Die Tinte auf der Originalhandschrift seines Dixit Dominus war noch kaum getrocknet, als Händel schon sein nächstes großes Werk in Angriff nahm: sein erstes Oratorium. Kardinal Pamphilj hatte ihm einen eigenen Oratorientext anvertraut mit dem Titel La Bellezza raveduta nel Trionfo del Tempo e del Disinganno, zu deutsch: „Die Schönheit, im Triumph bekehrt von Zeit und Erkenntnis“. In der Londoner Fassung von 1737 hat Händel diesen umständlichen Titel auf das einfachere Il Trionfo del Tempo e della Verità verkürzt, in der englischen Bearbeitung aus seinen letzten Lebensjahren sogar auf The Triumph of Time and Truth. Es spricht also nichts dagegen, den Titel mit „Der Triumph von Zeit und Wahrheit“ zu übersetzen88.
Das Thema ist ein ganz und gar römisches: Der Zahn der Zeit, der an den Monumenten der römischen Antike so deutlich seine Spuren hinterlassen hatte, nagt an der Schönheit und ihrem Gewissen. Dabei muss man sich Il Tempo genauso vorstellen, wie er auf den Fresken und Gemälden des römischen Barock dargestellt ist: als die geflügelte Gestalt des Kronos mit der Sense. Seine Mitstreiterin im Ringen um La Bellezza ist Il Disinganno, wörtlich die „Ent-Täuschung“. In drastischen Arien führen die beiden einer jugendlichen Schönen die Wirkungen der Vergänglichkeit vor Augen: In düsterem f-Moll ruft die Zeit den Urnen zu „Apritevi“, „Öffnet euch!“, und lässt uns die Skelette der Verstorbenen sehen. In einer zuckersüßen Pastorale für Blockflöten und Streicher entlarvt die Wahrheit die trügerische Ruhe, in der sich der Mensch wähnt. Über dem „Lamentobass“ verkündet sie die traurige Erkenntnis, dass alle Schönheit vergehen muss89.
Gegenspieler der beiden ist das Vergnügen, Il Piacere. Ihm hat Händel die berühmteste Melodie des Werkes anvertraut: die pathetische Sarabande „Lascia la spina, cogli la rosa“, die unter einem anderen Text in der Oper Rinaldo unsterblich werden sollte: „Lascia ch’io pianga“. In ihrem ursprünglichen Kontext ist dieses hinreißende Stück der letzte Versuch, die Schönheit doch noch auf den Weg des Lasters zurückzuführen. Denn schon wankt ihre Bastion im Ansturm der Widersacher, wie das dramatische Quartett kurz zuvor deutlich gemacht hat. Am Ende ist die Schönheit bekehrt, sagt sich von allen Vergnügungen los und wendet sich in einem betörend schönen Adagio in E-Dur, zur zarten Begleitung einer Solovioline und der Streicher, dem Himmel zu.
Wie in diesem verinnerlichten Schluss erweist sich Händel an vielen Stellen seines ersten Oratoriums als ein Meister der Tonmalerei und der Affekt-Kontraste. Die Gegensätze barocker Metaphorik prallen so heftig aufeinander, wie es wohl nur einem jungen Genie in einem Erstlingswerk möglich war, denn in den späteren Londoner Fassungen hat Händel diese Drastik abgemildert. Da rast die Zeit in atemberaubenden Sechzehnteln dahin, klagt die Schönheit mit einer in Halbtönen weinenden Oboe um die Wette, lockt das Vergnügen mit opulenten Koloraturen. Und über allem thront das junge Genie Händel, der bei der Aufführung auch als Solist in Erscheinung trat, nämlich in dem ersten Orgelkonzert seines Schaffens. Es ist jene einsätzige Sonata, die er einstreute, um die schmeichlerischen Verse des Kardinals Pamphilj zu unterstreichen, die sein Orgelspiel verherrlichten. So sehr der junge Lutheraner die Schmeicheleien des alten Kardinals auch verabscheute: Die Gelegenheit, sich selbst an der Orgel zu produzieren, ließ er nicht ungenutzt, und die barocke Vielfalt an Bildern in Pamphiljs Versen beflügelte seine Fantasie. Dass Händel sein Erstlingsoratorium auch später noch liebte und schätzte, kann man an den erwähnten Londoner Fassungen sehen.
