Eine Regierung, die Hinz beraubt, um Kunz zu bezahlen, kann stets auf Kunzens Unterstützung bauen.
George Bernard Shaw
Um zu verstehen, warum so viele Regierungen eine vom Staat dominierte Form des Kapitalismus umsetzen und warum dieser Trend die freien Märkte und die Zukunft der Weltwirtschaft gefährdet, müssen wir den Kapitalismus selbst etwas genauer betrachten. Der Politikphilosoph Kenneth Minogue hat einmal den Kapitalismus definiert als das, „was Menschen tun, wenn man sie in Ruhe lässt“. Diese Formulierung fängt die Freiheit und persönliche Autonomie ein, die viele von uns mit dem einzigen Wirtschaftssystem assoziieren, das im Laufe der Zeit bewiesen hat, dass es bleibenden Wohlstand schaffen kann. Aber der Kapitalismus nimmt viele Formen an, und Freiheit ist relativ. Für unsere Zwecke bedeutet der Begriff Kapitalismus, Wohlstand einzusetzen, um mehr Wohlstand zu schaffen – eine Definition, die breit genug ist, um sowohl freie Marktwirtschaft als auch Staatskapitalismus abzudecken. Generell lässt sich sagen, dass sich in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem die meisten Produktionsmittel – Arbeit, Land und Kapital – im Privatbesitz befinden und privat gehandelt werden. Geld ist das messbare, universell akzeptierte Tauschmittel. Personen und Privatunternehmen optimieren ihre Entscheidungen darüber, was sie zu welchem Preis kaufen wollen, was sie herstellen und welchen Preis sie dafür fordern, wie viel sie sparen und in was sie investieren wollen. Zusammengenommen schaffen und unterhalten solche Entscheidungen die Märkte. Aber selbst diese breit gefasste (und stark vereinfachte) Definition bietet Raum für Variationen – Unterschiede, die davon bestimmt werden, inwieweit eine Regierung in all diese Entscheidungen eingreift.
Diejenigen, die an einen reinen Laisser-faire-Kapitalismus glauben, plädieren dafür, dass der Staat sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern möge, während Käufer und Verkäufer kaufen und verkaufen. Über die Durchsetzung von Verträgen und den Schutz von Eigentumsrechten hinaus würden Regierungen den Kapitalismus ermöglichen, indem sie sich nicht einmischen. Adam Smith, der oft zitierte Vater des modernen Kapitalismus, schrieb in seinem Klassiker Wohlstand der Nationen (1776) von den unerwarteten Vorteilen, die einer Gesellschaft aus der Gier des Einzelnen erwachsen:
Wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.18
Manch ein Student der Schriften von Smith würde diesen Punkt durch einen Hinweis auf sein früheres Werk Theorie der ethischen Gefühle (1759) ergänzen, in dem er argumentierte:
Es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in [des Menschen] Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen … Vorteil daraus zieht.19
Befürworter eines reinen Kapitalismus bestehen darauf, dass der „unsichtbaren Hand“ erlaubt werden müsse, ihre magische Arbeit zu tun – und dass jeder Versuch einer Regierung, deren Handeln zu lenken, lediglich die Märkte belasten und ihr normales Funktionieren stören würde. Andere halten dagegen, dass seine Schriften über Moral und natürliches Mitgefühl vermuten lassen, dass Smith einen Großteil des libertären Dogmas, das mit seinen Lehren gerechtfertigt wird, ablehnen würde. Wie dem auch sei – einen reinen Kapitalismus hat es in der realen Welt nie gegeben, und nur die ideologisch verbohrtesten Wirtschaftsanarchisten wollen ihn verwirklicht sehen. Die Märkte können nicht jedes menschliche Bedürfnis erfüllen, Angst und Gier sorgen dafür, dass Märkte nie perfekt funktionieren werden, und kein Marktteilnehmer hat vollständige Informationen.
Zusammenbrechende Märkte gibt es nicht erst seit der globalen Rezession von 2009, den Bankpleiten von 2008, der Kreditklemme von 2007, der Savings-and-Loan-Krise (US-Sparkassenkrise) der 1980er-Jahre20 oder auch dem Börsencrash von 1929. Menschen, die anno 1720 große Summen in die South Sea Company investiert hatten und dann zu Opfern der „irrationalen Begeisterung“ über das Handelsmonopol der Firma in den südlichen Meeren wurden, hätten sich einiges Leid ersparen können, wenn sie aus der holländischen Tulpenzwiebel-Manie von 1637 etwas gelernt hätten.21 Jeder Marktzusammenbruch löst eine vorübergehende Zunahme von Anstrengungen des Staates aus, der dafür sorgen will, dass so etwas nie wieder passieren kann. Insofern geht die Rolle des Staates bei der Schaffung der Rahmenbedingungen für einen modernen Kapitalismus weit darüber hinaus, ein soziales Sicherheitsnetz zu gewährleisten. Selbst in den Vereinigten Staaten, der Hochburg manches glühenden Verfechters einer freien Marktwirtschaft, wird vom Staat erwartet, dass er als Schiedsrichter das Spiel beaufsichtigt und dafür sorgt, dass sich die Spieler an die Regeln halten, dass er als letzter Kreditgeber und Bürge zur Verfügung steht und dass er öffentliche Aufgaben wie Landesverteidigung, Strafjustiz, Bildungswesen, Umweltschutz, Krankenversicherung für ältere und arme Menschen, Flugsicherung und Katastrophenhilfe wahrnimmt. Solcherlei Dienste sind zu wichtig für das Gemeinwohl, um sie der Privatwirtschaft anzuvertrauen.
