Lelani
Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, schließe die Augen und stelle mir vor, wie schön der Himmel sein muss, wenn sich der Beginn eines neuen Tages hinter den Bergen von Montana erhebt. Ich stelle mir vor, wie er in leuchtendem Orange und einem wunderschönen Rosaton erstrahlt und das Versprechen eines neuen Tages in sich trägt. Als ich ein Kind war, nannte ich sie Flamingo-Wolken, denn die Farbe erinnerte mich an die pinkfarbenen Vögel. Meine Mutter sagte mir, ich solle mir nie bei einer Sternschnuppe, sondern immer bei einem Sonnenaufgang etwas wünschen. Ein Sonnenaufgang ist der Beginn eines neuen Tages und es liegt an uns, unsere Hoffnungen und Träume wahr werden zu lassen. Sie hat mir immer gesagt, wenn ich mir etwas im Leben wünsche, dann liegt es an mir, es zu verwirklichen, und der Sonnenaufgang erinnert uns daran.
Ich habe schon lange nicht mehr über die weisen Worte meiner Mutter nachgedacht, aber heute spüre ich sie hier bei mir. Ich spüre sie in der Wärme auf meinem Gesicht, und obwohl ich sie nicht sehen kann, weiß ich, dass sie in den Flamingo-Wolken schwebt und mich ermutigt, nicht aufzugeben.
Ich lag letzte Nacht wach, lange nachdem Austin eingeschlafen war, und meine Gedanken rasten. Ich spielte die Ereignisse immer wieder in meinem Kopf durch. Bald schlichen sich Schuldgefühle ein und ich konnte nicht umhin, daran zu denken, dass alles mein Fehler war. Meine Anwesenheit hier hat die Menschen, die mir wichtig sind, in Gefahr gebracht. Lisa liegt im Krankenhaus, nachdem sie beinahe ums Leben gekommen wäre. Austin wurde verletzt, als eine Kugel seinen Arm streifte. Wenn ich an all die unschuldigen Kinder denke, die hätten zu Schaden kommen oder, Gott bewahre, getötet werden können, dreht sich mir der Magen um. Und das alles nur wegen mir.
„Ich weiß, was du denkst, Darling, und ich werde dir jetzt sagen, dass du deinen hübschen kleinen Kopf nicht in diese Richtung schweifen lassen sollst.“
Der Klang von Quinns Stimme reißt mich aus meinen wirren Gedanken und lässt mich zusammenzucken.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Ist schon okay.“ Ich lächle. „Ich wusste nicht, dass du schon wach bist.“
„Ich bin immer früh wach. Ich mag die Ruhe vor dem Sturm“, gibt er zurück, dann fährt er fort: „Ich muss sagen, ich mag es nicht, hierher zu kommen und diesen Blick auf deinem Gesicht zu sehen, Süße.“
„Welchen Blick?“ Ich stelle mich dumm.
„Einen Schwindler kann man nicht verarschen, Schätzchen. Da bin ich der Größte hier, das werden dir alle bestätigen“, kichert er. Ich seufze und schüttle den Kopf, sage aber nichts. Quinn hat recht. „Gestern war ziemlich beschissen, das kann ich nicht leugnen. Aber ich möchte, dass du weißt, dass es nicht deine Schuld ist.“
„Ist es das nicht?“ Meine Worte klingen ein wenig zu hart. „Wenn ich nicht wäre, samt meines ganzen Ballasts, wäre das gestern nicht passiert. Kinder, Quinn. Deine Tochter.“ Ich verschlucke mich an einem Schluchzen und der Kloß in meinem Hals lässt mich meinen Satz nicht beenden.
„Du hast das Leben meiner Tochter gerettet, Lelani.“ Diese Rührung habe ich bisher noch nie bei dem lebenslustigen Mann erlebt und sie lässt mich innehalten. „Ich habe gesehen, was du gestern getan hast, Süße. Du hast dich über mein kleines Mädchen geworfen und ihr Leben mit deinem eigenen beschützt. Du warst bereit, dich zu opfern, um Lydia zu retten.“ Quinn rückt näher an mich heran und kniet sich vor mir auf den Boden. „Meine Familie und mein Club bedeuten mir alles, aber meine Tochter“, Quinn hält inne, als versuche er, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Meine Tochter ist die Luft, die ich atme. Ohne sie wäre ich tot. Wegen deines gestrigen Handelns werde ich für immer in deiner Schuld stehen, Lelani.“
„Ich habe getan, was jeder getan hätte, Quinn. Ich würde es wieder tun. Ihr alle bedeutet mir inzwischen sehr viel.“
„Diese Antwort ist der Grund, warum der Club hinter dir steht, Süße. Du bist nicht verantwortlich für das, was passiert ist. Also hör auf, dir den Kopf mit diesem Scheiß zu zerbrechen“, beendet er.
