Entgegen meiner Vorhersage war es an diesem Tag im Tearoom längst nicht so ruhig, wie ich erwartet hatte. Große Reisegruppen, zahlreiche Dorfbewohner und Studenten mit ihren Eltern sorgten dafür, dass mir kaum Zeit zum Verschnaufen blieb.
Meadowfords Nähe zu der berühmten Universitätsstadt Oxford bescherte mir das ganze Jahr über einen steten Strom an Gästen, doch so kurz vor Beginn des neuen Semesters hatten wir noch mehr zu tun als sonst. Mittlerweile hatte es sich herumgesprochen, dass wir den besten Afternoon Tea weit und breit servierten, und viele Gäste erzählten mir, dass sie nur wegen unserer frischen Scones, der hausgemachten Konfitüre und der Clotted Cream ins Dorf gefahren waren.
Am Nachmittag hatte ich mich gerade für einen Moment hinter die Theke gesetzt, als die Tür aufging und meine Mutter in Begleitung einer eleganten, etwa sechzigjährigen Frau hereinkam.
„Hallo, Liebling!“, trällerte meine Mutter. „Kennst du meine liebe Freundin Sofia Fritz noch? Sie hat in Oxford gewohnt, als du klein warst - sie hat mir sogar geholfen, dich ans Töpfchen zu gewöhnen!“
Ich warf einen verstohlenen Blick in die Runde – einige Gäste schmunzelten, denn sie hatten die peinliche Bemerkung meiner Mutter natürlich mitbekommen. Hastig führte ich die beiden Neuankömmlinge zu einem Tisch in der Ecke, hoffentlich außer Hörweite der anderen Gäste.
„Ähm, ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr, aber es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Fritz“, sagte ich mit einem höflichen Lächeln, während sie Platz nahmen.
„Oh, du kannst mich ruhig Sofia nennen.“ Sie erwiderte mein Lächeln und ihre Augen funkelten belustigt. „Du warst ein bezauberndes kleines Mädchen, Gemma, und es ist schön zu sehen, dass du zu einer hübschen jungen Dame herangewachsen bist.“
Sie war eine schlanke Frau mit braunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen und im Nacken zu einem Dutt frisiert war. Passend zu ihrem schicken cremefarbenen Wollkleid trug sie Schuhe und eine Handtasche in der gleichen Farbe. Sie sprach fließend Englisch mit einem Hauch von Akzent.
„Sofia kommt ursprünglich aus Österreich, ihre Familie ist allerdings nach dem Krieg nach England ausgewandert“, erklärte meine Mutter. „Ihr Vater hat in Oxford gearbeitet, damals haben sie um die Ecke von uns gewohnt. Wir sind immer zusammen zur Schule gegangen. Sofia ist ein paar Jahre älter als ich und als junges Mädchen habe ich sie geradezu angehimmelt. Ich war so traurig, als sie geheiratet hat und zu ihrem Mann nach Österreich gezogen ist.“
„Ja, vielleicht hätte ich einen netten Engländer ehelichen und in England bleiben sollen, statt diesem Halunken nach Österreich zu folgen!“, meinte Sofia schulterzuckend. „Aber das ist Schnee von gestern. Mittlerweile bin ich in Wien heimisch geworden und fühle mich dort sehr wohl.“
„Es ist doch immer schön, in seine Heimat zurückzukehren, oder?“, bemerkte ich.
„Nun, für mich ist England meine Heimat“, erwiderte Sofia. „Es ist seltsam, nicht wahr? Vielleicht liegt es daran, dass ich den größten Teil meiner Kindheit hier verbracht habe. Oft ertappe ich mich sogar dabei, dass ich nicht Deutsch, sondern Englisch denke oder rede - vor allem, wenn ich in Eile bin oder mich über etwas aufrege. Es ist offenbar die Sprache, die mir am vertrautesten ist.“
„Ja, ich weiß, was Sie meinen“, sagte ich. „Nachdem ich acht Jahre im Ausland gelebt und gearbeitet habe, dachte ich, es sei eine echte Kosmopolitin aus mir geworden - aber seit ich wieder in England bin, stelle ich fest, dass ich mir viele typisch englische Eigenarten bewahrt habe.“
„Deine Mutter hat mir erzählt, dass du deinen gutbezahlten Job in Sydney gekündigt hast, um diesen Tearoom zu eröffnen. Das hörte sich nach einem recht gewagten Unterfangen an! Ich muss sagen, ich bewundere deinen Mut und die Entschlossenheit, mit der du diese Herausforderung angenommen hast - und es hat sich offensichtlich gelohnt.“
Sofia sah sich anerkennend in der gemütlichen Teestube mit ihrem traditionellen Eckkamin um, den Fachwerkbalken und den Sprossenfenstern. „Es ist wunderbar geworden, Gemma, und das Geschäft scheint sehr gut zu laufen.“ Sie deutete auf die vollbesetzten Tische.
