Nach dem Gespräch mit Sofia war ich besorgt und ziemlich durcheinander. Natürlich war ich erleichtert, dass sie nichts mit Wagners Tod zu tun hatte, aber das bedeutete, dass der wahre Mörder noch immer unbehelligt herumlief. Es musste einer der Gäste sein - aber wer? Die Chows kamen nicht in Frage, ebenso wenig wie Jane Hillingdon und ihre Mutter. Johann Müller und Stefan Dreschner konnten es auch nicht sein: Mrs Hillingdon und Müller waren zusammen in der Gästelounge, während sich Stefan und Jane im Empfangsbereich aufhielten, und keiner von beiden hätte unbemerkt verschwinden können.
Es blieben also nur Ana Bauer und Randy McGrath übrig. Im Gegensatz zu den Silberlocken hielt ich nichts von ihrer Theorie, dass es sich um eine Beziehungstat handelte, bei dem sich eine verbitterte und zornige Frau an dem Mann rächen wollte, der ihren Stolz und ihre Gefühle verletzt hatte. Nach unserer Begegnung mit Ana in der Sauna war ich mir jedoch nicht sicher, ob nicht vielleicht Habgier das Motiv gewesen sein könnte, begangen von einer kühl kalkulierenden Geschäftsfrau, die einen klaren Blick für gewinnbringende Chancen hatte.
Aber hatte Ana überhaupt die Gelegenheit, ihren Ex-Freund vom Balkon zu stoßen? Schließlich hatte sie ein Alibi. Nein, eigentlich hatte sie kein Alibi, denn niemand konnte bezeugen, dass sie die ganze Zeit über in der oberen Etage war. Ich hatte zwar selbst gesehen, wie sie mit den Silberlocken aus dem Aufzug kam, aber sie hätte Wagner trotzdem umgebracht haben und dann irgendwie nach oben gelangt sein können, um sich ein Alibi zu verschaffen. Da fiel mir plötzlich die Hintertreppe ein, die Mei-Mei und ich gestern Abend benutzt hatten. Man erreichte sie durch den Notausgang am Ende des Flurs und die befand sich unmittelbar neben der Tür zum Musiksalon. Ana Bauer hätte also tatsächlich die Hintertreppe hinunterlaufen, in den Musiksalon schleichen, Wagner vom Balkon stoßen und dann wieder hinauflaufen können.
Ich runzelte die Stirn. Dafür hätte sie sehr schnell sein müssen, und außerdem schien es mir eine unnötig komplizierte und verworrene Mordmethode zu sein für jemanden, der das Zimmer mit Wagner geteilt und somit reichlich Gelegenheit hatte, ihn entweder von ihrem eigenen Balkon zu stoßen oder ihm Gift in seinen Drink zu schütten.
Vielleicht war es also doch nicht Ana Bauer gewesen, sondern der andere Verdächtige: Randy McGrath. Der gutaussehende junge Amerikaner hatte sich ebenfalls seltsam verhalten. Was hatte er gestern auf dem Schreibtisch im Büro gesucht? Natürlich war mir klar, dass nicht jeder des Mordes schuldig war, der an Orten herumschnüffelte, an denen er nichts zu suchen hatte. Ich hatte mich ja selbst unerlaubterweise ins Büro geschlichen und die Silberlocken stünden unter Dauerverdacht, wenn man danach ging, wie oft sie ihre Nase in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen. Trotzdem hatte ich eine vage Ahnung, dass Randys Auftauchen im Büro etwas mit dem Mord zu tun hatte. Allerdings konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum er Wagner hätte umbringen wollen.
Plötzlich fiel mir ein, dass Devlin versuchen wollte, etwas über Randy oder Ana herauszufinden, auch wenn er nicht viel Zeit für seine Recherchen gehabt hatte. Es war ja kaum vierundzwanzig Stunden her, dass wir telefoniert hatten, aber Geduld war noch nie meine Stärke gewesen …
„Gemma, dir ist klar, dass wir erst gestern darüber gesprochen haben, oder?“, fragte Devlin verärgert.
„Ja, ich weiß, ich weiß … aber hast du etwas?“, bettelte ich.
„Ausnahmsweise hast du Glück“, gab Devlin nach. „Ich wollte dich anrufen, sobald ich nach Hause komme. Mein Kontakt bei Interpol hatte heute etwas Zeit und hat sich für mich auf die Suche gemacht. Er hat nicht viel über deine österreichische Dame herausgefunden - abgesehen von einer Kleinigkeit.“
„Und die wäre?“
„Die Kunstgalerie, für die sie vor der Eröffnung ihres eigenen Geschäfts gearbeitet hat, war in einen Skandal verwickelt. Die Inhaber wurden beschuldigt, Fälschungen zu verkaufen, ein Kunde hat sogar geklagt, aber das Verfahren wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt.“
„Wirklich? Und hatte Ana etwas damit zu tun?“
„Nein, das ist ja das Merkwürdige. Im Zuge der Ermittlungen wurde sie natürlich befragt, aber dabei stellte es sich heraus, dass sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Sie verließ die Galerie jedoch, kurz nachdem der Skandal an die Öffentlichkeit gelangte.“
„Hmm …“
„Über deinen amerikanischen Freund habe ich auch etwas herausgefunden“, fuhr Devlin fort. „Er hat dir die Wahrheit gesagt - er besitzt eine Ranch in Florida und züchtet Lipizzaner, trainiert sie und tritt mit ihnen auf. Offenbar hat er sich in den USA einen Namen als Experte für diese Rasse gemacht.“
„Gehört ihm die Ranch schon lange?“
„Ja, seit einer ganzen Weile. Er hat sich vor fünf Jahren für den Kauf viel Geld geliehen, aber jetzt scheint er Schwierigkeiten zu haben, seine Hypothek zurückzuzahlen.“
„Oh? Er hat also finanzielle Schwierigkeiten?“
„Sieht so aus. Natürlich habe ich keinen Zugang zu Details.“
„Was ist mit der Familie?“ fragte ich.