Diese Kombination aus marktwirtschaftlichem Wettbewerb und eingeschränkter staatlicher Intervention schafft eine freie oder soziale Marktwirtschaft. Der Einfluss dieses seit Ende des Zweiten Weltkriegs in den entwickelten Ländern vorherrschenden Modells hat sich seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks vor zwei Jahrzehnten auf die ganze Welt ausgedehnt. Aber auch innerhalb dieser einen Variante des Kapitalismus gibt es Unterschiede, da manche Länder weit häufiger und direkter in ihre jeweilige Volkswirtschaft eingreifen als andere. Dennoch bekennen sich alle Systeme der sozialen Marktwirtschaft zu dem Prinzip, dass nur freie Märkte bleibenden Wohlstand schaffen können und dass die Regierung nie zum dominanten Akteur in einer Volkswirtschaft werden sollte. Der Staatskapitalismus stellt diese Überzeugungen direkt infrage.
Es ist kein reiner Zufall, dass Adam Smith sein Buch Wohlstand der Nationen im selben Jahr veröffentlichte, in dem auch die Gründerväter der Vereinigten Staaten die Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten, mit der sie das Land vom Joch der britischen Kolonialherrschaft befreien wollten. Die Geistesströmung des 18. Jahrhunderts, die der Philosoph Immanuel Kant als Erleuchtung bezeichnet hatte, inspirierte viele verschiedene Menschen, vielerlei Freiheiten – sowohl wirtschaftliche als auch politische – von Geistlichen, Adligen und Königen zu fordern. Der moderne Kapitalismus begann Gestalt anzunehmen, als im Zuge der industriellen Revolution die Wirtschaft sich immer mehr aus ihrer Abhängigkeit von manueller Arbeit befreite und dynamischere Modelle entwickelte, die auf maschineller Landwirtschaft und Industrieproduktion basierten. Die Erfindungen und Methoden der industriellen Revolution (zum Beispiel die Beschäftigung von vielen Arbeitskräften in einzelnen Fabriken) breiteten sich rasch in ganz Europa, seinen Kolonien und den Vereinigten Staaten aus und setzten wirtschaftliche Kreativität und Produktion in noch nie da gewesenem Umfang frei. Mehr Menschen als jemals zuvor erarbeiteten sich einen echten Anteil an ihrer jeweiligen Volkswirtschaft. Die Aussicht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand – wie bescheiden sie auch sein mochte – lieferte breiten Schichten der Bevölkerung den starken Anreiz, eine bessere Staatsführung zu fordern, und die entstehenden Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks bestanden darauf, durch Besteuerung einen Anspruch auf politische Repräsentation erworben zu haben. Diverse Autokraten mussten widerstrebend solche neuen politischen Ansprüche akzeptieren und ließen so einen reiferen Gesellschaftsvertrag zwischen Regierenden und Regierten Gestalt annehmen. Allmählich setzte sich das Wahlrecht durch. Die wirtschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert eröffnete neue Freiräume für die Entstehung ideologisch voneinander abgegrenzter politischer Parteien und gesellschaftlicher Reformbewegungen, die dafür kämpften, die Sklaverei abzuschaffen, Arbeitsschutzstandards einzuführen, Kinderarbeit gesetzlich zu regeln und die allgemeine Schulpflicht sowie flächendeckende Hygienestandards durchzusetzen. Im 20. Jahrhundert ließen wirtschaftliche Fortschritte vielerlei gesellschaftliche Forderungen laut werden, etwa nach politischen Rechten für Frauen, politischer Vertretung der Arbeitnehmerschaft mit kollektiven Tarifverhandlungen sowie dem Ende verschiedener Formen von Diskriminierung.
Allmählich erkannten Politikwissenschaftler, Ökonomen und Soziologen einen Trend in den europäischen und nordamerikanischen Hochburgen des modernen Kapitalismus. Freie Märkte, so argumentierten sie, schufen mehr Wohlstand; mehr Wohlstand ließ Mittelschichten entstehen; und Mittelschichten forderten bessere Regierungen. Mit „besseren Regierungen“ waren offenere Regierungen gemeint: das Recht der Bürger, mehr zu erfahren über die Aktivitäten ihrer gewählten Volksvertreter, und sie zur Verantwortung zu ziehen – an der Wahlurne und selbst im Gerichtssaal. Transparenz und Rechenschaftspflicht waren Grundvoraussetzungen für das geordnete Funktionieren freier Märkte. Die grundlegenden wirtschaftlichen Freiheiten, auf denen der Kapitalismus aufbaut, verschmolzen mit den politischen Grundfreiheiten zu einer konzeptionell unteilbaren Einheit. Im Kern liegt beiden die Überzeugung zugrunde, dass keine Person und keine Institution diese Rechte für einen anderen Menschen wahrnehmen kann. Sie sind keine Leihgabe einer Regierung, und ein Staat hat nicht das Recht, sie zu widerrufen. Ein Marktplatz für Güter und Leistungen braucht einen Marktplatz der Ideen. Mit anderen Worten: Freie wirtschaftliche Märkte funktionieren am besten innerhalb der stützenden Struktur eines freien politischen Marktes, da die vollständige Ausübung wirtschaftlicher Freiheit öffentlichen Zugang zu Informationen voraussetzt, von der Regierung unabhängige Rechtsprechung und Presse, Rede- und Versammlungsfreiheit, allgemeinen Zugang zu höherer Bildung, Reisefreiheit sowie die Freiheit, Handel zu treiben.
Die Verfechter eines Staatskapitalismus sehen das anders.
Der Begriff Staatskapitalismus hat noch keine allgemeine Verbreitung gefunden, doch er ist nicht neu. Wahrscheinlich ist er zum ersten Mal im August 1896 in einer Rede von Wilhelm Liebknecht verwendet worden, einem der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie. Bevor der Marxismus nach der bolschewistischen Revolution im Oktober 1917 unbestreitbares weltpolitisches Gewicht erlangte, war dieser Begriff Gegenstand einer scheinbar endlosen Folge erhitzter interner Debatten. Einige der Kontrahenten – zum Beispiel Liebknecht – empörten sich gegen die halbherzigen Maßnahmen jener, die es nicht schafften, den Kapitalismus entschieden genug zu verurteilen. Liebknecht versicherte auf einem Sozialistenkongress in Paris: „Niemand hat eindeutiger gezeigt als ich selbst, dass es sich beim Staatssozialismus eigentlich um Staatskapitalismus handelt.“22 Er argumentierte, dass es nicht ausreiche, wenn der Staat die Produktionsmittel beschlagnahme; er müsse darüber hinaus die politische Macht an das Proletariat abgeben. Sobald der Marxismus mit der Gründung der Sowjetunion im Jahre 1922 in der realen Welt Fuß gefasst hatte, wurde diese Debatte immer hässlicher.
