Delirio amoroso ist der Prototyp der großen römischen Kantaten Händels. In den folgenden 20 Monaten sollte er eine ganze Serie solcher Meisterwerke schaffen: Monologe für einen Sopranisten und mehr oder weniger reiches Orchester, die sämtlich Opernszenen in nuce ohne Bühnenbild und Kostüm sind und von seinem dramatischen Genie beredtes Zeugnis ablegen. In Rom nannte man dieses Genre Cantata con Stromenti oder Cantata con Violini, da die Standardbesetzung im kleinen Orchester aus zwei Violinen und Basso continuo bestand. Ob die beiden Violinen rein solistisch besetzt waren oder durch Ripienisten verstärkt wurden, blieb den Ausführenden überlassen und hing mit der Größe des Raums zusammen. In Ruspolis Akademien standen Händel in der Regel vier Geiger zur Verfügung, doch konnte dieses Quartett bei Bedarf auch aufgestockt werden. Bei Ottoboni und Pamphilj war das Orchester reicher besetzt, auch mit Bläsern.
In jedem seiner Sopranmonologe hat Händel die Fallhöhe zwischen Liebesglück und tiefster Verzweiflung in subtilen Nuancen nachgezeichnet und dafür alle musikalischen Topoi benutzt, die ihm zur Verfügung standen: Klagearien im Duktus einer Sarabande, einer Siciliana oder eines Lamento; zarte Liebesarien im Andante oder Larghetto; trotziges Allegro, wutschnaubendes Furioso und die mitreißenden Tanzrhythmen eines Menuetts, einer Gavotte oder einer Giga. Die Themen sind so kraftvoll wie einprägsam, wenn auch in vielen Fällen nicht von Händel selbst erfunden, sondern geschickt aus Werken seiner Kollegen ausgeborgt, besonders von Keiser und Telemann. Deren melodischer Einfallsreichtum war buchstäblich unerschöpflich, ohne dass auch nur eine ihrer Noten in Italien bekannt gewesen wäre. Dies machte sich Händel zunutze und adelte in seinen römischen Kantaten und Oratorien die Einfälle seiner Kollegen, indem er sie in einen neuen Kontext stellte und musikalisch verfeinerte.
Die Stoffe, die er in seinen Kantaten aufgriff, lassen sich drei verschiedenen Genres zuordnen: der arkadischen Welt der Schäfer, den Ritterepen der Renaissance und den klassischen Stoffen der Antike. Die weitaus größte Gruppe umfasst die arkadischen Schäferszenen. Sie sind oft ironisch gebrochen und erstaunlich nahe an der römischen Lebenswirklichkeit der Epoche angesiedelt. In der scheinbar so idyllischen Kantate Notte placida e cheta ersehnt ein verliebter Schäfer im Schlaf die Erfüllung aller seiner Träume, doch kurz vor dem Ziel wird er von einem römischen Ruhestörer unsanft geweckt. Die junge Heldin der Kantate Tu fedel, tu costante? hat genug von den Seitensprüngen ihres Freundes Fileno. Ihre eifersüchtige Wut kommt schon in der Sonata für zwei Violinen und Basso continuo zum Ausdruck, die Händel der Kantate vorangestellt hat: Knapp abgerissene Akkorde, gefolgt von einem Rausch aus wütenden Sechzehnteln, beschreiben hinreichend ihren Gemütszustand, belegen aber auch, wie schnell sich Händel das unverwechselbare Idiom der italienischen Streichermusik angeeignet hatte. Gleich im ersten Rezitativ überschüttet die Heldin ihren Fileno mit einer Schimpfkanonade im besten italienischen Stil, wobei Händel die sich steigernde Wut in den aufsteigenden Akkorden köstlich nachgezeichnet hat. Nachdem die junge Schäferin, die nichts anderes ist als eine junge Frau aus Roms Straßen, das Leid der Eifersucht in drei Rezitativen und drei Arien ausgekostet hat, gibt sie ihrem Filou alias Fileno den Laufpass in Form eines schnippischen Menuetts.
