KAPITEL 26

 

 

 

 

Mabel bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Stehen Sie nicht einfach herum – rufen Sie einen Krankenwagen!“, befahl sie.

Ich sah Stefan neben Randy und Müller stehen, alle drei Männer starrten wie vom Donner gerührt auf die verletzte Frau am Boden, aber Mabels Stimme schien Stefan aus seiner Benommenheit zu reißen.

„Ja, natürlich …“, murmelte er, drehte sich um und eilte zur Rezeption.

Eine leichenblasse Sofia kam mit einem Glas Wasser, hockte sich neben die alte Dame und hielt ihr das Glas an die Lippen. Sie sah auf und unsere Blicke trafen sich. Vermutlich dachte sie dasselbe wie ich: Hat der Mörder wieder zugeschlagen? Ich betrachtete die Gesichter um mich herum. Außer den Chows waren alle Gäste hier, und wenn es sich bei dem Angreifer nicht um einen Eindringling von draußen handelte, war der Mörder einer von uns. Das aufgeregte Gemurmel und die misstrauischen Blicke unter den Umstehenden ließen vermuten, dass ich nicht als Einzige so dachte.

Kurze Zeit später trafen die Polizei und der Krankenwagen ein und Mrs Hillingdon wurde von den Sanitätern verarztet. Sie hatte sich ein wenig erholt, doch das Sprechen fiel ihr immer noch schwer und an ihrem Hals zeigten sich hässliche rote Flecken. Doch die alte Dame war zäh – sie wollte auf keinen Fall zur Beobachtung ins Krankenhaus, obwohl die Sanitäter ihr dringend dazu rieten, weil die Schwellung schlimmer werden und die Atmung beeinträchtigen konnten.

„Mum, du gehörst ins Krankenhaus, das ist wirklich wichtig“, sagte Jane, die sich ausnahmsweise kurzfasste.

Vielleicht war es der Schock, ihre Tochter nicht mehr als einen einzigen Satz sagen zu hören, der Mrs Hillingdon schließlich einlenken ließ. Als sie von den Sanitätern hinausgetragen wurde, konnte ich erkennen, dass die schrecklichen Flecken an ihrem Hals genau die Finger abbildeten, die versucht hatten, sie zu erwürgen. Aber warum? Warum sollte jemand die alte Mrs Hillingdon umbringen? Und wer würde so etwas tun? Die Silberlocken bewegten offensichtlich die gleichen Gedanken, denn sobald die Befragung durch die Polizei beendet war und wir in unsere Suite zurückkehren durften, spekulierten sie, wer ihr das angetan hatte.

„Ich tippe nach wie vor auf Ana Bauer“, beharrte Glenda. „Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass sie die Mörderin ist. Erst hat sie Moritz umgebracht und dann hat sie versucht, Mrs Hillingdon zu töten.“

„Aber sie saß doch bei diesem amerikanischen Jungen, Randy, nicht wahr?“, fragte Ethel. „Ich habe sie miteinander reden sehen.“

„Vielleicht hat Randy ihr geholfen. Ich bin überzeugt, dass er der Mörder ist“, sagte Florence.

„Keiner von beiden ist der Mörder“, erklärte Mabel herrisch. „Der Mörder ist Stefan Dreschner. Ich habe mir vorhin zum ersten Mal seine Hände genau angesehen. Ist euch aufgefallen, wie kurz seine Zeigefinger sind?“

„Seine Zeigefinger?“, wiederholte ich verständnislos.

Mabel nickte eifrig. „Ich habe ein Buch über Chiromantie gelesen, in dem stand, dass Menschen mit auffallend kurzen Zeigefingern kriminelle Neigungen aufweisen.“

Ich verdrehte die Augen. „Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe! Nur weil der arme Mann mit kürzeren Zeigefingern geboren wurde als andere Leute, haben Sie etwas gegen ihn? Und überhaupt – was ist mit dem Motiv? Ich verstehe nicht, warum es jemand auf Mrs Hillingdon abgesehen hat.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ergibt einfach keinen Sinn! Im Fall von Wagner war es logisch, alle zu verdächtigen, denen sein Tod aus irgendeinem Grund nützte. Aber mit dem Angriff auf Mrs Hillingdon sind unsere Spekulationen über den Haufen geworfen.“

„Ja, jetzt müssen wir alle in Betracht ziehen, die nicht nur mit Wagner, sondern auch mit Mrs Hillingdon zu tun hatten“, stimmte Florence mir zu und nickte.