Liebknecht hatte in den 1920er-Jahren längst das Zeitliche gesegnet, aber sein Argument fand unter Mitgliedern der Bolschewiken-Elite neue Stoßkraft. „Wir haben zugunsten der Arbeiterklasse eine Revolution gemacht“, so argumentierten sie. „Wenn nun der Staat die neue Wirtschaft führen soll, hat dann nicht einfach die Arbeiterklasse neue Herren geerbt?“ Und so fand der Begriff Staatskapitalismus zuerst Verbreitung als Schimpfwort, das mit Vorliebe von denjenigen im Munde geführt wurde, die befürchteten, die Anführer der Bolschewiken seien nicht kommunistisch genug. Schon 1922 hatte der Ökonom Ludwig von Mises, ein wichtiger Vertreter der österreichischen Schule und späterer Held des Libertarismus, diese Verwendung des Wortes erkannt und angegriffen:
Eine besondere Eigentümlichkeit der sozialistischen Bewegung liegt in ihrem Bestreben, für die Gestaltung ihres Idealstaates immer neue Bezeichnungen in Umlauf zu setzen. An die Stelle einer Bezeichnung, die sich abgenutzt hat, tritt eine neue, hinter der man die endliche Lösung des unlösbaren sozialistischen Grundproblems vermutet, bis man erkennt, daß sich bis auf den Namen nichts geändert hat. Das Schlagwort der jüngsten Zeit lautet: Staatskapitalismus.23
Als Leo Trotzki 1934 das sowjetische Experiment als „verratene Revolution“ bezeichnete, warnte er, das Wort Staatskapitalismus habe „den Vorteil, dass niemand genau weiß, was es bedeutet“, und behauptete, der Begriff „verbirgt das Rätsel des Sowjetregimes“.24 Diese Debatte setzte sich während der stalinschen „Säuberungen“ und des Zweiten Weltkrieges fort, stieß jedoch außerhalb der kommunistischen Bewegung auf Desinteresse. Dann tauchte der Begriff in Form von Schlagzeilen wieder auf, als der sowjetische Politiker Nikita Chruschtschow in einer Rede im Februar 1956 den 1953 verstorbenen Stalin anprangerte. Zwischen Chruschtschow und dem chinesischen Führer Mao Tse-tung entstand allmählich eine Kluft, als Mao für China immer nachdrücklicher die führende Rolle in der kommunistischen Welt beanspruchte. Von 1956 bis in die späten 1970er-Jahre hinein verwendete die Kommunistische Partei Chinas häufig den Begriff Staatskapitalismus ganz ähnlich wie Liebknecht und Trotzki – also um diejenigen zu beleidigen, die eine unreine Form des Sozialismus praktizierten. Ironischerweise verwenden heute einige aus den dezimierten Reihen der maoistischen Hardliner den Begriff, um Chinas wirtschaftliche Reformen der vergangenen 30 Jahre zu geißeln.
Mancher überzeugte Kapitalist verwendet den Begriff, um den Sozialismus von der anderen Seite aus zu attackieren. Murray Rothbard, ein Jünger des Ludwig von Mises, wendete ihn auf die Wirtschaftspolitik der Nazis in Deutschland an, auf die faschistische Herrschaft in Italien während der 1930er-Jahre und die nach dem Krieg entstandenen Volkswirtschaften im sowjetischen Einflussbereich. Für Rothbard war Staatskapitalismus das wirtschaftliche Gegenstück zu politischer Tyrannei – und eine Erfindung, die nur in einem totalitären politischen System überleben konnte. Er argumentierte, die freie Marktwirtschaft verhalte sich zu Staatskapitalismus wie ein „freiwilliges Tauschgeschäft“ zum „bewaffneten Raubüberfall“. Er betrachtete Laisser-faire-Kapitalismus als effizientes und sich selbst erneuerndes Netzwerk kleiner, freiwilliger Tauschgeschäfte, zu dem das Recht eines Käufers gehörte, weitere Geschäfte abzulehnen, wenn er mit dem ersten nicht zufrieden war. Jede Art der Besteuerung sei „reiner und waschechter Raub“. Er sagte die unvermeidliche Selbstzerstörung von zentralen Planwirtschaften voraus und war davon überzeugt, dass eine freie Marktwirtschaft „das einzige moralische und bei Weitem produktivste System ist [und] das einzige überlebensfähige für die Menschheit im Industriezeitalter“.25
Über Rothbard hinaus gibt es drei Arten, wie der Begriff Staatskapitalismus im Laufe der Jahre in der Welt der freien Marktwirtschaft eingesetzt wurde. Erstens wird das Wort manchmal verwendet, um ein System zu beschreiben, in dem eine Regierung Unternehmen im Privatbesitz erlaubt, Monopole über ganze Industriebranchen aufzubauen. In den Vereinigten Staaten des späten 19. Jahrhunderts pflegten die Männer, die riesige Monopole (und Beinahe-Monopole) im privaten Sektor errichteten – zum Beispiel in Branchen wie Ölförderung, Schifffahrt, Bankwesen und Telegrafie –, enge Beziehungen zu hochrangigen Amtsinhabern in Washington. Das erklärt zum Teil, wie die Carnegies, Rockefellers, Vanderbilts, J. P. Morgan und andere riesige Vermögen anhäufen konnten. Die Gegenreaktion auf solche staatlich abgesegneten Monopole führte zur Verabschiedung von Antitrust-Gesetzen – die zumeist in der einen oder anderen Form auch heute noch in Kraft sind.
