ich stehe auf, strecke die Hände vor mir aus und mache einen zögerlichen Schritt, während ich versuche, nicht zu hyperventilieren. „Hallo?“, rufe ich und mache einen weiteren Schritt auf wackeligen Beinen. Die Übelkeit kommt in Wellen und mein Körper fühlt sich nicht wie mein eigener an. Gerade als ich noch weiter nach vorne trete, berühren meine Hände eine kühle Metallwand. Ich taste umher und versuche, meine Umgebung zu erspüren, aber alles, was ich ertaste, sind Stahlwände, die mich umgeben und mich gefangen halten. Bald überkommt mich Panik und meine Atmung wird unregelmäßig. Ich gebe mein Bestes, um mich zu beherrschen, und schlucke die Galle hinunter, die mir im Hals aufzusteigen droht. „Hilfe!“ Ich balle meine Hände zu Fäusten und hämmere an die Wand. „Ist da jemand? Helft mir bitte!“ Doch mein Flehen bleibt unbeantwortet. Das Einzige, was ich höre, ist mein schweres Atmen und meine Schreie, die an den Gefängniswänden widerhallen.
Ich drehe mich, lasse mich auf den Hintern fallen, ziehe die Beine an die Brust und umklammere meinen Körper. Mit der Zeit bekomme ich meine Angst unter Kontrolle. Meine Ohren registrieren, eine Art Musik. Da ich nicht bereit bin, aufzugeben, stehe ich auf und versuche erneut herauszufinden, wo oder in was ich mich befinde.
In den nächsten Minuten zähle ich acht Schritte von Wand zu Wand. Ich bin nicht in einem Haus. Dafür ist es zu klein. Vielleicht ist es eine Art Lagerraum?
Als Nächstes höre ich zwei gedämpfte Männerstimmen, gefolgt von dem Geräusch von Metall, das gegen Metall schabt, dann ein plötzlicher Luftzug. Ich bleibe wie erstarrt stehen, als ein Mann spricht. „Sieh mal, wer aufgestanden ist.“
„Wo bin ich?“, frage ich.
„Fragen zu stellen, bringt dich nicht weiter, Mädchen. Genauso wenig wie all das verdammte Geklopfe, das du veranstaltest.“
„Bitte, das können Sie nicht tun. Lassen Sie mich frei.“ Ich stürme in die Richtung, aus der die Stimme des Mannes ertönt. Ich komme nicht weit, bevor eine Hand gegen meine Brust drückt und mich nach hinten schiebt, sodass ich auf meinen Hintern falle.
„Du gehst nirgendwo hin, Schlampe.“ Ein anderer Mann ist nun ganz nah bei mir. Sein ranziger Atem strömt mir ins Gesicht, als er mich an den Haaren packt und meinen Kopf nach hinten reißt. „Wenn du Dummheiten machst, bist du tot.“ Seine Warnung lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und schweige. Zufrieden über meine ausbleibende Reaktion, lässt der Typ los. Als er sich zurückzieht, atme ich erleichtert auf.
„Verladet sie.“
Ich lausche auf das Scharren der Füße, gefolgt vom Zuschlagen einer Tür. Um mich herum herrscht Stille. „Hallo? Ist da jemand?“ Ich bekomme keine Antwort, aber ich weiß, dass ich nicht mehr allein bin. Ich spüre eine Präsenz. Auf Händen und Knien krabbele ich nach links und zucke zusammen, als ich einen Schuh berühre. Wieder strecke ich meine Hand aus und taste mich an einem Bein und dem Rücken der Person hinauf, bis ich eine Menge langer Haare erreiche. Ich atme scharf ein und schüttle die Frau. „Hey. Können Sie mich hören?“ Sie antwortet nicht, aber ein Stöhnen erklingt direkt neben ihr. Als ich nach ihr greife, ertaste ich einen weiteren Körper. Nach eingehender Untersuchung stelle ich fest, dass es eine zweite Frau ist. Beide sind lebendig. „Oh, Gott. Was soll ich tun?“ Ich stoße einen Schluchzer aus und fühle mich hilflos. Ich möchte schreien, verzweifelt um meine Freilassung flehen, doch dann fällt mir die Warnung des Mannes von eben wieder ein. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hier zu sitzen und zu warten, bis die beiden Frauen aufwachen.
Ich kann nicht glauben, dass ich hier bin. Wie konnte mein Bruder mir das antun?
Sicher, wir stehen uns nicht so nahe, wie es ein Bruder und eine Schwester tun sollten, aber er war immer für mich da. Nicht ein einziges Mal hat er mir einen solchen Hass entgegengeschleudert wie heute Abend. Nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich gedacht, dass er mich verabscheut. Ich kann mir nicht vorstellen, warum mein Bruder mich hierhergebracht hat. Und was noch schlimmer ist, ich habe keine Ahnung, was diese Männer mit mir vorhaben.