„Das ist … das ist einfach zu kompliziert!“ Ich war gereizt. „Es gibt überhaupt keine Verbindung zwischen den beiden. Der eine ist ein österreichischer Kunst- und Restaurantkritiker mit vielen Liebschaften und vielen Feinden, die andere ist eine nette alte Engländerin, die in Wien Urlaub macht und keine Feinde hat, soweit wir wissen. Wie sind sie beide ins Visier des Mörders geraten?“

„Vielleicht siehst du die Sache falsch, Liebes“, meinte Mabel. „Es gibt keine Verbindung zwischen den beiden, der Mörder hatte es nur auf Wagner abgesehen … aber Mrs Hillingdon ist ihm lästig geworden.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

„Der Mörder hat nichts gegen Mrs Hillingdon persönlich, er will sie nur zum Schweigen bringen, weil sie eine Gefahr für ihn darstellt.“

„Ja, ja“, sagte Ethel aufgeregt. „Genau wie in Agatha Christies ,Ein Mord wird angekündigt‘! Da wurden das zweite und dritte Opfer getötet, weil sie die Mörderin hätten erkennen können.“

„Aber Mrs Hillingdon weiß nicht, wer der Mörder ist, sonst hätte sie es gesagt“, wandte ich ein.

„Vielleicht weiß sie nicht, dass sie es weiß“, sagte Mabel.

„Was?“ Allmählich verlor ich den Überblick.

„Nun, vielleicht -“

Ein verärgertes Miauen ließ Mabel verstummen. Müsli saß zu meinen Füßen und sah mich vorwurfsvoll an.

Miau! “, machte sie wieder und stieß mich mit dem Kopf an.

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. „Ach du meine Güte! Es ist schon nach acht Uhr und Müsli hat noch nichts zu fressen bekommen!“

Während ich eine Dose Katzenfutter holte, überlegten die Silberlocken, wo wir zu Abend essen sollten. Nach einigem Hin und Her entschieden sie sich für ein Restaurant, das Mabels allwissender Reiseführer wärmstens empfahl. Also folgten wir ihr gehorsam zu einem rustikal eingerichteten Lokal in der Nähe. Auf der Speisekarte standen ausschließlich traditionelle Wiener Gerichte, vor allem das berühmte Wiener Schnitzel. Es war so hervorragend zubereitet - ein hauchdünnes Kalbsschnitzel in knuspriger Panade goldbraun gebraten, serviert mit Petersilienkartoffeln und einer Zitronenspalte -, dass man wunschlos glücklich war. Na ja, vielleicht nicht ganz … ein Dessert wäre großartig. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde in Österreich angesichts der köstlichsten Kuchen und Torten auf das Dessert verzichten!

Als wir uns schließlich auf den Rückweg machten, war es schon spät - weit nach halb elf - und im Hotel war es ruhig. Die Lichter in der Lobby waren gedämpft und die Gästelounge war leer. Stefan saß jedoch an seinem üblichen Platz hinter seinem Laptop an der Rezeption.

„Grüß Gott!“, begrüßte er uns lächelnd. „Hatten Sie einen schönen Abend?“

„Ja, das essen war köstlich. Haben Sie etwas aus dem Krankenhaus gehört?“, fragte ich.

Seine Miene wurde schlagartig ernst. „Ja, Frau Hillingdon geht es besser. Die Schwellungen sind zurückgegangen, sie hat Schmerzmittel bekommen und ruht sich jetzt aus. Die Ärzte sagen, dass sie großes Glück gehabt hat – ihr Kehlkopf ist nicht schlimm verletzt.“

„Das hört sich gut an“, sagte ich erleichtert. Ich mochte die ruhige, leidgeprüfte Mutter von Jane Hillingdon. „Sie wird also über Nacht im Krankenhaus bleiben?“

„Ja, eine Vorsichtsmaßnahme. Ihre Tochter ist bei ihr.“

„Hat sie schon etwas über ihren Angreifer gesagt?“

Stefan schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht. Die Polizei wird sie morgen im Krankenhaus befragen.“ Er sah sich in der Lobby um. „Ich habe mit Sofia geredet. Wir überlegen, ob wir die Sicherheitsvorkehrungen auf dieser Etage erhöhen müssen. Jeder Dahergelaufene kann einfach von der Straße ins Hotel gelangen und einen Gast überfallen. Eigentlich ist dies ein sicheres Viertel, daher hatten wir gedacht, wir bräuchten uns darum keine Sorgen zu machen, aber … nun, ich nehme an, Kriminelle gibt es überall.“