Zweitens wird der Begriff manchmal verwendet, um die verschiedenen Methoden zu beschreiben, mit denen Regierungen in Kriegszeiten ihre freiheitlich organisierte Wirtschaft requirieren. Viele führende deutsche, französische und britische Firmen blieben bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in privater Hand, aber als der Konflikt – von dem viele erwartet hatten, dass er schnell zu Ende gehen würde – sich zu einem kostspieligen Patt entwickelte, waren die beteiligten Regierungen gezwungen, eine weitgehend zentralisierte Wirtschaftsplanung einzuführen. Die Mobilisierung nationaler Ressourcen im Zweiten Weltkrieg kam den Unternehmen zugute, die der scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 in seiner Abschiedsrede als „militärisch-industrieller Komplex“ bezeichnete.26 Alle Regierungen – einschließlich solcher, die einem relativ freien Markt vorstehen – sorgen für die Verteidigung der territorialen Integrität ihres Landes.27
Drittens ist mit Staatskapitalismus gelegentlich die Entscheidung demokratisch gewählter Amtsträger in einer freien Marktwirtschaft gemeint, bestimmte Branchen in der öffentlichen Hand zu belassen. Bevor Margaret Thatcher eine lange Liste großer britischer Unternehmen privatisierte, befanden sich British Airways, British Gas, British Steel, British Telecom und British Petroleum sowie etliche große Werften, örtliche Wasser- und Elektrizitätswerke, Flughafenbetreiber, Teile der Atom- und Kohlekraftwerksindustrie und sogar Rolls-Royce im Staatsbesitz. Aber selbst die Eiserne Lady schreckte vor der Verstaatlichung des britischen National Health Service („Nationaler Gesundheitsdienst“) zurück, der mit über 1,5 Millionen Beschäftigten nach wie vor Europas größter Arbeitgeber ist.
Hätte der Fall der Berliner Mauer tatsächlich den endgültigen Sieg demokratisch verfasster freier Marktwirtschaften bedeutet, dann wäre womöglich der Begriff Staatskapitalismus still und leise in Vergessenheit geraten. Aber dieses Wort hat mittlerweile eine ganz andere Bedeutung gewonnen, die im Laufe des kommenden Jahrzehnts sehr wichtig für die internationale Politik und die globale Wirtschaft sein wird. Dieses Buch definiert den Staatskapitalismus des 21. Jahrhunderts als „ein System, in dem der Staat die Rolle des führenden wirtschaftlichen Akteurs spielt und Märkte hauptsächlich zu seinem politischen Vorteil nutzt“. Um jedoch die Ursachen dieses Phänomens wirklich zu verstehen, ist es nützlich, eine frühere Variante davon kurz zu betrachten – eine Variante, die das Wirtschaftsleben revolutioniert und die vorherrschende gesellschaftliche Ordnung beinahe 300 Jahre lang definiert hat.
Als Merkantilismus bezeichnet man einen wirtschaftlichen Nationalismus mit dem Ziel, einen reichen und mächtigen Staat aufzubauen.28 Er war vom frühen 16. bis ins späte 18. Jahrhundert hinein rund um die Welt das vorherrschende ökonomische Modell – ein Wirtschaftssystem, bei dem Regierungen staatliche Regulierung einsetzen, um auf Kosten aller anderen Regierungen nationalen Reichtum anzuhäufen und politische Macht zu erringen. Der Merkantilismus im postfeudalen Europa basierte auf zwei Fehlannahmen: Ersten glaubten die Merkantilisten, der Reichtum einer Nation bestehe aus dem Geld und den anderen Schätzen, die sie kontrolliert. Edelmetalle, vor allem Gold, waren damals das gebräuchlichste Maß für Reichtum. Wie es Adam Smith, der bekannteste Kritiker dieses Systems, einmal ausdrückte, basierte Merkantilismus auf „der weitverbreiteten Torheit, Wohlstand mit Geld zu verwechseln“, was zu der Schlussfolgerung führe, dass jede Zunahme der Geldmenge – also des Edelmetallbestandes – alle Menschen im Lande reicher mache. Zweitens gingen die Merkantilisten davon aus, dass der auf der Welt – und somit im internationalen Handel – insgesamt vorhandene Reichtum unveränderlich sei. Sie glaubten, dass der Kuchen nicht größer werden könne und dass Erfolg daher bedeute, das größtmögliche Stück für sich selbst zu sichern. Handel wurde als Nullsummenspiel betrieben, und weil daher ein Land nur auf Kosten eines anderen Vorteile erringen konnte, waren wirtschaftliche Beziehungen konfliktträchtig.
Diese beiden Annahmen führten zu einem einzigen dominanten nationalen Ziel: durch eine positive Handelsbilanz Edelmetalle anzusammeln. Es wurde zu einem eminent wichtigen Glaubenssatz, Exporte zu maximieren und Importe zu minimieren. Das Ziel bestand darin, den Handel zu kontrollieren, und zwar durch einige wenige große Monopole, die von Regierungsbeamten gelenkt und überwacht werden konnten, durch unfreiwillige Märkte in Übersee, die sogenannten Kronkolonien, die untereinander nicht direkt Handel treiben durften, und durch zahlreiche andere protektionistische Maßnahmen, zum Beispiel unzumutbar hohe Einfuhrzölle, vor allem auf Fertigwaren. Im eigenen Land warb die Regierung für Autarkie als Schutz gegen Abhängigkeit von potenziell feindseligen Ausländern. Insbesondere förderten Regierungen heimische Industriezweige, die lebensnotwendige Güter wie Kleidung, Kerzen und Lebensmittel herstellten.