Schweres Atmen reißt mich aus meinen Gedanken. Eine der Frauen ist erwacht. Sie wird panisch. „Hey“, flüstere ich in einem ruhigen Ton. „Du musst dich beruhigen, bevor du ohnmächtig wirst.“
„Wer bist du? Wo bin ich? Wo ist Jia?“, schreit sie und ich nehme an, dass Jia die andere Frau ist.
„Mein Name ist Lelani, und wenn deine Freundin die andere Frau ist, die mit dir hereingebracht wurde, dann liegt sie direkt neben dir. Diese Männer haben euch wahrscheinlich etwas gegeben.“
„Jia“, ruft die Frau mehrmals den Namen ihrer Freundin und versucht, sie zu wecken.
„Piper“, stöhnt die andere Frau. „Piper, ich fühle mich nicht so gut. Wo sind wir hier? Ich kann dich nicht sehen.“
Ich höre, wie Jias Stimme alarmiert anschwillt und die andere Frau, Piper, versucht, sie zu beruhigen. Einen Moment später übergibt sich eine der Frauen.
„Deine Freundin wird sich jetzt wahrscheinlich besser fühlen, nachdem sie das, was in ihrem Körper war, ausgekotzt hat“, sage ich ihr.
„Weißt du, wo wir sind, Lelani?“, fragt mich Piper.
„Nein, aber die Wände und die Tür sind aus Metall, also bin ich mir fast sicher, dass wir nicht in einem Haus sind. Und du hast gesagt, es sei dunkel und du könntest nichts sehen. Als du mit deiner Freundin gebracht wurdest, hörte sich die Tür außerdem schwer an. Ich vermute, dass wir uns in einem Metallschuppen oder einer Art Lagercontainer befinden.“
Gerade als ich Piper meine Theorie erläutert habe, öffnet sich die Tür erneut und eine Frau kreischt: „Lasst mich los!“ Gefolgt von dem unverkennbaren Geräusch von Schlägen.
„Halt’s Maul, du Schlampe“, bellt ein Mann und ich erkenne ihn als den Typen, der mich vorhin geschubst hat. Kurz darauf stoßen mehrere schluchzende Frauen zu uns.
„Zeit zum Aufbruch“, kommentiert ein Mann. „Was machen wir mit der blinden Schlampe?“ Bei seiner Frage dreht sich mir der Magen um.
„Dieses Arschloch Derrick hat gesagt, er würde uns eine Belohnung bringen.“
Sie reden über meinen Bruder.
„Er hat nicht erwähnt, dass das Mädchen blind ist. Wir werden den Boss entscheiden lassen, was er mit ihr machen will. In der Zwischenzeit möchte ich, dass du Derrick verpfeifst. Wenn der Wichser denkt, dass wir damit quitt sind, sollte er noch mal scharf nachdenken. Eine einzige Frau tilgt seine Schuld nicht.“
Es kostet mich alles, den Mund zu halten, während diese Männer über mich reden. Ihre beiläufige Konversation lässt mich vermuten, dass das Entführen von Frauen für sie zum Tagesgeschäft gehört.
Wie aus dem Nichts ergreift Piper das Wort. „Du hast keine Ahnung, was du getan hast.“ In ihrer strengen Stimme schwingt eine Warnung mit.
„Ach ja,“ sagt ein Mann in einem herablassenden Ton. „Und was willst du schon unternehmen?“
„Ich werde gar nichts unternehmen müssen, Arschloch“, fährt Piper fort.
„Was zum Teufel soll das heißen, du Miststück?“
Ich fange an, mir Sorgen um Piper zu machen, als sie sich weiter mit diesen Männern anlegt.
„Das wirst du noch früh genug herausfinden.“
Die Luft um mich herum wirkt erdrückend. Ich halte den Atem an und warte darauf, was als Nächstes passiert.
„Lass es gut sein, Boz. Die Alte will uns bloß provozieren. Wir müssen uns auf den Weg machen.“
Es vergehen einige Sekunden, bis die Tür erneut zuschlägt. „Piper?“, krächzt Jia.
„Ja?“
„Was glaubst du, was mit uns passieren wird?“
Jias Frage erzeugt einen Knoten in meiner Magengrube und die anderen Frauen wimmern.
„Meine Familie wird mich holen kommen“, sagt Piper mit Überzeugung. Die Art und Weise, wie sie das sagt, veranlasst mich, zu überlegen, wer ihre Familie wohl sein mag und wie sie uns finden könnte. Gerade als mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, heult ein Lkw-Motor auf und die Stahlböden unter mir beginnen zu vibrieren. Wir ruckeln vorwärts. In diesem Moment wird mir klar, dass wir uns in Bewegung gesetzt haben.
Ich weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind, aber es kommt mir wie Stunden vor. Meine Blase protestiert und in unserem Gefängnis ist es so heiß und schwül, dass meine Kleidung durchgeschwitzt ist. Gerade als mir die Stille zu viel wird, ertönt Pipers Stimme. „Lelani?“
„Ja?“, krächze ich.