Der Höflichkeit halber murmelte ich etwas Nichtssagendes, obwohl ich überzeugt war, dass sie sich etwas vormachten und die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Sofia wusste so gut wie ich, dass es sich bei dem Angreifer nicht um jemanden handelte, der sich zufällig in der Gegend herumgetrieben hatte. Gleichzeitig hatte ich Verständnis dafür, dass sie die Tatsache, möglicherweise einen Mörder zu beherbergen, herunterspielen wollten. Allein der Gedanke war unheimlich genug, ohne dass man es aussprach. Vermutlich wollten sie verhindern, dass die Gäste fluchtartig das Hotel verließen.

„Übrigens, haben Sie Mr und Mrs Chow und ihre kleine Tochter gesehen?“, fragte ich.

„Ah, ja - sie waren vorhin bei mir. Sie haben beschlossen, früher abzureisen“, sagte Stefan bedauernd. „Sie werden morgen auschecken.“

„Oh.“ Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ob ihre Entscheidung etwas mit dem unerfreulichen Gespräch in unserer Suite zu tun hatte? Hoffentlich würde ich Mei-Mei noch einmal sehen, bevor sie abreiste - ich wollte mich richtig von ihr verabschieden, damit unsere kurze Freundschaft nicht mit dieser unangenehmen Szene endete. „Wissen Sie, ob sie gleich morgen früh auschecken?“

„Nein, ich glaube, sie bleiben bis zum späten Vormittag.“

„Oh, gut. Ich … ich wollte mich gern von dem kleinen Mädchen verabschieden.“

„Die Kleine? Die habe ich vorhin gesehen …“ Stefan sah sich in der Lobby um. „Vielleicht ist sie in der Gästelounge?“

Ich lief schnell den Flur hinunter und warf einen Blick in die Gästelounge, doch da war niemand. Seufzend kehrte ich zur Rezeption zurück und ging dann zu den Silberlocken hinauf in die Suite. Wir waren alle müde und beschlossen, früh zu Bett zu gehen. Als ich mich auszog, fiel mir ein blauer Fleck an meinem Arm auf. Ich hatte mich wohl irgendwo gestoßen, ohne es zu merken. Natürlich musste ich an die schrecklichen Würgemale am Hals der alten Mrs Hillingdon denken - und an Mabels Worte: „Vielleicht weiß sie nicht, dass sie es weiß.“ War es möglich, dass die alte Dame den Schlüssel zur Identität des Mörders in der Hand hielt? Aber wie sollte sie? Hatte sie an jenem Tag etwas gesehen?

Einem spontanen Entschluss folgend nahm ich mein Telefon vom Nachttisch. An dem Tag, an dem wir uns im Belvedere Palace getroffen hatten, hatte Jane Hillingdon darauf bestanden, dass wir unsere Telefonnummern austauschen, und obwohl ich nur widerwillig zugestimmt hatte, war ich jetzt froh darüber. Sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln und klang etwas weniger munter als sonst, war aber fast genauso gesprächig wie eh und je.

„Gemma! Nein, nein, es ist noch nicht zu spät … es ist doch gerade erst elf, oder? Normalerweise gehen wir nicht vor zwölf zu Bett. Wie nett von Ihnen, dass Sie anrufen … es ist Gemma, Mum, sie fragt nach dir - ist das nicht nett? Oh, Mum geht es gut … die Ärzte sagen, wir sollen uns keine Sorgen machen. Jedenfalls glaube ich, dass sie das gesagt haben, sie reden ja hauptsächlich auf Deutsch und die Wörter stehen nicht alle in meinem Sprachführer … aber der Chefarzt meinte, dass Mum wieder gesund wird. Ich hatte wirklich Angst, das kann ich Ihnen sagen … aber sie kann schon wieder essen und trinken - oh, nur weiche Nahrung, Pudding und so - und sie sagten, dass sie morgen entlassen wird …“

„Hat sie Ihnen erzählt, was genau passiert ist? Hat sie gesehen, wer sie angegriffen hat?“