Ich nicke und atme zitternd ein. „Ich werde es versuchen.“
Ich höre das Öffnen und Schließen der Glasschiebetür. „Alles in Ordnung hier draußen, Bruder?“, fragt Austin. King, der zu meinen Füßen liegt, bewegt sich beim Klang der Stimme seines Herrchens.
„Uns geht es gut, Bruder. Ich wollte nur eine Tasse Kaffee mit deinem Mädchen trinken, bevor Em und Lydia aufwachen.“
„Schon gut, Mann.“ Ich spüre, dass Austin sich neben mich setzt. „Guten Morgen, Mäuschen.“ Seine Lippen berühren meine mit einem sanften Kuss.
„Guten Morgen“, erwidere ich.
„Ich mache meinen Mädels Frühstück, bevor wir uns auf den Weg machen. Em und die anderen Frauen wollen heute ins Krankenhaus fahren, um Lisa zu besuchen“, bemerkt Quinn.
„Ich würde auch gerne mitkommen, wenn das okay ist?“, frage ich.
Austin fasst mir in den Nacken. „Ich nehme dich mit, Baby. Quinn, um wie viel Uhr fahren wir los?“
„In einer Stunde. Blake und Grey bleiben zurück, zusammen mit Rain und Ember, die auf die Kinder aufpassen werden. Sam und Sofia haben sich bereit erklärt, auch zu bleiben, aber Prez will nicht lange fort sein.“
Austin stößt einen Seufzer aus, Müdigkeit schwingt darin mit. „In Ordnung, Mann. Wir halten uns bereit.“
Als ich höre, wie Quinn zurück ins Clubhaus geht, stehe ich auf. „Babe.“ Austin ergreift meine Hand und stoppt mich in meiner plötzlichen Eile, zu gehen. „Bist du okay? Warum hast du mich nicht geweckt, als du aufgestanden bist?“
„Ich war schon eine Weile wach. Du warst müde und ich wollte dich nicht stören.“
„Du störst mich nie, Mäuschen. Wenn du nicht schlafen kannst, möchte ich, dass du mich weckst. Wir hätten reden können oder ich hätte dich auf eine andere Art und Weise zum Schlafen gebracht,“ Austins Stimme wird leiser und Erinnerungen daran, wie er mich befriedigt, tauchen in meinem Kopf auf.
„Das werde ich mir für das nächste Mal merken.“ Ich lächle, aber es erreicht nicht ganz meine Augen, und ich merke, dass Austin weiter nachhaken will, aber zum Glück tut er das nicht. „Ich werde mich jetzt fertig machen.“
Zögernd lässt Austin meine Hand los. „Na gut. Ich treffe dich gleich oben. Ich muss erst noch etwas mit Prez besprechen.“
Ich tue mein Bestes, um mich an die Worte zu erinnern, die Quinn vorhin zu mir gesagt hat, als ich anderthalb Stunden später das Krankenhaus betrete.
„Mädels“, ruft Lisa mit schwacher, aber fröhlicher Stimme, als wir alle in ihr Krankenzimmer kommen. „Ihr hättet nicht herkommen müssen, um mich zu sehen. Ich bin im Handumdrehen hier raus und wieder zu Hause.“
„Nichts hätte uns abhalten können“, sagt Bella sichtlich bewegt. „Ja“, fügt Alba hinzu. „Wenn es einer von uns so ergangen wäre, würden dich nicht einmal zehn wilde Pferde aufhalten.“
Lisa stößt ein kleines Kichern aus. „Verdammt richtig. Ich liebe meine Mädels. Auch dich, Liebes.“ Bei ihren Worten drückt Austin meine Hand und ich merke, dass Lisa mit mir spricht. Wie aus dem Nichts breche ich in Tränen aus. Da liegt diese reizende Frau in einem Krankenhausbett, nachdem sie angeschossen wurde, weiß, dass es meine Schuld ist, und nennt mich trotzdem eines ihrer Mädels. „Oh, Kind. Komm her, komm her“, befiehlt Lisa in sanftem Ton.
Austin führt mich zum Bett, wo Lisa meinen Kopf an ihre Schulter zieht und mit ihren Fingern durch mein Haar streicht.