„Er ist nicht verheiratet, ist Einzelkind, also keine Geschwister und auch sonst keine Verwandten: Sein Vater ist vor einigen Jahren nach einem Schlaganfall gestorben und seine Mutter starb letztes Jahr an Krebs.“
„Weißt du etwas über seine Mutter? Ich habe heute Vormittag versucht, Randy nach ihr zu fragen, aber er hat dichtgemacht.“
„Lass mich sehen … hm, ja, sie war bereits recht alt, als Randy zur Welt kam. Sie ist mit achtundsechzig gestorben und Randy ist jetzt dreißig Jahre alt. Also muss sie bei seiner Geburt fast vierzig gewesen sein. Vielleicht erklärt das, warum er keine Geschwister hat.“
„Hat sie auch spät geheiratet?“
„Nein, sie scheint eher sehr jung geheiratet zu haben. Sie hat Österreich mit siebzehn verlassen und ist mit ihrem Mann in die Staaten ausgewandert. Er war Ire, von Beruf Jockey. Und dann hat er auf einem großen Gestüt in Wyoming Arbeit gefunden.“
„Moment mal, heißt das, Randys Mutter war Österreicherin?“
„Ja, sie ist in Wien geboren, sie hieß Birgit Wagner mit Mädchennamen.“
„ Was? “ Ich setzte mich kerzengerade auf. „Ihr Mädchenname war Wagner?“
„Ja, wieso? Oh, natürlich – das Opfer hieß Wagner mit Nachnamen.“ Devlin klang verärgert, weil er den Zusammenhang nicht sofort gesehen hatte. „Ich habe diese Notizen nur überflogen, sonst wäre mir das aufgefallen.“
„Ist schon okay. Du hast ja genug um die Ohren und kannst nicht auf alles achten“, sagte ich. „Aber das ist brillant! Es könnte erklären, warum Randy ihn aus dem Weg räumen wollte, vorausgesetzt, er ist mit Wagner verwandt. Der war ein eingefleischter Junggeselle, was bedeutet, dass Randy möglicherweise sein engster Verwandter ist und sein gesamtes Vermögen erbt. Du sagst ja, dass er finanzielle Schwierigkeiten hat.“
„Gemma“, sagte Devlin warnend, „keine voreiligen Schlüsse bitte. Wagner ist in Österreich ein sehr weit verbreiteter Name; ich glaube, es ist sogar der vierthäufigste Nachname im ganzen Land. Nur weil Randys Mutter denselben Nachnamen hatte, muss das noch lange nichts heißen.“
„Ich bin sicher, dass es kein Zufall ist“, beharrte ich.
„Und selbst wenn sie verwandt sein sollten, weißt du nichts über die Familie. Randy könnte Geschwister haben, von denen wir nichts wissen, oder Wagner hat möglicherweise uneheliche Kinder. Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht: Randy hat den Mann ermordet, um an sein Vermögen zu kommen. Du weißt aber gar nicht, ob er wirklich von Wagners Tod profitiert. Du kennst nicht einmal die Details von Wagners Testament. Vielleicht hat er sein gesamtes Geld einem Verein zur Rettung streuender Katzen vermacht!“
„Schon gut, schon gut“, schmollte ich. „Verdirb mir ruhig die Laune.“
„Es tut mir leid“, sagte Devlin mit einem Lachen in der Stimme. „Ich will dir keinen Strich durch die Rechnung machen, aber du solltest keine Vermutungen anstellen, ohne Beweise zu haben.“
„Du klingst wie ein Dozent an der Polizeiakademie“, brummelte ich. „Na schön! Kannst du mir dann ein paar Beweise besorgen und herausfinden, ob Brigit Wagner mit Moritz Wagner verwandt ist und welche anderen Familienmitglieder es gibt? Oh, und dann ist da noch Wagners Testament.“
„Das sind keine Kleinigkeiten, Gemma. Ich werde mein Bestes tun, aber ich kann nichts versprechen. Und ich habe ganz bestimmt bis morgen keine Ergebnisse, egal wie sehr du bettelst“, fügte er mit gespielter Strenge hinzu.
„O-kay“, sagte ich grinsend.
„Das heißt aber nicht, dass du mich nicht anrufen darfst, wenn du meine Stimme hören willst“, scherzte Devlin.
Ich lächelte. „Könnte gut sein, dass ich das mache.“