Im Februar 1707 ergab sich die Gelegenheit, alle diese Trümpfe in einem einzigen Werk auszuspielen: in der Kantate Delirio amoroso. Eine Rechnung des Kopisten Alessandro Ginelli vom 12. Februar über die Aufführungsstimmen nennt den Titel, Auftraggeber und Komponisten des Werkes: „Cantata intitolata Il Delirio amoroso p[er] servitio dell ... Cardinal Pamphilij Composta in musica dal S[igno]re Giorgio Hendel“64. Sie beweist, dass das Stück in einer von Pamphiljs Freitagsakademien jenes Monats aufgeführt worden sein muss, wahrscheinlich am 11. Februar. Es handelt sich damit um die erste sicher datierbare seiner weltlichen Kantaten in Rom und gleich um die längste und virtuoseste.
Abb. 9 Barbault: Palazzo Pamphilj an der Piazza del Collegio Romano, der heutige Palazzo Doria-Pamphilj (Stich, Mitte 18. Jahrhundert). Hier führte Händel im Februar 1707 seine Kantate Delirio amoroso auf.
Ein hoch und brillant geführter Solosopran konzertiert in drei langen Arien mit einer Solovioline, einer Solooboe, einem Solocello und einer solistischen Blockflöte. Zu diesem Concertino der Solostimmen gesellt sich in typisch römischer Manier das Concerto grosso der Streicher, gestützt vom Basso continuo. Den dramatischen Rezitativen und Arien der Kantate stellte Händel eine Introduzione für Oboe und Streicher voran – vermutlich das erste Oboenkonzert, das jemals in Rom aufgeführt wurde. Als Finale benutzte er ein Entrée des Orchesters im französischen Stil und ein Menuett, in das am Ende auch der Sopran einstimmt. Mit anderen Worten: Die Kantate geht zum Schluss in eine Art kleine Orchestersuite über.
Dass Händel dieses hypertrophe Gebilde aus Oboenkonzert, Kantate und Suite so demonstrativ auf Farbenpracht und Virtuosität hin anlegte, ist nicht nur seiner jugendfrischen Klangfantasie zuzuschreiben, sondern auch jenem erlesenen Ensemble von Musikern, dass ihm der Auftraggeber der Kantate zur Verfügung stellte65. Das kleine Oboenkonzert zu Beginn war ganz auf einen gewissen „Signor Ignazio“ zugeschnitten. Es kann sich nur um Ignazio Rion gehandelt haben. Der erste Oboenvirtuose in der Geschichte Italiens war erst zwei Jahre zuvor aus Venedig nach Rom gekommen und hatte dort sofort für einen „Boom“ der Oboe in Oratorium und Kantate gesorgt66.
Die erste Arie überrascht mit einem der längsten Geigensoli, die Händel geschrieben hat: Nach dem prägnanten Thema des Orchesters setzt der Geigensolist völlig unbegleitet wie in einer Kadenz zu einer Sequenz aus rauschenden Triolen an, die nicht weniger als elf Takte umfasst. Nicht zufällig erinnert diese Stelle an die Musik von Arcangelo Corelli, war es doch sein Meisterschüler Antonio Montanari, dem Händel hier einen sensationellen Auftritt verschaffte. Montanari, damals gerade erst 30 Jahre alt, galt als „virtuosissimo suonatore di violino“, als höchst virtuoser Geiger, und verfügte zudem über die „Tugend eines engelshaften Gemüts“67. Insgesamt sechs Mal erklingt das für ihn geschriebene Geigensolo im Verlauf der langen Arie.
Gleich bei seinem ersten Einsatz tut es der Sopranist dem Geiger nach und schwebt ohne jede Begleitung fünf Takte lang in der Höhe – wie im Flug. Vollendet hat Händel hier den Text umgesetzt, der beschreibt, wie ein Gedanke zum Himmel fliegt („un pensiero vole in cielo“). Für die virtuose Ausgestaltung dieses Bildes konnte er sich auf die exorbitanten Fähigkeiten eines jungen Kastraten verlassen. Es war ein Sänger namens „Checchino“, der in fast allen Freitagsakademien des Kardinals auftrat und in anderen Pamphilj-Dokumenten „Checchino di Paoluccio“ genannt wird. Sicher handelte es sich dabei um Francesco Besci, den wir schon aus der Beschreibung des „Akademie“-Gemäldes von Morelli kennen, wo er „der Neffe des Paoluccio“ genannt wird. Mit diesem Zusatz war sein Onkel Paolo Besci „detto Paoluccio“ gemeint, zwanzig Jahre früher der bedeutendste Kastrat Roms und Star in Alessandro Scarlattis ersten neapolitanischen Opern68, nun Kantor der Sixtinischen Kapelle und Mentor seines Neffen, der zum neuen Gesangsstar Roms aufstieg69.
Wie viele junge Kastraten in Rom scheint sich auch Besci in Frauenrollen geübt zu haben, was angesichts des Opernverbots nur in Kantate und Oratorium möglich war. Im Delirio amoroso musste er sich in das Liebesleid einer jungen Frau hineinversetzen, die ihren verstorbenen Geliebten in der Unterwelt sucht und findet. Als sie seinem Schatten gegenübersteht, singt sie eine tieftraurige Sarabande in g-Moll, voller Fragen und Seufzer, sekundiert vom solistischen Cello. Händel hat hier dem Cellisten Giuseppe Perroni ein herzerweichendes Solo auf den Leib geschrieben – Vorläufer all jener langsamen, expressiven Arien mit Cello, die in seinen Londoner Opern die schönsten lyrischen Ruhepunkte bilden. Die Blockflöte reißt die Zuhörer in der nächsten Arie aus ihrer Melancholie. Sie wurde wieder von Ignazio Rion gespielt, der auf beiden Instrumenten – Oboe und Flauto dolce – gleichermaßen versiert war und für den Schluss der Kantate wieder zur Oboe griff.
In der feinsinnigen Instrumentation dieser Kantate spiegelt sich genau die Besetzung von Pamphiljs Ensemble im Februar 1707 wider. Die Fülle an melodischen Schönheiten hat dagegen eine ganz andere, für Händel nicht minder typische Wurzel: seinen Hang zu „Borrowings“, zu Entlehnungen aus den Werken anderer Komponisten. Das so einprägsame, tänzerische Hauptthema der ersten Arie übernahm er aus einer Oper seines Jugendfreundes Telemann, das Thema der dritten Arie und des Entrée von seinem Hamburger Mentor Reinhard Keiser. Es ist also nicht alles Händelsches Gold, was hier glänzt, und doch verstand es der junge Komponist, eigene und fremde Einfälle in einen dramatischen Bogen einzuspannen, der dem Sujet der Kantate vollauf gerecht wird.