„Es tut mir leid, dass dir das passiert ist“, weine ich.
„Warum tut es dir leid, hübsches Mädchen? Du hast mich nicht hierher gebracht.“ „Nein, aber mein Schlamassel hat es getan.“
„Kind.“ Lisa hebt mein Gesicht von ihrer Schulter und trocknet mit ihrer Hand meine Tränen. „Du weißt das vielleicht nicht, aber jede Person in diesem Raum musste mit ähnlichen Umständen fertig werden. Wir alle wissen, wie es ist, mit dem Bösen konfrontiert zu werden, das uns zugrunde richten will. Aber weißt du was?“
„Was?“, frage ich.
„Wir halten zusammen und tun alles, was nötig ist, um die zu besiegen, die versuchen, uns zu vernichten. Unsere Männer werden alles tun, was für unsere Sicherheit erforderlich ist. Das ist es, was eine Familie tut. Du bist ein Teil dieser Familie, Lelani. Teil dieser Familie zu sein bedeutet, dass jeder dieser Männer und Frauen für dich durch die Hölle und zurück gehen würde.“ Lisa wischt eine weitere Träne weg. „Jetzt wird nicht mehr geweint, zumindest nicht bei mir. Hast du verstanden?“
Ich nicke. „Verstanden.“
Nach einem kurzen, aber emotionalen Besuch bei Lisa kam der Arzt herein und schickte alle hinaus, damit sie sich ausruhen konnte. Wir befinden uns gerade im Wartezimmer am Ende des Flurs und warten darauf, dass die Jungs das Gespräch mit Bennett beenden. Vor einer Minute haben Bella, Alba, Mila und Grace etwas von einem Kaffee erwähnt. Da alle abgelenkt sind, beschließe ich, mich in die nahe gelegene Toilette zu schleichen. Ich habe gehört, wie eine andere Frau eine Krankenschwester gefragt hat, wo die Damentoilette ist, und beschließe, die Gelegenheit zu ergreifen und hoffe, dass mein Verschwinden nicht bemerkt wird. Sobald ich es in die Kabine geschafft habe, hole ich das Handy, das Austin mir vor ein paar Tagen gegeben hat und wähle eine Nummer, die ich auswendig kenne, von der ich aber gehofft hatte, sie nie wieder benutzen zu müssen.
Ich halte das Telefon an mein Ohr und warte nervös darauf, dass die Person am anderen Ende abnimmt. „Hallo“, ist die Begrüßung, die in den Hörer gebellt wird.
Gerade als ich den Mund öffnen will, wird die Tür zur Damentoilette aufgerissen und ich lege panisch auf.
„Lelani!“ Austins tiefe Baritonstimme hallt von den Wänden wider.
„Ja?“, rufe ich und spüle zur Sicherheit die Toilette, bevor ich die Kabine verlasse.
„Babe, du kannst doch nicht einfach so verschwinden.“
Ich taste mich zum Waschbecken vor und beginne, mir die Hände zu waschen. „Ich musste auf die Toilette“, lüge ich, drehe den Wasserhahn zu, suche etwas zum Händetrocknen und nehme mir ein Papierhandtuch aus dem Spender.
„Lelani, du kannst doch nicht einfach so allein auf die Toilette gehen, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Der Scheiß, mit dem der Club momentan zu tun hat, ist nicht gerade rosig. Wenn du allein herumläufst, bringst du dich in Gefahr.“
Bei der Erwähnung, dass sich der Club um meinen „Scheiß“ kümmern muss, wie Austin es ausdrückt, presse ich die Lippen zusammen und wende mich von seinen wachsamen Augen ab.
„Baby.“ Austin legt seinen Arm um meine Taille und drückt mein Kinn nach oben. „Ich habe es nicht so gemeint, vergiss es einfach.“
„Ist schon okay. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast“, sage ich flüsternd. Die Sache ist die, dass er lediglich die Wahrheit gesagt hat, ob er es nun so gemeint hat oder nicht.
„Komm schon.“ Austin küsst mich auf den Kopf. „Die Jungs sind bereit, loszufahren.“
Als wir wieder im Clubhaus ankommen, bin ich mir sicher, dass ich meinen Onkel kontaktieren werde, um herauszufinden, ob er hinter der gestrigen Schießerei steckt und ob ich ihn überreden kann, den Club in Ruhe zu lassen. Obwohl ich mir zu Herzen genommen habe, was Quinn und Lisa mir darüber gesagt haben, dass der Club mir nicht die Schuld an den Geschehnissen gibt, habe ich immer noch das Gefühl, dass ich versuchen sollte, etwas zu unternehmen, um die Situation zu verbessern. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und tatenlos zusehen, ohne meinen Schlamassel zu bereinigen, bevor noch jemand verletzt wird. Es ist an der Zeit, dass ich in irgendeiner Form Verantwortung übernehme.