Der Merkantilismus war in weit höherem Maße kapitalistisch als marxistisch, weil er von dem menschlichen Grundbedürfnis motiviert wurde, durch das Anhäufen von Reichtümern Sicherheit zu schaffen. Von diesem goldenen Schutzschild wurde erwartet, dass er die Nation reicher, weniger angreifbar und mächtiger machen würde. Doch im Laufe der Zeit entwickelten diejenigen, die von der wachsenden Bürokratie profitierten, die notwendig war, um dieses System zu verwalten, ein Interesse daran, ihre Macht und Privilegien auszubauen. Der Staat als Wirtschaftskonzern wurde immer teurer, erhöhte von Jahr zu Jahr die Steuern, produzierte immer mehr soziale Unruhe und Unsicherheit und stützte sich immer mehr auf ausufernde Bürokratien. Die wohlhabendsten und mächtigsten in der Klasse der Kaufleute kämpften für den Erhalt ihrer staatlich garantierten Wettbewerbsvorteile, indem sie Bündnisse mit Bürokraten auf strategisch wichtigen Positionen eingingen. Und zum beiderseitigen Gewinn wuchs die Rolle dieser Bürokraten unaufhaltsam, als sie ein immer weiter wucherndes Netz staatlicher Vorschriften zur Regelung der Wirtschaft durchsetzten.
Warum die Fixierung auf Gold? Nun, es gab keine offensichtliche Alternative. Die Welt hatte keine international akzeptierte, globale Reservewährung. Nationale Währungen ließen sich kaum untereinander umtauschen. Aber wo immer sie auch hinreisten, selbst in den primitivsten Gesellschaften der Welt begegnete den Kaufleuten die universelle Faszination des Goldes. Generell hatten die europäischen Merkantilisten zwei Möglichkeiten, ihre Goldbestände zu vergrößern: durch eine positive Handelsbilanz (mehr Gold kommt ins Land hinein als hinausfließt) und durch Eroberung der Regionen, in denen neue Goldvorkommen entdeckt wurden. Letzteres war ein starker Anreiz, eine Epoche der Entdeckungsreisen zu finanzieren. Privat finanzierte Unternehmungen wie solche des Kaufmannes Marco Polo wurden allmählich durch staatlich subventionierte Projekte abgelöst, die von Entdeckern wie Kolumbus, Vasco da Gama, John Cabot und Magellan angeführt wurden. Diese Männer hatten den Auftrag, neue Handelsrouten zu erschließen und ihren Gönnern neue Reichtümer zu verschaffen – und in manchen Fällen auch neues Territorium. Die Akquisition neuer Ländereien brachte neue Rohstoffe ein, aus denen man Güter herstellen konnte, die man wiederum für Gold exportierte. Konflikte über Handelsrouten und Kolonien wurden unvermeidlich – ebenso wie die transatlantische Sklaverei.29 Wuchernde Bürokratien, Kolonialismus und kaufmännische Konkurrenz schürten Konflikte. Um die Anstrengungen von konkurrierenden Mächten zu vereiteln, eine positive Handelsbilanz zu erreichen, führten merkantilistische Regierungen Zölle, Steuern und Importquoten ein, vor allem auf Fertigwaren, während sie die Interessen ihrer Exportwirtschaft durch Subventionen, Steuervergünstigungen und Monopollizenzen förderten. Monarchen beauftragten den Bau immer größerer Frachtschiffe, die immer mehr Güter zu immer niedrigeren Kosten transportieren konnten. Auch die Schiffe, die dem Schutz der Handelsflotten dienten, wurden immer größer. Die Staatsausgaben schwollen an und machten häufig weitere Steuererhöhungen notwendig. Marineflotten wurden als Symbole politischer Macht ebenso wichtig wie Armeen.
In der Welt des Kommerzes herrschten Monopole. Könige und Königinnen statteten einige wenige Firmen mit einem Freibrief aus, dem exklusiven Recht, im Namen des Monarchen zu agieren. Unmittelbar zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden innerhalb von zwei Jahren die Britische und die Niederländische Ostindien-Kompanie gegründet. Sie waren Firmen im Privatbesitz, die Aktien ausgaben und einen Verwaltungsrat hatten, dessen Mitglieder aus den Reihen ihrer Aktionäre gewählt wurden. Aber sie hatten auch einen königlichen Auftrag und genossen exklusive Privilegien – Verbindungen politischer und wirtschaftlicher Eliten, die im Grunde genommen die frühesten Beispiele für staatlich geförderte „nationale Champions“ waren. Dänemark, Schweden und Frankreich folgten diesem Vorbild und gründeten ähnliche Firmen mit Handelsmonopolen, aber die britischen und holländischen Versionen waren die bei Weitem erfolgreichsten. Im größten Teil des 17. Jahrhunderts schüttete die Niederländische Ostindien-Kompanie jährliche Dividenden zwischen zehn und 60 Prozent an ihre Aktionäre aus. Sie spielte eine wichtige Rolle in einer Serie von Kriegen zwischen Holland und Spanien, die sich über sechs Jahrzehnte hinzogen und die Portugiesen (die damals noch mit Spanien vereint waren) schließlich zwangen, ihre Besitzungen im heutigen Indonesien und an der Küste Indiens aufzugeben. So setzten die Holländer ein weltweites Monopol im Gewürzhandel durch. Im Jahre 1652 errichtete die Niederländische Ostindien-Kompanie die erste europäische Siedlung in Südafrika. Dies ist die Firma, die das Gebiet des heutigen New York – damals als New Amsterdam bekannt – entdeckte und besiedelte, bevor sie es an die Briten abtrat.30
Die Britische Ostindien-Kompanie war sogar noch erfolgreicher. Oliver Cromwells Regierung verlieh ihr 1657 das Monopol auf den Handel mit Indien, woraufhin die Firma für alle praktischen Zwecke und über 100 Jahre lang der unangefochtene Herrscher über weite Teile Indiens wurde.31 Die Kompanie unterhielt ihre eigene Verwaltung, eine Miliz und eine Marine, die zeitweilig größer war als die britische. Als die britische Regierung 1784 formal die politische Macht in Indien übernahm, setzte sie Warren Hastings, einen Direktor der Ostindien-Kompanie, als ihren ersten Generalgouverneur ein und gestattete der Firma für weitere 50 Jahre gewisse Regierungs- und Militärfunktionen. Darüber hinaus besaß die Britische Ostindien-Kompanie das Monopol für den Handel mit China und kaufte 1819 Singapur. Wenn wirtschaftliche Konkurrenten auftauchten, wurden sie von der Kompanie erdrückt oder gekauft.