Solche Leichtigkeit und ironische Brechung sucht man in der dritten Gruppe von Kantaten vergeblich. Es handelt sich um die antikischen Monologe, die uns Gestalten aus der Mythologie und der Geschichte des alten Rom in Extremsituationen vor Augen führen. In Lucrezia (ausnahmsweise eine große Monologkantate, die nur vom Basso continuo begleitet wird) kann die berühmte Römerin die Schmach ihrer Vergewaltigung durch den Königssohn Tarquinius nicht ertragen und gibt sich den Tod. In Agrippina condotta a morire werden wir Zeugen, wie sich die Kaiserin Agrippina vor dem Tod windet, den ihr eigener Sohn Nero ihr befohlen hat. In Ero e Leandro hören wir die Klage der Hero, die ihren Geliebten Leander nur noch tot am Ufer vorfindet. Mit diesen Monologen verzweifelter Frauen schuf Händel die unmittelbaren Vorläufer der tragischen Heldinnen in seinen Londoner Opern, der Rodelinda und Zenobia, der Asteria und Alcina.
Von den Cantate con stromenti, die besondere Glanzpunkte in den römischen Akademien darstellten, sind die Cantate col Basso zu unterscheiden, die nur von Cello und Cembalo begleiteten Solokantaten. Sie waren sozusagen Händels tägliches Brot: Woche für Woche hatte er ein solches Werk zu komponieren, mit Margarita Durastante einzustudieren und aufzuführen. Dabei schlüpfte seine durchaus robuste Primadonna, die ein italienischer Kenner der Szene zehn Jahre später etwas unfein als „Elefant“ bezeichnete, gerne in männliche Rollen, denn die intimen Kammerkantaten hatten im Rahmen der gelehrten römischen Zirkel die Aufgabe, galante Botschaften zu transportieren, also von Liebesdingen zu berichten, mit denen sich auch Fürsten und Kardinäle als Liebhaber unmittelbar identifizieren konnten. Ellen Harris hat diesem Aspekt ihr Buch Handel as Orpheus gewidmet und eine Fülle möglicher Bedeutungsebenen in den Kantaten aufgezeigt70. Für den Hörer des 21. Jahrhunderts mag interessanter sein, wie sehr selbst diese intimen Kammerstücke theatralischen Charakter annehmen können. Die Helden sind wieder Schäferinnen und Schäfer wie jener von der Liebe Enttäuschte, der in der Kantate Vedendo Amor dem Liebesgott abschwört. Um sich seiner Macht zu entziehen, flieht der Schäfer in den Wald, wo er freilich unvorsichtig genug ist, sich zur Ruhe zu betten. Amor schleicht sich an und schließt seine Pfeile ab. Der getroffene Liebhaber sitzt im Käfig und muss sich zu allem Überfluss auch noch den Spott einer Nymphe gefallen lassen. Auch dieses kleine Meisterwerk aus vier Rezitativen und drei Arien erzählt auf kleinstem Raum eine amouröse Geschichte.
Abb. 10 Die Sala dei Veluti in der heutigen Galleria Doria-Pamphilj. Zu Händels Zeit gehörte sie zu den Prunkräumen der Wohnung des Kardinals Benedetto Pamphilj, wo Händels Delirio amoroso zum ersten Mal erklang.
Die intimste Botschaft, die Händel in seinen kleinen römischen Kantaten jemals zu vertonen hatte, war an ihn selbst gerichtet: die Kantate Hendel non può mia musa. Wieder war es der greise Kardinal Pamphilj, der dem jungen Deutschen mit seinen Versen schmeichelte. Er beschreibt, wie seine eigene Muse – die Dichtung – mit Händels musikalischer Begabung zwar nicht Schritt halten könne, wie sehr aber die jugendliche Ausstrahlung des Genies in ihm verborgene Kräfte geweckt habe. Ob man diese Aussagen nun, wie es Ellen Harris tut, metaphorisch versteht und in dem Text das Liebesgeständnis eines alten Mannes an einen attraktiven Jüngling sieht oder ob man die Schmeichelei im rein künstlerischen Milieu belässt – peinlich war sie Händel allemal. Als er Jahrzehnte später im Gespräch mit Charles Jennens, dem Librettisten des Messias, Saul und Belshazzar, auf Kardinal Pamphilj zu sprechen kam, nannte er ihn einen „old fool“. Als Jennens erschreckt nachfragte, worauf sich dieses harte Urteil beziehe, antwortete Händel nur barsch: „Wenn Sie mir genauso geschmeichelt hätten wie er, würde ich Sie auch einen alten Narr nennen!“71