„Der Typ, von dem die Männer gesprochen haben, Derrick. Wer ist er?“
„Derrick ist mein Bruder.“
„Dein Bruder hat dir das angetan?“, fragt Piper und ich kann die Traurigkeit in ihrer Stimme spüren.
„Ja“, murmele ich. Ich möchte glauben, dass das alles ein Irrtum ist und mein Bruder so etwas nicht mit mir machen würde. Aber egal, wie sehr ich es mir wünsche, die Wahrheit ist, dass er es getan hat.
„Mach dir keine Sorgen, Lelani. Wir werden bald hier rauskommen.“
„Warum bist du dir da so sicher?“, fragt eine der anderen Frauen.
Jia, Pipers Freundin, ist diejenige, die antwortet. „Weil Pipers knallharte Bikerfamilie uns finden wird. Stimmt’s, Piper?“
„Das werden sie. Ich weiß, dass sie es werden“, beruhigt Piper ihre Freundin. „Woher sollen sie wissen, wo sie euch finden können?“, schalte ich mich ein.
„Das werden sie einfach. Vertrau mir.“
„Ich bete, dass du Recht hast“, sage ich und meine Stimme klingt leise. Wenn es stimmt, was Piper sagt, dass ihre Familie sie irgendwie finden wird, ist das vielleicht unsere einzige Hoffnung, hier rauszukommen. Außerdem bin ich neugierig, wer diese Biker sind.
Ich bin mir nicht sicher, wann ich es geschafft habe, einzuschlafen, aber das nächste, was ich weiß, ist, dass der Truck mit einem lauten Knall zum Stehen kommt und uns aufschrecken lässt. Eine Minute später schwingt die Tür auf. Ich atme die frische Brise ein, die hereinströmt.
„Ihr habt fünf Minuten Zeit“, sagt ein Mann, gefolgt von einem krachenden Aufprall neben meinen Füßen. Ich lehne mich weiter an die Wand, ohne zu wissen, was los ist.
„Für was?“, zischt Piper.
„Um zu pissen“, entgegnet das Arschloch.
Wovon redet er eigentlich?
„Wir pinkeln nicht in einen Eimer“, knurrt Piper.
Hat dieser Mann uns einen Eimer zugeworfen, damit wir uns darin erleichtern?
„Wie du willst“, antwortet er. „Was ist mit dir?“ Eine Sekunde später spüre ich eine Hand auf meinem Oberschenkel. „Da du nichts sehen kannst, wäre ich bereit, für dich eine Ausnahme zu machen und dir zu helfen.“ Ich erschaudere bei den Worten des Widerlings und schlage seine Hand weg. Blitzschnell gibt es eine Bewegung zu meiner Linken.
„Lass deine ekligen Hände von ihr.“ Piper kommt zu meiner Verteidigung.
„Hör mal zu, du kleine Hure!“
„Ich bin keine Hure!“, schreit Piper.
„Du wirst eine sein. Vielleicht bin ich sogar derjenige, der dich einweiht.“ Ich schnappe nach Luft bei der plumpen Drohung, die aus dem Mund des Mannes kommt. „Nur über meine Leiche, Arschloch“, sagt Piper mit Überzeugung, und plötzlich brüllt der Mann, der sie verhöhnt hat. „Ahh! Du verdammte Schlampe!“ Der Mann hört sich an, als hätte er Schmerzen und ich habe Mühe, bei dem ganzen Trubel den Überblick zu behalten, bis ein Körper in meinem Schoß landet. Ich weiß sofort, dass es Piper ist. Ich schlinge meine Arme um sie und tue mein Bestes, um sie zu schützen.
„Das nächste Mal, wenn du so eine Nummer abziehst, bringe ich deine Freundin um.“ Piper, die ich immer noch festhalte, erstarrt in meinen Armen angesichts der Morddrohung gegen eine von uns Gefangenen. Mit diesen Worten fällt die Tür wieder zu.
„Was ist gerade passiert?“
„Ich habe dem Mistkerl, der dich angefasst hat, eine verpasst“, antwortet Piper.
***
Eine lange Zeit vergeht und dann hält der Lastwagen an. Ich warte mit angehaltenem Atem darauf, dass sich die Tür wieder öffnet, aber das tut sie nicht. Wir Frauen sind alle still, während wir dem Zuschlagen der Türen und den Gesprächen der Männer lauschen. „Glaubst du immer noch, dass deine Familie uns finden wird?“, frage ich Piper und meine Hoffnung schwindet mit jeder Sekunde, die verstreicht.
„Ich weiß, dass sie kommen.“ Piper ergreift meine Hand und drückt sie. „Man legt sich nicht mit den Kings of Retribution an. Diese Arschlöcher werden ein böses Erwachen erleben. Ich wette, sie sind schon hier. Ich kann es spüren.“ In diesem Moment bricht die Hölle los und hinter den Stahlwänden, die uns gefangen halten, ertönen Schüsse.
„Ich hab’s euch gesagt“, verkündet Piper.