Die Regierenden stützten diese Firmen. Die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verabschiedeten British Acts of Trade („Britischen Handelsgesetze“, auch als Navigation Acts bekannt) verfügten, dass nur englische Schiffe mit einer überwiegend englischen Mannschaft ausländische Güter von und nach England und seinen Kolonien transportieren durften. Der gesamte Handel zwischen den Kolonien und Ländern, die nicht zum Empire gehörten, musste zuerst über britische Häfen abgewickelt werden, wo auf bestimmte Rohstoffe wie Zucker, Indigo, Reis und Tabak Steuern zu entrichten waren. Neben anderen Differenzen waren diese Gesetze eine der direkten Ursachen für über ein Jahrhundert kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen England und Holland. Der erste dieser Kriege begann ein Jahr nach dem Erlass des ersten Gesetzes, das die Holländer praktisch von der Beförderung sämtlicher Waren ausschloss, die mit England und seinem wachsenden Empire gehandelt wurden. Diese Gesetze legten auch den Keim für die Rebellion der nordamerikanischen Kolonien, indem sie die dortigen Siedler zwangen, relativ teuren Zucker von den britischen Westindischen Inseln zu beziehen und – was wesentlich besser bekannt ist – der Ostindien-Kompanie das Monopol über den zollfreien Import von Tee einräumten. Aber die Gesetze hatten durchaus auch positive Auswirkungen für England: Sogar Adam Smith lobte ihre Folgen für den Aufbau einer militärischen und wirtschaftlichen Supermacht, die sich einstellten, weil diese Bestimmungen die Existenz einer riesigen Handelsflotte begünstigten – und einer Marine, die groß genug war, um diese Flotte zu schützen.32
Und wie war es um die Kaufleute selbst bestellt? Nun, ihren eigenen Berichten zufolge waren sie hartgesottene Realisten. Mitunter sahen sie sich als Kämpfer an der Front einer gewaltigen nationalen Anstrengung, um sich einen größeren Anteil an den Reichtümern der Welt zu sichern. Einige von ihnen behaupteten, sie würden primitiven Völkern Gott, Zivilisation und modernes Leben bringen. Viele von ihnen stellten ihre Fortune zur Schau, indem sie sich luxuriöse Villen bauen ließen und sie mit exotischen Trophäen füllten, wie man sie nur am Ende der Welt findet. Die erfolgreichsten unter ihnen nutzten ihren politischen Einfluss und ihre persönlichen Beziehungen, um das Spiel zu ihren Gunsten zu manipulieren.
Sie waren die ersten Staatskapitalisten.
Es gibt mehrere Gründe, warum gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Merkantilismus im Sterben lag. Als Transporte über Land immer einfacher und häufiger wurden, stellten Regierungen fest, dass Einfuhrverbote für bestimmte Produkte Schmuggel im großen Stil nicht verhindern konnten. Als immer breitere Schichten der Bevölkerung begannen, politischen Einfluss zu gewinnen, wurde es immer schwieriger, lukrative Monopole gegen diejenigen zu verteidigen (unter ihnen auch der eine oder andere Politiker), die ebenfalls ein Stück vom Kuchen forderten. Und schließlich wurde die Produktion im Zuge der industriellen Revolution in noch nie da gewesenem Ausmaß automatisiert, wodurch das produktive Potenzial der Gesellschaft steil anstieg. So wurde es immer offenkundiger, dass Regierungen aus all diesen Gründen allmählich immer weniger Kontrolle über die wirtschaftlichen Aktivitäten haben würden.
Im späten 18. Jahrhundert geriet der Merkantilismus durch Adam Smith, David Hume und andere unter Beschuss.33 Würde man seine Logik auf die Spitze treiben, so argumentierte eine wachsende Schar von Kritikern, könne der Merkantilismus nicht nachhaltig sein. Es könne nie eine Welt geben, in der alle exportieren und niemand importiert. Smith bestand darauf, dass Produzenten sich nicht endlos auf ein System verlassen konnten, das die Verbraucher betrog, indem es ihnen Auswahlmöglichkeiten vorenthielt. Er argumentierte, dass der Handel sämtlichen Teilnehmern nützen konnte, wenn alle Menschen und alle Länder auf dem Gebiet ihres jeweiligen komparativen Vorteils produzierten, sodass durch Spezialisierung und Wettbewerb bessere Produkte zu niedrigeren Kosten hergestellt würden. Darüber hinaus fanden Smith, Hume und andere die Annahme lächerlich, dass durch ein Wachstum der Geldmenge die Gesellschaft insgesamt reicher würde. Sie zeigten, dass ein Land, das Gold hortet, eines Tages so viel davon haben würde, dass sein Wert im Vergleich zu anderen Gütern fiele – und dass Länder, denen es an Gold mangelte, es sich nicht leisten konnten, die Produkte zu kaufen, welche die Länder mit viel Gold exportieren wollten.
Das System verschwand nicht überall zur gleichen Zeit. Im 19. Jahrhundert verabschiedete sich Großbritannien vom Merkantilismus und wurde zum wichtigsten Befürworter freier Märkte und Handelsbeziehungen. Andere, zum Beispiel Deutschland unter Bismarcks Führung und die Vereinigten Staaten, hinkten hinterher. Abraham Lincoln, dessen Ansichten von Alexander Hamiltons philosophischer Unterstützung des Merkantilismus geprägt waren,34 setzte sich häufig für Protektionismus ein.35 In den Vereinigten Staaten war die Zeit nach dem Sezessionskrieg von Handelsbarrieren und internen Monopolen geprägt. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert schlossen sich die Vereinigten Staaten dem Trend zu freien Märkten an, überholten alle anderen Länder und bauten die nach wie vor weltweit führende Volkswirtschaft auf. In den vergangenen 100 Jahren waren die Vereinigten Staaten näher als jede andere große Volkswirtschaft am Laisser-faire-Ende des Marktspektrums angesiedelt, aber staatliche Interventionen haben immer wieder US-Regierungen geholfen, Exzesse des freien Marktes zu überleben, von der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre bis hin zur Finanzkrise 2008.
