Nach dem Fiasko in der Wellness—Oase und in der Sauna verliefen der Rest des Nachmittags und der Abend angenehm ereignislos. Wir unternahmen eine Kutschfahrt durch Wien – typischer Touristenkitsch, aber ich genoss sie trotzdem. Es hatte etwas zeitlos Romantisches an sich, in einem eleganten Fiaker zu sitzen, von einem Kutscher mit dunkler Uniform und Melone durch die engen, kopfsteingepflasterten Gassen gefahren zu werden und dem rhythmischen Echo des Klipp-Klopps der Pferdehufe zu lauschen.
Als die Kutsche uns absetzte, machten wir uns auf den Weg zur Fußgängerzone, die für ihre vielfältigen Einkaufsmöglichkeiten bekannt ist. Wir bestaunten Designerläden mit schicken Marken und große alte Wiener Cafés mit ihren köstlichen Torten und Mehlspeisen und schoben uns durch die breite Allee mit den anderen Touristen, die Selfies mit der riesigen Turmspitze des Stephansdoms machten und die Straßenmusiker bewunderten, die eine flotte Version des Donauwalzers spielten. Trotz des grauen Herbstwetters herrschte eine wunderbare Atmosphäre, fast wie auf einem Jahrmarkt, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich Urlaub zu haben.
In einem Gasthaus mit regionaler Küche aßen wir früh zu Abend und nutzten die Gelegenheit, den berühmten Tafelspitz zu probieren, ein traditionelles Wiener Gericht aus in Brühe gekochtem Rindfleisch mit Wurzelgemüse und aromatischen Gewürzen. Es galt als das Lieblingsgericht von Kaiser Franz Joseph I., obwohl ich zugeben muss, dass mich die Beschreibung des Gerichts anfangs nicht begeisterte. Aber als das Essen schließlich vor uns stand, war ich angenehm überrascht. Das Rindfleisch war wunderbar zart und die knusprigen Bratkartoffeln passten perfekt zu den geraspelten säuerlichen Äpfeln und dem cremigen Meerrettich. Schließlich kehrten wir müde und satt in unser Hotel zurück, und ich stellte überrascht fest, dass die Silberlocken den Mord an Wagner in den letzten Stunden nicht ein einziges Mal erwähnt hatten.
Die Füße taten mir weh, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als sie hochzulegen, aber Müslis eindringliches Miauen erinnerte mich daran, dass sie den ganzen Tag in unserer Suite gewesen war. Mit einem müden Seufzer nahm ich sie auf den Arm und trug sie die Treppe hinunter in den Musiksalon, weil ich zu faul und zu erschöpft war, um mit ihr nach draußen zu gehen. Müsli schien nichts dagegen zu haben - sie schnurrte fröhlich, als ich sie im Musiksalon absetzte, und trabte sofort los, um das Kinn an verschiedenen Möbelstücken zu reiben. Dann stürzte sie sich auf etwas in der Ecke hinter den schweren Vorhängen, um gleich darauf quer durch den Raum zu jagen und dabei ihren Fund mit den Pfoten vor sich herzutreiben. Ich musste lachen und staunte wieder einmal, womit sich Katzen vergnügen konnten – in diesem Fall handelte es sich um ein zerknülltes Stück Papier. Als Müsli es mir vor die Füße schlug, bückte ich mich, um es aufzuheben … und zuckte zusammen.
Auf dem Papier stand etwas geschrieben – in einer Schrift, die mir bekannt vorkam.
Hastig glättete ich den Papierfetzen, auf dem das Logo des Hotels zu sehen war, und starrte auf das kaum leserliche Gekritzel. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Es war Wagners Handschrift, da war ich mir sicher. Die linke untere Ecke war abgerissen, und ich hatte keinen Zweifel, dass es sich dabei um das Stück handelte, das man für den „Abschiedsbrief“ gehalten hatte. Als ich nun die Worte auf dieser Seite las, wurde mir klar, warum die Formulierungen in Wagners „letzter Botschaft“ so seltsam geklungen hatten – sie war nur ein Teil des ursprünglichen Textes.
Wagner hatte keinen Abschiedsbrief geschrieben, sondern eine Kritik. Offensichtlich hatte er an einem Entwurf für eine Hotelkritik gearbeitet: Er hatte Zeilen durchgestrichen und umgeschrieben, Wörter eingefügt und Sätze korrigiert. Am Rand waren sogar einige hingekritzelte Bilder zu sehen. Darunter befanden sich zwei Absätze, einer auf Deutsch und einer auf Englisch, wo Wagner offensichtlich seinen Originaltext für eine englischsprachige Publikation übersetzt hatte. Von diesem Text fehlte ein Stück. Die vollständigen Sätze lauteten:
Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich hatte genug gelitten und ich musste gehen. Man würde mir verzeihen, wenn ich dieses Hotel als eine abgrundtiefe Schande bezeichne, angesichts des mittelmäßigen Service, des faden Essens und der entsetzlichen Einrichtung, die man mir zugemutet hat …
Ich verzog das Gesicht, als ich den Rest der Kritik las. Wagner hatte offenbar großen Spaß daran, andere schlecht zu machen und sie zu verletzen. Vermutlich hätte er zu seiner Verteidigung vorgebracht, es sei seine Pflicht, seine Leser zu unterhalten und zu informieren, doch ich fand seinen Text unnötig grausam und sarkastisch und ich spürte, wie meine Abneigung gegen den ermordeten Mann wuchs: Wagner hatte die Macht genossen, die ihm seine Kritiken gaben.
