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Linda Ross beobachtete die Dragão aus nur zweihundert Metern Entfernung. Das Unterseeboot, das sie lenkte, schwebte für jeden zufälligen Betrachter unsichtbar etwa zwei Meter unterhalb der Wasseroberfläche der Guanabara-Bucht. Der Gator bezog seine Antriebsenergie aus elektrischen Batterien, sodass der Schnorchel, der die Dieselmotoren mit Luft versorgte, nicht ausgefahren werden musste und daher nicht aus dem Wasser ragte, was unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich hätte ziehen können.
Als sie hörte, wie Juan Luis Machados Aliasnamen nannte, wählte Linda in Vorbereitung auf den Extraktionsvorgang einen Kurs, der sie näher an die Jacht heranführte. Obwohl auch sie eine langgediente Navy-Veteranin war, hatte sie nie Gelegenheit gehabt, ein U-Boot zu lenken, bis sie sich der Corporation anschloss. Während ihrer gesamten Dienstzeit war sie ausschließlich auf Überwasserschiffen stationiert gewesen. Nun hingegen galt sie neben dem Chairman als die fähigste U-Boot-Lenkerin auf der Oregon , und der Gator war ihr Baby.
Das Tauchboot war ein vielseitiges Wasserfahrzeug, das für den Einsatz bei Geheimoperationen konstruiert worden war. Es konnte über einen längeren Zeitraum ausschließlich mit seinen Batterien betrieben werden, um Häfen und Marinebasen heimliche Besuche abzustatten, und bot ausreichend Platz für insgesamt zehn Agenten mit vollständiger Ausrüstung. Das etwa dreizehn Meter lange Deck war eben und glatt, und nur die Kuppel des Cockpits, die aus zahlreichen kleinen Fenstern bestand, ragte in die Luft, wenn das Boot im Überwassermodus unterwegs war, und machte den Gator während geheimer nächtlicher Aufklärungsfahrten nahezu unsichtbar. Wenn aber doch eine schnelle Flucht vonnöten war, konnte Linda die eintausend PS Antriebsleistung abrufen, das Boot, dessen Profil an ein Zigarettenboot erinnerte, halb aus dem Wasser aufsteigen lassen und mit fünfzig Knoten Geschwindigkeit den Ort des Geschehens verlassen und das Weite suchen.
Sie war auf jede dieser Eventualitäten vorbereitet. Als Vizepräsidentin der Corporation war Linda Ross in die Vorbereitung von Missionen eingebunden, und speziell diese Operation erschien wegen ihrer zahlreichen unwägbaren Elemente und indirekt beteiligten Personen besonders kompliziert. Linda glaubte, dass sie einen soliden Plan entwickelt hatten, aber sie war sich gleichzeitig auch Juans Neigung bewusst, den festgelegten Handlungsablauf nach Gutdünken zu verändern, wenn unerwartete Schwierigkeiten auftraten. Seine berühmten »C-Pläne«, wie sie mittlerweile genannt wurden, entstanden nämlich überhaupt nur, weil seine B-Pläne gewöhnlich nicht ausreichten, um ihn aus den verrückten Situationen zu befreien, in die er sich meistens selbst gebracht hatte. Sie hatte lange gebraucht, um sich an diese Art des Improvisierens zu gewöhnen, die für die optimale Ausübung ihres Jobs nötig war, weil in der Navy doch ein eher starres Handlungsmuster die Grundlage der meisten Operationen war – interessanterweise war dies einer der wesentlichen Gründe, weshalb sie dort den Dienst quittiert hatte.