Selbst in Zeiten lebhafter Hochkonjunktur hat nie ein bevölkerungsreiches Land einen uneingeschränkt freien Markt zugelassen; sie alle haben die eine oder andere Form einer regulierten freien Marktwirtschaft praktiziert. Heute dreht sich die Debatte um die Richtigkeit der keynesianischen Meinung, dass höhere Staatsausgaben und niedrigere Zinsen die Konsumlust anregen, die Arbeitslosigkeit minimieren und eine leidende Wirtschaft wieder an ihr natürliches Gleichgewicht heranführen können. Tatsächlich befürwortete John Maynard Keynes manche Aspekte des Merkantilismus und argumentierte, dass ein Handelsbilanzüberschuss die Nachfrage beflügeln und den nationalen Wohlstand steigern könne.36 Kaum ein westlicher Ökonom hält den Merkantilismus für die Wirtschaftsordnung der Zukunft, aber gewisse Elemente des Systems sind uns erhalten geblieben, und der um sich greifende Staatskapitalismus hat ihnen neues Leben eingehaucht.
Staatskapitalismus ist nicht einfach nur der Merkantilismus des 21. Jahrhunderts. Zu glauben, dass die Größe der Weltwirtschaft feststehe und dass der Gewinn des einen Landes notwendigerweise der Verlust eines anderen sein müsse, würde bedeuten, zwei Jahrhunderte Wirtschaftswachstum verpasst zu haben. Die World Trade Organization (WTO) hat es so gesagt: „Die Daten zeigen einen eindeutigen statistischen Zusammenhang zwischen freieren Handelsbeziehungen und Wirtschaftswachstum. … Eine liberale Wirtschaftspolitik, die den uneingeschränkten Fluss von Gütern und Leistungen zulässt, verschärft den Wettbewerb, beflügelt Innovationen und erzeugt Erfolg.“37 Heute bezweifelt kein Verantwortlicher in einem der führenden Industrieländer mehr die Macht von Handelsbeziehungen und Investitionen, in mehreren Ländern gleichzeitig das Entstehen von Wohlstand zu fördern. Während eine westliche Finanzkrise eine globale Rezession erzeugte, versammelten sich im April 2009 die Regierungschefs der G-20-Länder in London, um darüber zu sprechen, wie man zusammenarbeiten könne, um einen Aufschwung herbeizuführen. Nach dem Gipfeltreffen unterzeichneten sogar Hu Jintao und Dmitri Medwedew, die jeweiligen Präsidenten von China und Russland, den beiden größten staatskapitalistischen Ländern der Welt, das gemeinsame Abschlusskommuniqué, in dem es heißt: „Das Wachstum des Welthandels hat seit einem halben Jahrhundert zunehmenden Wohlstand gefördert. Wir werden nicht die historischen Fehler des Protektionismus früherer Epochen wiederholen.“
Neben solchen Beteuerungen erzählen Zahlen die Geschichte. Der WTO zufolge ist das Volumen der Warenausfuhren zwischen 1948 und 2007 von 59 Milliarden Dollar auf 13,62 Billionen Dollar gestiegen. Über die Hälfte dieses Wachstums ist seit 2000 entstanden, und der Wert des Handels mit Dienstleistungen hat sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelt. Zwar wird das wirtschaftliche Wachstum stets zyklisch und ungleichmäßig sein, aber dennoch reflektieren diese Zahlen den Wandel der Politik in aller Welt. Nach dem Zusammenbruch der großen Planwirtschaften gegen Ende der 1980er-Jahre begannen die vormals kommunistischen Länder sowie andere Schwellenländer, sich in höherem Maße in die Weltwirtschaft zu integrieren. Das Volumen des Welthandels nahm allein 1995 um knapp 20 Prozent zu, und im Jahr 2004 um etwas über 20 Prozent. Chinas Anteil am Welthandel hat, seit dort gegen Ende der 1970er-Jahre die Reformen zur Liberalisierung der Wirtschaft begannen, um ungefähr das Zehnfache zugenommen, von etwa 0,7 auf 7,7 Prozent. Das wirtschaftliche Wachstum der Schwellenländer und ihrer Exportmärkte hat den Gesamtanteil der Vereinigten Staaten am globalen Güterexportmarkt in den vergangenen 60 Jahren auf weniger als die Hälfte reduziert, von 28 Prozent auf etwa 14 Prozent.38 Mit anderen Worten: Immer mehr Länder haben sich in den vergangenen Jahren zum Kapitalismus bekannt, und die meisten internationalen Finanzinstitutionen der Welt reflektieren diesen Wandel.39
Der Merkantilismus ist tot, aber sein Einfluss lebt weiter. Auch heute greifen wieder viele Regierungen in ihre Volkswirtschaften ein, um erklärte nationale Interessen zu fördern, und sie haben subtilere und wirkungsvollere Methoden entwickelt, um protektionistische Maßnahmen umzusetzen. Sogar Länder, die als Vorkämpfer für freie Märkte und die Liberalisierung des Handels gelten, weigern sich, bei besonders sensiblen wirtschaftlichen Fragen nachzugeben. Die Europäische Union, der größte Handelsblock der Welt, setzt nach wie vor Einfuhrzölle ein, um ihre Landwirtschaft gegen die Konkurrenz durch Produkte aus Schwellenländern zu schützen, die europäische Verbraucher sonst zu günstigeren Preisen kaufen könnten.40 Die Landwirtschaftspolitik der EU ist in mancherlei Hinsicht das Erbe extremer Nahrungsmittelknappheit in Kriegszeiten. Aber auch Jahrzehnte nach Kriegsende bleiben örtliche Bauern und landwirtschaftliche Erzeugnisse eindrucksvolle Symbole für das Erbe einer Nation. Heute macht die Finanzierung von Subventionen und Einfuhrzöllen