„Nein, ich habe sie gefragt … er kam von hinten, er hat … Jedenfalls nehme ich an, dass es ein Mann war, aber es hätte genauso gut eine Frau sein können … Mum sagt, sie habe auf dem Sofa gesessen und die Maschen gezählt, als diese Person sie von hinten am Hals gepackt hat - oh mein Gott, hätten Sie nicht auch Angst gehabt, wenn Ihnen das passiert wäre? Ich würde - ich glaube, ich wäre wie gelähmt, aber Mum lässt sich nicht unterkriegen - sie hat sich gewehrt und gezappelt und hat versucht, seine Hand wegzuziehen und - was sagst du, Mum? … Oh, Mum sagt, sie hat ihren Angreifer mit einer ihrer Stricknadeln erwischt – und hat zugestochen. Da hat er losgelassen und ist weggerannt.“

„Wie mutig!“, sagte ich bewundernd und fügte schnell hinzu: „Hören Sie, würden Sie mir einen Gefallen tun? Könnten Sie Ihre Mutter bitten, an den Tag zurückzudenken, als Wagner ermordet wurde? Sie soll sich Schritt für Schritt an alles erinnern, was sie an diesem Nachmittag gesehen oder gehört hat, von dem Moment an, als sie zum Tee herunterkam, bis zu dem Augenblick, als sie Glendas Schrei hörte. Gab es irgendetwas, das ihr besonders aufgefallen ist?“

„Oh … okay …“, sagte Jane. Ihre Stimme wurde leiser, im Hintergrund hörte ich sie mit ihrer Mutter sprechen, dann meldete sie sich wieder. „Mum sagt, ihr ist nichts Besonderes aufgefallen – natürlich hat sie auch nicht so aufgepasst, sie hat nur ihren Kuchen und ihr Strickzeug genommen und ist in die Gästelounge gegangen. Dort hat sie gesessen, als sie den Schrei hörte … Was sagst du, Mum? … Oh, sie sagt, sie konnte den Flur sowieso nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zur Tür saß - alles, was sie sehen konnte, war ein Teil der Bibliothek und den Apfelstrudel von Mr Müller auf dem Tisch neben seinem Sessel - also hat sie definitiv niemanden gesehen, der sich in den Musiksalon geschlichen hat … Oh, aber davor hat sie Mr Wagners Freundin aus dem Musiksalon kommen sehen -“

„Moment – was sagen Sie da? Ihre Mutter hat Ana Bauer aus dem Musiksalon kommen sehen?“

„Ja, aber das war viel früher, als wir gerade zum Tee runterkamen … Mr Wagner war da noch am Leben - ich habe ihn selbst beim Tee gesehen und er hat sich mit Mr Müller unterhalten - also kann sie ihn nicht vom Balkon gestoßen haben - Ana Bauer, meine ich … Mum sagt, das war das einzig Merkwürdige, was ihr aufgefallen ist, denn es kam ihr seltsam vor, dass alle zum Tee runterkamen und Ana Bauer aber nach oben ging, in die andere Richtung. Sie hatte allerdings einen Teller mit Apfelstrudel dabei, also wollte sie ihn vielleicht oben essen? Aber warum fragen Sie? Meinen Sie, Mum hat an Wagners Todestag etwas Wichtiges gesehen?“ Jane stockte der Atem. „Ist sie deshalb überfallen worden? Weil der Mörder sie zum Schweigen bringen wollte?“

So geschwätzig und exzentrisch Jane Hillingdon auch sein mochte – dumm war sie auf jeden Fall nicht. Sie hatte den Zusammenhang sofort erkannt. Leider war ihre Reaktion typisch.

„Ach du meine Güte! Bedeutet das, dass Mums Leben bedroht ist? Wird sie jetzt in eines dieser Programme aufgenommen, wissen Sie, von denen im Fernsehen immer die Rede ist? In ein Zeugenschutzprogramm?“

„Nein, ich glaube nicht, dass es so ernst ist“, sagte ich. Hätte ich Jane doch nie auf diese Idee gebracht! „Am besten vergessen Sie, dass ich Sie gefragt habe. Es war nur so ein Gedanke, okay? Sofia und Stefan denken nicht, dass der Überfall auf Ihre Mutter mit Wagners Tod zu tun hat. Sie vermuten, dass es jemand war, der sich ins Hotel geschlichen hat, um die Gäste auszurauben“, fügte ich in der Hoffnung hinzu, sie abzulenken.