„Danke! Ja, es hat sich viel besser entwickelt, als ich erwartet hatte. Anfangs hatten wir ein paar kleine Probleme“ – einen Gast, der mit einem Scone aus meinem Tearoom ermordet wird, kann man wohl mit Fug und Recht als kleines Problem bezeichnen – „aber seitdem geht es stetig bergauf. Ich hatte großes Glück mit den Räumlichkeiten. Der Charme des alten Gasthauses vermittelt den Touristen genau das Gefühl von ,Good Old England‘, das sie suchen. Das Gebäude stammt aus der Tudorzeit und Gott sei Dank waren die historischen Elemente noch vorhanden. Ich musste nur alles in seinem alten Glanz erblühen lassen.“
„Das hast du fantastisch hinbekommen“, lobte Sofia und sah sich noch einmal im Raum um. „Ich habe selbst vor Kurzem renoviert, daher weiß ich, wie viel Arbeit dahintersteckt, und - OH!“ Sie zuckte überrascht zurück, als ein kleines Fellbündel auf ihrem Schoß landete.
„Müsli!“, ermahnte ich meine getigerte Katze beschämt, die Sofias Gesicht neugierig beschnupperte. Ich wollte sie wegsetzen, aber Sofia hielt meine Hand fest.
„Nein, nein, lass nur. Ich habe mich ein wenig erschrocken, das ist alles.“ Sie streichelte Müsli lachend. „Sie ist eine echte Persönlichkeit. Gehört sie dir?“
Ich seufzte gequält. „Ja. Sie heißt Müsli und ist sehr gesellig - manchmal sogar zu gesellig! Ich bringe sie jeden Tag mit zur Arbeit und sie liebt es, durch die Teestube zu streunen und sich mit den Gästen anzufreunden. Normalerweise ist sie ganz brav und springt nicht auf Stühle und Tische, aber …“ Ich hob resigniert die Hände. „Wie Sie sehen, kann sie manchmal sehr ungezogen sein.“
„Oh, ich bin sicher, die meisten Gäste hätten nichts gegen so eine niedliche Gesellschaft einzuwenden.“ Sofia lachte erneut, als sich Müsli auf ihrem Schoß zusammenrollte und genüsslich die Augen schloss.
„Das stimmt, oft fragen sie sogar, ob sie sie mitnehmen dürfen. Aber Sie sagten, dass Sie gerade Ihr Haus renoviert haben?“
„Ja, so könnte man es ausdrücken … Weißt du, nach der Scheidung bekam ich eine hübsche Summe ausbezahlt und habe beschlossen, das Geld in ein eigenes Hotel zu stecken. Davon habe ich immer schon geträumt – ein Boutique-Hotel, klein, gemütlich und familiär, aber selbstverständlich mit allem erdenklichen Komfort. Also habe ich vor einem Jahr mitten in Wien ein Haus gekauft und es nach und nach umgebaut. Tatsächlich sind die letzten Arbeiten fast abgeschlossen, nächste Woche ist Eröffnung. Jetzt müssen nur noch hier und da einige Kleinigkeiten erledigt werden, aber dafür werde ich nicht gebraucht, also dachte ich, ich nutze die Gelegenheit und fahre ein paar Tage weg. Wenn das Hotel erst einmal seinen Betrieb aufnimmt, ist an Urlaub nicht mehr zu denken. Dies ist also meine letzte Chance, bevor es losgeht.“ Sie betrachtete meine Mutter liebevoll. „Und da ich meine alte Freundin Evelyn so lange nicht gesehen hatte, habe ich beschlossen, sie in Oxford zu besuchen.“
„Und ich bin so froh darüber!“ Meine Mutter strahlte. Zu mir gewandt fuhr sie fort: „Dein Vater und ich wollen nächstes Jahr nach Wien fahren und freuen uns schon darauf, in Sofias Hotel zu wohnen.“
„Bis dahin sind die anfänglichen Kinderkrankheiten hoffentlich ausgestanden“, meinte Sofia nervös. „Ich habe mir Mühe gegeben, alle Eventualitäten zu bedenken, aber bestimmt habe ich etwas vergessen. Ich mache mir solche Sorgen, dass ich beim Farbkonzept des Hotels einen Fehler gemacht oder etwas nicht bis zum Ende durchgeplant habe oder -“
„Na, na, Sofia, bestimmt ist alles in bester Ordnung“, versuchte meine Mutter, sie zu beruhigen. „Weißt du noch, wie sehr du dich früher wegen deiner Hausaufgaben aufgeregt hast? Einmal bist du sogar in Tränen ausgebrochen, weil du zwei Fehler hattest! Und erinnerst du dich, was die Lehrerin gesagt hat? Dass du gar nicht versuchen sollst, alles perfekt hinzubekommen. Und dass man kein Versager ist, wenn mal etwas nicht perfekt ist.“