für die Landwirtschaft noch immer über 40 Prozent des EU-Haushalts aus – für einen Wirtschaftszweig, der weniger als fünf Prozent der EU-Bevölkerung beschäftigt. Wenn Europäer sich dafür einsetzen, dass Entwicklungsländer ihre Handelspraktiken liberalisieren sollten, erwidern die Regierungen solcher Länder häufig, ihre eigene „Nahrungsmittel-Versorgungssicherheit“ sei weit stärker gefährdet als in jedem reichen Land, und daher müsse man Protektionismus erwarten. Staatskapitalistische Regierungen – und solche, die höchstwahrscheinlich in Zukunft eine Form von Staatskapitalismus einführen werden – rechtfertigen mit solchen Argumenten ihre eigenen Interventionen und verteidigen die Vorzüge ihres eigenen Wirtschaftsmodells. An dieser Stelle bietet die Geschichte des Merkantilismus mancherlei Einsicht über die heutige Weltwirtschaft und die Richtung, in die sie sich entwickeln könnte. Diejenigen, die eine freie Marktwirtschaft befürworten, weisen darauf hin, dass Wettbewerb und Handel nicht nur im eigenen Land Wohlstand schaffen, sondern auch dem Gemeinwohl dienen. Wie im Merkantilismus nutzen Staatskapitalisten die Märkte, um staatliche Macht auszubauen. Sind sie gezwungen, sich zwischen dem Schutz der persönlichen Rechte, wirtschaftlicher Produktivität und dem Prinzip der Angebotsvielfalt einerseits und dem Erreichen politischer Ziele andererseits zu entscheiden, werden Staatskapitalisten stets die letztere Option wählen. Sie werden das damit begründen, dass ihr politisches Überleben vielleicht heute noch nicht von dieser Entscheidung abhängen mag, aber doch sicherlich morgen.
Die westliche Finanzkrise und die globale Rezession haben ernsthafte Gefahren für die politische Stabilität Chinas heraufbeschworen. Wie hat die chinesische Zentralregierung darauf reagiert? Nun, erstens hat sie in dem Bewusstsein, dass durch den Abschwung in den USA, in Europa und Japan einige der größten Kunden der chinesischen Industrie ausgefallen sind, einen erheblichen Teil eines 586 Milliarden Dollar schweren Konjunkturprogramms dafür ausgegeben, das Überleben der Exportindustrie zu subventionieren. Die globale Rezession hatte bereits viele chinesische Hersteller gezwungen, ihre Produktion zu stoppen und Arbeitskräfte zu entlassen. Die Subventionen waren dazu bestimmt, weitere Fabrikschließungen zu verhindern – und das Risiko zu minimieren, dass viele Millionen zusätzlicher arbeitsloser Wanderarbeiter soziale Unruhen auslösen, die die politische Stabilität hätten gefährden können. Zweitens hat die chinesische Regierung – wie seinerzeit die Merkantilisten, wenn sie darum bemüht waren, eine positive Handelsbilanz zu erwirtschaften – neue Methoden erfunden, um Importe einzuschränken, mitunter durch versteckte protektionistische Maßnahmen, die begünstigte Unternehmen schützen und den Kapitalfluss steuern sollen. Drittens kontrolliert die chinesische Führung – wie seinerzeit die Merkantilisten, indem sie Gold horteten – den Wechselkurs der chinesischen Währung, um Exporte zu begünstigen und ihre Devisenreserven auszubauen; Reserven, die dann verwendet werden können, um Chinas Interessen in aller Welt voranzutreiben. Die Merkantilisten wurden zu Kolonialisten, um sich mit Rohstoffen einzudecken, die das weitere Wirtschaftswachstum antrieben. Entsprechend ist Chinas Politik für das 21. Jahrhundert darauf angelegt, langfristige Vorkommen von Erdöl, Erdgas, Erzen, Mineralstoffen und anderen Rohstoffen zu sichern, die das Reich der Mitte braucht, um sein weiteres Wirtschaftswachstum anzutreiben, Wohlstand im eigenen Land zu schaffen und das politische Kapital der Kommunistischen Partei Chinas zu sichern.
In den führenden staatskapitalistischen Ländern der Welt – China, Russland und Saudi-Arabien – profitieren moderne Merkantilisten mit politischen Beziehungen von engen Verbindungen zu Institutionen (etwa der Kommunistischen Partei Chinas oder der königlichen Familie in Saudi-Arabien) oder Einzelpersonen (wie zum Beispiel Wladimir Putin und seiner politischen Entourage). Solch ein Wirtschaftslenker hat leichtes Spiel in Ländern, deren Gesetze darauf ausgelegt sind und so angewendet werden, dass sie die Interessen der Herren auf Kosten der Knechte schützen. Seine Bereitschaft, als Werkzeug der Staatsmacht zu dienen, bringt ihm offiziellen Schutz vor wirtschaftlichen Rivalen ein, inländischen wie ausländischen. Im Falle von Staatsunternehmen sind Regierungen keine normalen Eigentümer: Schon die Drohung, die regulatorischen Spielregeln zu ändern, genügt, um die Konkurrenz davon abzuschrecken, sie direkt herauszufordern. Die größten Staatsunternehmen und bevorzugten privaten „nationalen Champions“ der Welt werden vielleicht nie die Schlagkraft der Ostindien-Kompanien erlangen, aber sie genießen viele der gleichen Privilegien.
Kurzum: Der Staatskapitalismus ist zu einem Riesengeschäft geworden, was gravierende Folgen für die internationale Politik und die Weltwirtschaft hat. Das folgende Kapitel erklärt, wie er tatsächlich funktioniert.