Ein derart vernichtendes Urteil war der Albtraum eines jeden Hotelbesitzers und manch einer würde mit allen Mitteln verhindern wollen, dass es an die Öffentlichkeit gelangte. Eigentlich konnte ich es Sofia nicht verdenken, dass sie Wagner gehasst hatte und nicht wollte, dass er seine Meinung verbreitete. Die Frage war jedoch, wie weit sie gehen würde, um ihn zum Schweigen zu bringen. Würde sie dafür sogar morden?
Es würde auf jeden Fall alles zusammenpassen. Und es würde erklären, was sie nach Wagners Tod am Kamin gemacht hatte: Sie hatte diesen Zettel gesucht. Aus irgendeinem Grund war er zerknüllt im Kamin gelandet - und Sofia hatte versucht, ihn zu finden. Ich runzelte die Stirn. Aber warum hatte sie ihn übersehen? Zugegeben, ich hatte sie gestört, als ich hereinkam, und dann war die Polizei gekommen - aber sie hätte später reichlich Gelegenheit gehabt, danach zu suchen, etwa in der Nacht, wenn alle Gäste schliefen. Warum hatte sie es nicht getan?
Als hätten meine Gedanken sie herbeigezaubert, öffnete sich die Tür zum Musiksalon und Sofia Fritz trat ein. Ich erstarrte, doch dann wurde mir klar, dass sie mich nicht sehen konnte, weil ich in der Ecke bei den schweren Vorhängen hinter einem Lehnsessel hockte. Ich hätte mir jedoch keine Sorgen machen müssen, denn sie ging sofort zum Kamin und kniete sich davor, ohne einen Blick für den Rest des Raums. Ich beobachtete interessiert, wie sie sich in die Brennmulde beugte und umhertastete, wobei sie leise vor sich hinmurmelte. Dann setzte sie sich mit einem frustrierten Seufzer auf die Fersen. Ich befingerte das Stück Papier in meinen Händen, dann stand ich spontan auf und trat hinter dem Sessel hervor.
„Hallo, Sofia“, sagte ich.
Sie wirbelte herum. „Gemma! Äh … wie … wie war es in der Sauna?“
„Was suchen Sie?“
Sie leckte sich nervös die Lippen. „Was meinst du?“
„Na, ein Feuer können Sie im Kamin jedenfalls nicht machen …“ Ich sah sie herausfordernd an. „Stefan hat mir gesagt, dass der Kamin eine Attrappe ist.“
Sofia schwieg, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte.
Ich hielt den Papierfetzen hoch. „Ist es das?“
Sie schnappte nach Luft. „Wo hast du das gefunden?“ Sie streckte die Hand aus und versuchte, ihn mir zu entreißen, aber ich hielt ihn außer Reichweite.