„Ich bin ein bisschen müde, ich glaube, ich werde nach oben gehen und ein Nickerchen machen“, sage ich zu Austin, sobald wir das Clubhaus betreten.
„Bist du sicher, Babe? Die Mädels wollten gerade etwas zu essen machen. Willst du nicht mit ihnen abhängen?“
„Ja, ich bin sicher.“
„Okay. Ich muss mich um ein paar Sachen für Jake kümmern, dann komme ich hoch und sehe nach dir.“ Austin streicht mir über die Wange und küsst meine Nasenspitze, bevor er seinen Mund auf meinen legt. Ich spüre, wie er sich entfernt, und er lässt einen Pfiff ertönen. „King“, ruft er und ein paar Sekunden später ist der sanfte Riese an meiner Seite und stupst mit seinem Kopf meine Hand an. Ohne zu zögern, folgt mir King in Austins Zimmer.
Ich schließe die Tür hinter mir, durchquere den Raum und setze mich auf die Bettkante, wo ich mein Handy aus der Handtasche hole. Ich atme tief durch und drücke die Wahlwiederholung. Mein Onkel antwortet nach dem zweiten Klingeln.
„Hallo?“
Meine Stimme zittert, als ich spreche. „Onkel Arturo.“
Am anderen Ende der Leitung herrscht einen Moment lang Stille, bevor mein Onkel antwortet: „Lelani?“
„Ja, ich bin’s.“
„Sag mir, wo du bist.“
Ist das alles? Kein, wo bist du gewesen? Und wie geht es dir? Geht’s dir gut?
Ich würde gerne behaupten, dass es mir nicht weh tut, dass mein Onkel sich nicht einmal nach meinem Wohlbefinden erkundigt, nachdem ich wochenlang verschwunden war, aber das wäre eine Lüge. Außerdem entgeht mir nicht, dass er wissen will, wo ich bin. Bedeutet das, dass er nicht hinter dem steckt, was gestern passiert ist? Oder stellt er sich nur dumm?
Plötzlich bin ich wütend. „Willst du nicht fragen, wie es mir geht? Ich war verschwunden. Ich könnte irgendwo tot in einem Graben liegen? Außerdem, was ist mit Derrick? Vielleicht solltest du ihn nach meinem Verbleib fragen?“, schnauze ich ihn an.
„Vergiss nicht, mit wem du hier sprichst, Lelani. Offensichtlich geht es dir gut, denn du sprichst ja gerade mit mir“, sagt er knapp. „Was deinen Bruder angeht, so wird man sich um ihn kümmern.“
„Ich werde dir gar nichts erzählen und du kannst aufhören, so zu tun, als wüsstest du nicht, wo ich bin, Onkel Arturo. Ich werde nicht zurückkommen. Ich habe nur angerufen, um dir das mitzuteilen und um dir zu sagen, dass du deine Schläger zurückrufen und meine Familie und mich in Ruhe lassen sollst.“
„Familie? Ich bin deine Familie und ich befehle dir, mir sofort zu sagen, wo du bist“, bellt mein Onkel und verliert die Geduld.
„Ich habe dir bereits gesagt, dass ich das nicht tun werde!“, brülle ich. „Ruf deine Männer zurück, Onkel Arturo.“
„Ich weiß nicht, was für einen Unsinn du da redest, aber meine Männer sind hier in Vegas bei mir. Ich werde es dir nicht noch einmal sagen, junge Dame. Du bist eine Mancini und als solche hast du eine Verpflichtung gegenüber dieser Familie. Es ist Zeit für dich, nach Hause zu kommen.“ Ich höre, wie er mit dem Fuß auf eine harte Oberfläche aufstampft.
Bei der Erwähnung meiner „Verpflichtung“ dreht sich mir der Magen um. „Ich bin zu Hause, Onkel Arturo. Ich würde lieber sterben, als Cillian De Burca zu heiraten.“ Mit diesen Abschiedsworten lege ich den Hörer auf. Im selben Moment höre ich ein lautes Keuchen in meinem Rücken. Ich stehe auf und wende mich demjenigen zu, der an der Tür steht.
„Sagtest du De Burca?“, fragt Grace mit zitternder Stimme.