Bereits an vielen Stellen dieses Buches ist deutlich geworden, wie sehr die römischen Erfahrungen Händels reife Werke und sein Künstlerdasein prägten, auch noch Jahrzehnte nach seinem Abschied von Rom. Dies sei hier abschließend in einigen Punkten zusammen gefasst:
Die Idee des Oratoriums als eigene Gattung verpflanzte Händel vom Tiber an die Themse, indem er die dramatischen Formen und dramaturgischen Kunstgriffe eines Alessandro Scarlatti mit der englischen Chortradition und Reminiszenzen an seine römischen Psalmen verband. Auch der Chorkomponist Händel hatte in den prächtig besetzten Kirchenmusiken Roms eine Schule des Stils und des Hörens durchlaufen: „In der Art eines Malers erzielt Händel seine gewaltigsten Wirkungen durch die abstrakten Formen seiner chorischen Schreibweise, Fuge, Cantus firmus, Doppelchörigkeit und jene gigantischen Vorschlaghammer-Akkorde, die der Wucht massiger Chöre eine gottähnliche Autorität verleihen.“134 Diese Sätze von Jonathan Keates gelten gleichermaßen für das römische „Juravit Dominus“ im 109. Psalm wie für „He smote all the firstborn in Egypt“ aus dem Oratorium Israel in Egypt.
In Rom reifte Händels Stil zu jener vollendeten Synthese aus deutscher „Gründlichkeit“ der Harmonie und italienischer „Anmut“ der Melodie, die in London sein Erfolgsgeheimnis bleiben sollte. Schon John Mainwaring wies mit Nachdruck darauf hin, „welche Vortheile er, durch die Bekanntschaft mit den italienischen Meistern, erhalten hat; indem er ihren zärtlichen und schönen Melodien in der That noch größere Züge des Ausdrucks hinzugefügt, da er zugleich dieselben mit der vollen starken Harmonie seines Vaterlandes zu vereinigen wusste.“135 In Worte unserer Zeit umgemünzt, hat Reinhard Goebel die gleiche Erkenntnis folgendermaßen formuliert: „Mit unglaublicher Schnelligkeit eignete Händel sich die dramatische Griffigkeit der scarlattischen Opern-Schreibweise an, lernte, Libretti auf ihren musikalisch-rhetorischen Gehalt hin zu prüfen, virtuose Fähigkeiten der Sänger auszuschöpfen, und übernahm von Corelli jenen ‚schönen Stil‘, der Anmut und Weichheit mit Würde und Sinn für grandiose Wirkungen verknüpfte. Diese ‚Ingredienzien‘ verbanden sich mit Händels künstlerischem Temperament und seiner protestantischen Ernsthaftigkeit – seiner Beharrlichkeit hinsichtlich des musikalischen Motivs – gleichermaßen.“136
Händel knüpfte am Tiber Freundschaften, die sein halbes Leben halten sollten. Margarita Durastante, seine Maria Magdalena und Armida aus römischen Tagen, verhalf ihm schon in Venedig als Agrippina zum Durchbruch auf der Opernbühne. Später in London sang sie den Radamisto, die Titelpartie in seiner ersten Oper für die Royal Academy of Music, danach so eindrucksvolle Partien wie den Sesto in Giulio Cesare. Neben Anna Strada war sie seine treueste Primadonna und eine Mezzosopranistin von vollendeter Gesangskunst, wie die Londoner immer wieder bezeugt haben. Pietro Castrucci, der erste Geiger aus dem kleinen Ensemble des Marchese Ruspoli, wurde später Konzertmeister in Händels großem Londoner Opernorchester. So wirkte sich die Geigenschule Arcangelo Corellis auch ganz unmittelbar auf London aus.
Am römischsten in Händels späterem Schaffen sind all jene Momente, in denen Melodien aus den italienischen Frühwerken unversehens aufleuchten – wie schöne Erinnerungen. Vielleicht schätzte Händel sein erstes Oratorium Il Trionfo del Tempo deshalb so sehr: Weil er dem Triumph der Zeit in der Erinnerung an die schönen Tage von Rom trotzen konnte.