„Wagner hat das geschrieben, nicht wahr? Und Sie wollten verhindern, dass er es veröffentlicht - deshalb haben Sie ihn ermordet.“
„Nein!“ Sofia schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Ich habe Wagner nicht ermordet! Wie kannst du das von mir denken?“
„Es wäre verständlich, wenn Sie zumindest mit dem Gedanken gespielt hätten“, erwiderte ich sanft. „Ich habe die Kritik gelesen. Sie ist ziemlich vernichtend. Kein Hotelbesitzer würde wollen, dass so etwas an die Öffentlichkeit gelangt.“
„Ja, aber deswegen würde ich niemanden umbringen!“, sagte Sofia entgeistert. Sie holte tief Luft. „Ich gebe zu - ich habe den Zettel weggenommen. Ich war als Erste hier, nachdem deine Freundin, Miss Bailey, die Leiche entdeckt hat, und sah ihn auf dem Tisch neben dem Sessel liegen. Ich hatte kaum Zeit, ihn zu lesen, da stürmten schon die anderen herein. Ich … ich geriet in Panik. Ich habe ihn zerknüllt und in den Kamin geworfen, damit ihn niemand sieht.“ Sie verzog das Gesicht. „Mir ist nicht aufgefallen, dass eine Ecke des Zettels unter Wagners Kaffeetasse klemmte. Als ich nach ihm griff, muss ein Stück abgerissen und auf dem Tisch liegen geblieben sein. Dann hieß es, die Polizei hätte einen Abschiedsbrief gefunden, und mir ging auf, was offenbar passiert war - aber ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen, weil ich dann hätte zugeben müssen, dass ich mich am Tatort aufgehalten habe. Außerdem wollte ich nicht riskieren, dass der Text an die Öffentlichkeit gelangt.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich konnte ihn sowieso nicht finden. Ich eilte so schnell wie möglich hierher zurück, um ihn zu holen, aber dann kamst du … und dann war die Polizei hier. Gegen Mitternacht habe ich es noch einmal versucht – ich dachte, um diese Zeit könnte ich mich ungestört umsehen und überhaupt kommen nicht viele Leute in den Musiksalon. Aber leider war er wie vom Erdboden verschluckt!“
Mein Blick fiel auf Müsli, die auf einem verblichenen Teppich vor dem Kamin lag, und mir ging ein Licht auf. „Weil meine Katze schneller war“, erklärte ich. „Ich war am Abend mit ihr hier, als Sie noch mit der Polizei gesprochen haben. Sie ist wie wild herumgesprungen und hat sich ausgetobt. Ich habe gesehen, dass sie sich im Kamin auf etwas gestürzt und damit gespielt hat, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Müsli muss den zerknüllten Zettel gefunden und aus dem Kamin gefegt haben. Beim Spielen ist er dann hinter den Vorhängen gelandet. Deshalb haben Sie ihn nicht gefunden.“
Sofia ließ sich seufzend auf einen der Sessel sinken. Plötzlich sah sie alt und mutlos aus. „Ich weiß, es war falsch von mir, den Zettel wegzunehmen. Aber … ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass jemand Wagners Kritik liest. Oh, die schrecklichen Sachen, die er gesagt hat. Es tut mir leid, dass er tot ist, aber ich werde nicht so tun, als hätte ich ihn gemocht. Moritz Wagner war ein … sadistisches Schwein.“ Sie sah mich an und reckte entschlossen das Kinn in die Höhe. „Aber ich habe ihn nicht ermordet. Als ich den Schrei hörte, war ich in der Küche, weil ich den Apfelstrudel für den nächsten Tag machen musste. Ich war gar nicht in der Nähe des Musiksalons.“
Ich konnte nicht mit letzter Gewissheit davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagte. Vielleicht hörte ich nur, was ich hören wollte – der Gedanke, dass diese liebe Frau, die älteste Freundin meiner Mutter, eine Mörderin sein könnte, behagte mir überhaupt nicht -, aber ich meinte, eine Aufrichtigkeit aus ihren Worten herauszuhören.
„Ich glaube Ihnen“, sagte ich schließlich.
Sofia entspannte sich, dann fragte sie zaghaft: „Wirst du … wirst du der Polizei davon erzählen?“
Ich zögerte. „Sofia, ich muss es tun“, antwortete ich schließlich voller Bedauern. „Durch diesen Zettel ändert sich alles in diesem Fall. Wagners Tod ist mir gleich verdächtig vorgekommen, aber das ist der Beweis. Wenn Wagner keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat, ist die Theorie vom Selbstmord hinfällig - was wiederum bedeutet, dass er ermordet wurde. Die Polizei muss das wissen, es ist wichtig für ihre Ermittlungen.“
Sie nickte stumm mit hängenden Schultern. Sie tat mir leid.
„Ich werde versuchen, mit Inspektor Gruber zu sprechen und ihn davon zu überzeugen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Wenn es irgendwie möglich ist, erwähne ich den Zettel gar nicht“, versprach ich.
Sofia warf mir einen dankbaren Blick zu. „Danke, Gemma.“
Ich nahm Müsli auf den Arm und wollte schon gehen, als mir etwas einfiel. „Sofia, Stefan hat mir die geheime Falltür im Kamin und die Leiter gezeigt, die in den Weinkeller hinunterführt. Können Sie mir sagen, wer noch davon wissen könnte? Der Mörder hätte den Musiksalon auf diese Weise unbeobachtet betreten und wieder verlassen können.“
Sofia runzelte die Stirn. „Ich habe es vielleicht dem einen oder anderen Gast gegenüber erwähnt … Ana Bauer, glaube ich – wir haben uns neulich über die Renovierungsarbeiten unterhalten. Aber die Tür zum Weinkeller ist verschlossen, es wäre also nicht möglich, dass jemand auf diesem Weg in den Raum gelangt.“
Damit bestätigte sie, was Stefan mir erzählt hatte.
„Sind Sie sicher?“
Sie stieß ein freudloses Lachen aus. „Ja, die Tür zum Weinkeller ist sehr schwer und das Schloss ist äußerst stabil. Der Mörder müsste schon durch Wände oder verschlossene Türen gehen können, um durch den geheimen Schacht in den Musiksalon zu gelangen.“