»Machado ist bei ihnen«, sagte sie über die Schulter, wobei ihre hohe Stimme durch die Enge der Kabine stark gedämpft wurde. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie jemand, der so groß war wie der Chairman, es so lange in dem sparsam bemessenen Cockpit aushielt, wenn er den Gator lenkte. Aber sie hatte damit keinerlei Probleme und fühlte sich auf ihrem Platz hinter den Kontrollen ausgesprochen wohl. Ihre bescheidene Körpergröße war in der Navy, wo sie ihre Autorität als Offizierin ständig aufs Neue unter Beweis stellen musste, eher von Nachteil gewesen. Aber sobald sie im Team der Corporation integriert war, hatte dies keine Bedeutung mehr für sie gehabt. Im Gegenteil, hier war ihre zierliche Gestalt für die Aufgaben, die ihr übertragen wurden, wie geschaffen.
»Wir sind hier hinten bereit«, erwiderte Mark Murphy, während er mit einer Hand auf einer Laptop-Tastatur tippte und mit der anderen eine Dose Red Bull aufstach, um sie möglichst schnell zu trinken.
»Halt dich mal ein wenig zurück«, sagte Linda. »Denk daran, dass wir keine Toilette an Bord haben. Nach der letzten Mission musste ich zwei volle Getränkeflaschen entsorgen. Und sie enthielten keine Limonade.«
»Die können unmöglich von mir gewesen sein«, sagte Murph. »Ich habe eine Blase wie ein Kamel. Ich habe sechs Stunden Bereitschaftsdienst am Stück abgerissen, ohne ein einziges Mal auf den Topf gehen zu müssen. Aber als ich dann schließlich pinkeln durfte, waren es die reinsten Niagara-Fälle.«
Grinsend schüttelte Linda den Kopf. »Beides überrascht mich kein bisschen. Und es ist viel mehr, als ich wissen wollte.«
Sie glaubte, zwischen ihr und Murph eine innere Verbindung wahrnehmen zu können, obgleich er eines der wenigen Mannschaftsmitglieder auf der Oregon war, das keine militärische Karriere vorweisen konnte. Er war als Zivilist Waffenkonstrukteur bei der Army gewesen, ehe der Chairman ihn angeworben hatte, und er war so brillant und hatte bereits einige Doktorgrade erworben, bevor die meisten seiner Altersgenossen das College auch nur verließen, sodass er einen Lebensstil pflegen konnte, der auf einem anderen Schiff als der Oregon niemals geduldet worden wäre.
Murph war begeisterter Skateboarder und sah auch so aus. Das ungekämmte, widerspenstige braune Haar und der dünne Schnäuzer und Vollbart passten ausgezeichnet zu der schwarzen Kleidung, die er bevorzugte. Heute bestand sein Outfit aus Jeans, Converse All Stars und einem weit geschnittenen T-Shirt mit dem Namenszug einer seiner Lieblingsbands: Nuclear Lobotomy, die, laut der blutroten Aufschrift auf dem Shirt, mit einer anderen Band, Hate Gorgon, auf Tournee war.
Linda konnte seinen inneren Drang, gegen willkürliche Bekleidungsvorschriften zu rebellieren, voll und ganz verstehen. Für ihn war es die Kleidung. Für sie war es ihr Haar. Befreit von den Einschränkungen der Navy, veränderte sie regelmäßig Haarschnitt und Farbe. Gegenwärtig waren es stahlblaue Locken, die auf ihre Schultern herabwallten.
»Mach mir keine Vorwürfe«, sagte Gomez Adams, der einzige andere Passagier des Gators. »Ich bin schon weitaus längere Missionen ohne Pinkelpause geflogen.«
George »Gomez« Adams war der Hubschrauber- und Drohnenpilot der Oregon . Ehe er zur Corporation stieß, hatte er im 160th Special Operations Aviation Regiment gedient, einer Eliteeinheit, die unter dem Namen Nightstalkers bekannt war und Army Ranger und Delta Force Teams zu ihren Einsatzorten flog. Linda wusste, dass er den Spitznamen Gomez der Affäre mit einer Frau verdankte, die der Morticia aus der Addams Family täuschend ähnlich sah. Sie fand, dass er sogar selbst wie die Person in dem Musical aussah, das sie am Broadway gesehen hatte. Aber er war weitaus attraktiver mit seinem Schnauzbart, den leuchtend grünen Augen und dem großspurigen Auftreten, das sich nur ein absolutes Fliegerass leisten konnte, ohne lächerlich zu erscheinen.