„Wirklich?“ Jane quietschte. „Ach du meine Güte! Das muss ich Mum erzählen … gut, dass sie ihre Handtasche nicht dabeihatte. Obwohl sie nicht viele Euros bei sich gehabt hätte – das meiste Geld, das wir getauscht haben, habe ich. Aber der Angreifer hätte ihre Kreditkarten und den Ring von Grandma klauen können, den sie immer in der Tasche hat - er ist nämlich kaputt, deshalb kann sie ihn nicht am Ringfinger tragen - ich sage ihr immer wieder, sie soll ihn reparieren lassen, aber Mum sagt, das sei nicht nötig und außerdem -“

„Äh … nun, es ist schon spät, also lasse ich Sie jetzt besser in Ruhe“, unterbrach ich sie. „Sie sind sicher müde nach all der Aufregung. Bitte grüßen Sie Ihre Mutter von mir und wünschen Sie ihr gute Besserung!“

Ich beendete das Gespräch, bevor Jane noch ein Wort sagen konnte, und ließ mich auf mein Bett fallen. Puh! Ich war erschöpft, ohne etwas Nützliches erfahren zu haben. Ich runzelte die Stirn, als ich das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ. Da war etwas - irgendetwas, das Jane gesagt hatte – es nagte an mir, aber ich konnte es nicht genau zuordnen …

War es die unerwartete Beobachtung, dass Ana im Musiksalon war, kurz bevor alle zum Tee runterkamen? Warum war sie nicht einfach unten geblieben, um ihren Apfelstrudel mit allen anderen zu essen, anstatt ihn nach oben zu bringen? Was hatte das zu bedeuten?

Dann fiel mir etwas ein, was Jane Hillingdon an dem Tag gesagt hatte, an dem wir uns im Belvedere getroffen hatten. Sie hatte von Kunstfälschungen gesprochen und davon, dass möglicherweise fünfzig Prozent der Werke auf dem Kunstmarkt gefälscht sind. Auch Devlin hatte Fälschungen erwähnt, im Zusammenhang mit der Galerie, in der Ana Bauer angestellt war. Zwar hatte man Ana von jeglicher Schuld freigesprochen, aber dennoch … war das Zufall?

Ich verspürte ein aufgeregtes Kribbeln. Das ergab alles einen Sinn! Das Rachemotiv der „verschmähten Frau“, das die Silberlocken Ana unterstellt hatten, hatte mich von Anfang an nicht überzeugt (und ihre lächerliche Idee von der „Spionin aus dem Kalten Krieg“ würdigte ich keines ernsthaften Gedankens). Habgier als Mordmotiv erschien mir jedoch schlüssig. Wenn ich an die kühle, scharfsinnige Geschäftsfrau dachte, die wir in der Wellness-Oase kennengelernt hatten, konnte ich mir gut vorstellen, dass Ana Bauer einen Mord beging, um ihre Galerie zu schützen.

Ich dachte an den ersten Morgen zurück, als ich mit den Silberlocken, Wagner und Müller beim Frühstück gesessen hatte: Ana Bauer hatte sich zu uns gesellt und sehr ungehalten reagiert, als Wagner das Fälschermuseum erwähnte. War es echte Abneigung gewesen? Oder steckte ihr schlechtes Gewissen dahinter? Traf der Spruch „Kein Rauch ohne Feuer“ in diesem Fall doch zu? Vielleicht hatte Ana damals in der Galerie versucht, gefälschte Kunst als echte Werke auszugeben. Damals konnte man ihr nichts nachweisen und so hatte sie, durch ihren Erfolg ermutigt, einen ähnlichen Betrug eingefädelt, als sie ihre eigene Galerie eröffnete. Wagner hatte ihr Geheimnis womöglich aufgedeckt - sei es durch seine eigene Expertise als Kunstkritiker oder weil Ana ihrem Geliebten gegenüber weniger vorsichtig war - er hatte begonnen, sie zu verspotten, vielleicht sogar zu erpressen …

Ja, das passt alles perfekt! , dachte ich aufgeregt. Dann runzelte ich die Stirn. Es gab immer noch eine große Frage: Wie hatte Ana ihren Ex-Freund umgebracht? Wenn es stimmte, was Mrs Hillingdon sagte, wurde Ana gesehen, wie sie die Treppe hinaufging, während alle anderen zum Tee herunterkamen. Sie hat sich also nicht in der Lobby aufgehalten. Um in den Musiksalon zurückzukehren und Wagner vom Balkon zu stoßen, musste sie sich irgendwie unbemerkt wieder hinuntergeschlichen haben. Aber wie? Über die Hintertreppe und den Notausgang? Hätte sie ihren Plan tatsächlich auf diese Weise durchführen und dann nach oben eilen können, um so zu tun, als würde sie erst mit den Silberlocken im Aufzug nach unten fahren?