Auch Kardinal Pamphilj ließ La Bellezza raveduta immer wieder aufführen – mit Änderungen seines Kapellmeisters Cesarini, die wohl hauptsächlich Anpassungen an neue Sänger und ihre Stimmen waren. In der Uraufführung sangen drei Kastraten und ein Tenor, darunter vielleicht wieder der junge „Checchino“ Besci in der Partie der Bellezza. Wenn er am Ende in ätherischen Tönen die Gedanken zum Himmel lenkt, war den Zöglingen des Collegio Clementino der Weg in ihr geistliches Dasein vorgezeichnet – wobei es Händel nicht versäumt hatte, auch die Verlockungen am Rande ihres Weges in schillernden Farben auszumalen.
Aufgrund einer Rechnung des Kopisten Angelini über die Erstellung des Aufführungsmaterials vom 14. Mai 1707, die von Händel beglaubigt wurde90, wissen wir, dass das Oratorium um diese Zeit aufgeführt worden sein muss. Am 6. Juli erhielt Händel „auf Befehl seiner Eminenz Pamphilj, Padrone“ die stattliche Summe von 84 Scudi „per aver fatta una cantata di sua Eminenza“91. Es kann sich dabei nur um Il Trionfo del Tempo gehandelt haben, für den Händel mit einiger Verzögerung großzügig entlohnt wurde.
Das Orchester wurde von Arcangelo Corelli geleitet. Berühmt wurde dieses Zusammentreffen zwischen dem alternden Geigerfürsten des römischen Barock und dem jungen Genie aus Deutschland vor allem wegen eines Streits während der Proben: Händel hatte ursprünglich eine Ouvertüre im französischen Stil geschrieben – ganz so, wie er es später für fast alle seine Opern und Oratorien in London tun sollte. Corelli aber konnte mit diesem Stil nichts anfangen. Als ihm Händel bei einer Probe die Geige aus der Hand riss, um ihm zu zeigen, mit welchem Nachdruck die betreffende Stelle eigentlich zu spielen sei, entschuldigte sich Corelli mit dem Satz: „Ma, caro Sassone, questa musica è nel Stylo Francese, di ch’io non m’intendo.“ („Aber, mein lieber Sachse, diese eure Musik ist nach dem französischen Stil eingerichtet, darauf ich mich gar nicht verstehe.“) Händel änderte daraufhin das Vorspiel und „machte eine Symphonie, die mehr nach dem italienischen Stil schmeckte“92. Händels erster Biograph Mainwaring hat diese Episode so glaubwürdig erzählt, dass man nicht an ihr zweifeln muss, zumal sich neben der endgültigen Sinfonia zum Trionfo del Tempo tatsächlich eine französische Ouvertüre über das gleiche Thema erhalten hat (HWV 336).
Dass Händel trotz dieses Zwists von der Persönlichkeit Corellis und seiner Orchesterleitung nachhaltig beeindruckt war, zeigt sich an mehreren Umständen: Noch in seinen letzten Lebensjahren erzählte er seinen besten Freunden in London Geschichten vom Hof Ottobonis, darunter auch, wie Corelli jeden Orchestermusiker, der eine Verzierung willkürlich anbrachte, Strafe zahlen ließ. Dass Corelli über eine private Bildergalerie von 142 Gemälden verfügte, war Händel sicher bekannt und dürfte seine spätere Leidenschaft für Gemälde ebenso gefördert haben wie die Gemäldegalerien in den Palazzi der Kardinäle Colonna und Pamphilj, die man noch heute besichtigen kann. Das schönste Denkmal aber, das er der Kunst Corellis setzte, waren seine Concerti grossi Opus 6, in denen er im Herbst 1739 den Concerti grossi des Geigers aus Fusignano ein ebenbürtiges Opus zur Seite stellte.