Nicht dass Linda jemals ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, mit Gomez auszugehen. Freundschaften und – durch die gemeinsame Arbeit bedingte – Partnerschaften konnten unter den beengten Wohnverhältnissen an Bord der Oregon in einer Katastrophe enden, wenn das romantische Element abkühlte, daher ließ eine der unausgesprochenen Regeln der Corporation ausschließlich platonische Beziehungen zu. Außerdem waren Schnurrbärte nicht unbedingt nach ihrem Geschmack. Sie kratzten zu stark.
»Wie sieht es mit den Drohnen aus?«, fragte sie ihn.
Gomez reckte den Daumen nach oben. »Die Oregon meldet, dass sie startbereit sind. Wir legen los, sobald der Chairman in Position ist.«
»Sind die Waffen einsatzbereit?«
»Jederzeit, wenn wir sie brauchen«, antwortete Murph.
Der Gator verfügte über eine umfangreiche Kollektion an Hardware – von Maschinenpistolen und Sturmgewehren über Blendgranaten bis hin zu RPG s. Wenn alles nach Plan lief, würden sie jedoch nichts von alledem brauchen. Sobald der Chairman und Eddie Seng mit Machado bereitstünden, würde Gomez einen Schwarm Drohnen zur Dragão dirigieren und für ausreichend Ablenkung sorgen, während sich Juan, Eddie und Machado aus dem Staub machten.
Die kleinen Quadrokopter-Drohnen würden dicht über dem Wasser die Jacht aus Bugrichtung anfliegen, wo sie von den Partygästen auf dem Achterdeck nicht sofort bemerkt werden konnten. Wenn die Drohnen die Dragão erreichten, würden sie landen und kleine Sprengladungen und Rauchbomben zünden. Nichts davon würde größeren Schaden anrichten oder die Gäste ernsthaft verletzen, aber die Ablenkung und die Verwirrung, die sie erzeugten, würden ausreichen, und die drei könnten im Schutz der Rauchschwaden, die die Jacht einhüllten, unbemerkt über Bord springen. Der Gator würde lange genug auftauchen, um sie an Bord zu holen, und dann gleich wieder auf Tauchstation gehen. Murph und Gomez wären darauf vorbereitet, für Feuerschutz zu sorgen, falls es nötig sein sollte.
Gomez steuerte die Drohnen mithilfe einer Antenne, die auf dem Wasser trieb, anstatt in die Luft zu ragen. Einem ahnungslosen Betrachter würde sie wie Seetang oder Abfall vorkommen. Der Transmitter zeigte auf dem Monitor des Cockpits die Position des Gators an, ohne dass Linda das Periskop ausfahren musste. Eine Tragflächendrohne in dreihundert Metern Höhe über ihnen kreiste über der Bucht und war nicht von den Möwen zu unterscheiden, die den Himmel bevölkerten. Ein HD -Videobild lieferte ihr, Murph und Gomez einen Panoramablick auf die Szenerie, in der die Position des Gators durch einen roten Punkt angezeigt wurde.
»Alpha-Team, hier ist Omega«, wandte sie sich über Funk an Juan und Eddie. »Wir nähern uns mittschiffs von Steuerbord. Wir sind bereit. Die Teams Beta und Gamma begeben sich in ihre Positionen.«
Der Chairman bestätigte den Empfang der Meldungen, indem er zweimal mit der Zunge über seinen Backenzahn wischte.
Um die Operation in Gang zu setzen, brauchte Juan nun nichts anderes mehr zu tun, als den Befehlscode auszusprechen.
Totenstille.