„Aber bei der Eröffnung muss alles perfekt sein!“, rief Sofia. „Ich habe so hart gearbeitet, um meinen Traum zu verwirklichen. Das Hotel muss ein Erfolg werden. Es wäre eine solche Schmach, wenn -“ Sie verstummte, als sei ihr plötzlich klar geworden, wie hysterisch sie klang. Sie holte tief Luft und sah mich verlegen an. „Tut mir leid, Gemma. Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt.“
„Nein, ganz und gar nicht“, versicherte ich ihr. „Ich kann mir gut vorstellen, wie es Ihnen geht. Vor einem Jahr, als ich den Tearoom eröffnet habe, war ich genauso nervös. Vermutlich ist es ganz normal, wenn man ein eigenes Unternehmen gründet, oder? Man hofft und bangt, dass man alles richtig gemacht hat. Bestimmt zerbrechen Sie sich unnötig den Kopf, das Hotel wird sicher ein großer Erfolg.“
Sofia seufzte. „Hoffentlich hast du recht. Ich habe einen sehr tüchtigen Geschäftspartner, einen alten Freund mit jahrelanger Erfahrung im Hotelgewerbe. Außerdem kennt er sich gut mit Werbung und Öffentlichkeitsarbeit und dergleichen aus. Ich habe ein paar Vorschläge von ihm aufgegriffen und biete im ersten Monat nach der Eröffnung Sonderaktionen an - einflussreiche Mitglieder der Wiener Gesellschaft sind eingeladen, ein paar Tage gratis im Hotel zu verbringen. Wenn es ihnen gefällt, empfehlen sie uns hoffentlich weiter.“
„Wow, das ist mehr, als ich je für die Teestube gemacht habe“, lachte ich. „Bei der Eröffnung habe ich mich nur vergewissert, dass wir genug Scones haben und das OFFEN-Schild an der Tür richtig herum hängt.“
„Apropos Scones – ich muss sie unbedingt probieren.“ Sofia studierte eifrig die Speisekarte. „In Österreich gibt es köstliche Kuchen und Torten, aber ich muss zugeben, dass ich die typischen britischen Backwaren meiner Kindheit vermisse. Oh, ihr habt Victoria Sponge Cake – und Chelsea Buns! Die habe ich seit Ewigkeiten nicht gegessen. Oh je, alles sieht so verlockend aus, dass ich gar nicht weiß, was ich bestellen soll.“
„Wie wär’s mit unserem traditionellen Afternoon Tea mit einer Auswahl an Kuchen, Brötchen, Teesandwiches und natürlich frischen Scones – das geht selbstverständlich aufs Haus“, fügte ich lächelnd hinzu. „Welchen Tee darf ich Ihnen bringen? Außer verschiedenen Kräutertees haben wir English Breakfast Tea, Darjeeling und Assam – und Earl Grey. Das ist mein persönlicher Favorit.“
„Ja, richtiger Tee aus Teeblättern, in einer Teekanne mit Sieb, nicht diese lächerlichen Teebeutel“, meldete sich meine Mutter zu Wort.
„Manchmal sind Teebeutel sehr nützlich“, wandte ich ein.
„Nein, nein, ich bin mit deiner Mutter einer Meinung“, widersprach Sofia. „Es mag etwas altmodisch wirken, aber es ist schön, wenn man es ,richtig‘ macht. Das ist es, was ich an Wien so liebe – der Wunsch, Traditionen zu erhalten. Daran festzuhalten, ist bei uns nichts Schlimmes. Es gibt viele Kaffeehäuser, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Sie sehen immer noch so aus wie vor hundert Jahren.“
„Das klingt bezaubernd“, sagte ich wehmütig. „Hoffentlich kann ich das eines Tages mit eigenen Augen sehen.“
Sofia nahm meine Hand. „Wenn du nach Wien kommst, musst du bei mir im Hotel wohnen. Für dich gilt der Sonderpreis unbegrenzt. Das ist das Mindeste, was ich für die Tochter meiner alten Freundin tun kann.“ Mit einem Blick auf das Fellbündel auf ihrem Schoß fuhr sie fort: „Und deine kleine Freundin ist natürlich auch willkommen. Wir Österreicher hängen an unseren Haustieren und nehmen sie überall hin mit – in Geschäfte, in Restaurants, in Cafés, sogar in Banken und Büros.“
„Das ist ja toll! Ich wünschte, in England wäre es auch so.“
„In vielen Hotels darf man seine Katze oder seinen Hund mitbringen, selbst in den großen Etablissements wie dem Hotel Sacher. Für die vierbeinigen Gäste gibt es spezielle Decken, Handtücher, Fressnäpfe und Körbchen. So will ich es in meinem Hotel auch machen.“