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»Fahr langsam weiter und beschreibe einen weiten Kreis«, sagte Abdel Farouk zu dem Lenker des kleinen Powerboots, während er sich über seine Instrumententafel beugte und auf das lauschte, was durch den Kopfhörer an seine Ohren drang.
Li Quon, seit Kurzem ebenfalls Mitglied der kriminellen Imito-Organisation, murmelte: »Kein Problem.« Er drehte das Ruder ein kleines Stück im Uhrzeigersinn, und sie schwenkten auf einen Rundkurs über der Guanabara-Bucht, eine Viertelmeile südlich der Dragão , ein.
Farouk musterte ihn ungehalten von der Seite. »Kann es sein, dass du dich langweilst?«
Li, Anfang vierzig mit Stupsnase und raupengroßen Augenbrauen, verdrehte die Augen hinter den Gläsern seiner randlosen Brille. »Ich dachte, ich hätte etwas Aufregenderes zu tun als dies hier. Weißt du eigentlich, was ich früher gemacht habe?«
»Natürlich weiß ich das«, antwortete Farouk und wischte sich mit einem Taschentuch über die Halbglatze und die Stirn. Fünfzehn Jahre älter als Li und vollkommen außer Form, kam Farouk mit der schwülen Hitze nicht besonders gut zurecht. »Du bist Eigentümer einer Schifffahrtsgesellschaft in Singapur gewesen.«
»Ich habe mich von Null nach oben gearbeitet. Mit einem Fischerboot habe ich angefangen und meine Firma zu einer der größten Frachtlinien in Südostasien ausgebaut. Und jetzt lenke ich ein jämmerliches kleines Boot durch den Hafen von Rio de Janeiro und weiß noch nicht einmal weshalb.«
»Du hast deine Firma verloren, weil du den Chinesen amerikanische Geheimnisse verkauft hast. Du kannst froh sein, dass du nach Brasilien fliehen konntest, ehe man dich für den Rest deines Lebens ins Gefängnis steckte.«
Li grinste ihn an. »Ich meine, dass ich nicht weiß, weshalb wir beide hier draußen sind.«
»Es gibt noch viel mehr, was du nicht weißt«, sagte Farouk.
»Willst du mich dann nicht endlich mal ins Bild setzen?«
Farouk lehnte sich zurück und schob den Kopfhörer nach hinten und um seinen Hals. Seine Geräte waren einsatzbereit. Er entschied, dass er sich ein paar Minuten Zeit nehmen konnte, um Li auf den aktuellen Stand zu bringen.
Li hatte sich mit den Regeln der Organisation einverstanden erklärt. Wenn er jemals mit jemandem außerhalb von Imito über die Organisation sprechen sollte oder sie auf irgendeine Art und Weise verriet, würde er nicht nur mit dem Tod bestraft. Vorher müsste er unvorstellbare Qualen erleiden. Grausame Postmortem-Fotos von früheren Verrätern führten Li die möglichen Konsequenzen einer solchen Tat deutlich vor Augen.
Wurde man als Mitglied von Imito akzeptiert, dann war man es für sein ganzes Leben. Ein Zurück gab es nicht.
»Weißt du, weshalb dich der Commander zu uns geholt hat?«, fragte Farouk.
Li zuckte die Achseln. »Ihr brauchtet jemanden, der keine Skrupel hat, und wusstet, dass ich den Anforderungen entsprach.«
»Und außerdem bist du ein hervorragender Seemann. Aber keine dieser Eigenschaften war entscheidend.«
»Und welche ist es?«
»Du hast mit jedem anderen Mitglied der Organisation etwas gemein. Weißt du, was ich früher gemacht habe?«
Li schüttelte den Kopf.
»Ich habe an der Universität von Southampton in England ein Diplom in technischer Akustik erworben. Danach bin ich als leitender Sonartechniker zur ägyptischen Kriegsmarine gegangen. Dort habe ich einen Plan entwickelt, um einen amerikanischen Flugzeugträger im Suezkanal zu versenken.«
Li hob eine seiner markanten Augenbrauen. »Ich glaube, davon hätte ich gehört, wenn so etwas geschehen wäre.«
»Offensichtlich ist es nicht dazu gekommen«, sagte Farouk mit einem verärgerten Seufzer. »Als der Plan fehlschlug, konnte ich im letzten Moment fliehen. Ebenso wie du werde ich nie mehr in meine Heimat zurückkehren dürfen. Unser Vorhaben wurde von der Mannschaft eines Schiffes mit dem Namen Oregon vereitelt.«
Das weckte schlagartig Lis Interesse. Er richtete sich kerzengerade auf. »Die Oregon ? Du meinst dieses Tarnkappenschiff? Ich dachte, sie sei ein Mythos.«
»Sie ist sehr real«, sagte Farouk. »Tatsächlich kannst du sie von dort aus, wo du sitzt, sogar sehen.«
Li starrte ihn verblüfft an, ehe er den Kopf hin und her drehte und die Bucht absuchte. Mindestens zwei Dutzend Schiffe lagen im Hafen, ankerten in der Bucht oder pflügten durch ihre Wellen.
»Welches Schiff ist die Oregon
»Rate mal.«
Li überlegte einen Moment lang, dann deutete er auf ein Containerschiff, das am Hafenkai lag und von drei Kränen beladen wurde. »Dieses?«
»Nein. Aber du bist auf dem richtigen Weg.«
»Ich weiß, dass es kein Schiff der brasilianischen Marine sein kann.« Li wandte sich um und fasste einen modernen Tanker ins Auge, der soeben unter der Brücke durchfuhr.
»Ich wette, dies ist es.«
»Diese Wette würdest du verlieren«, sagte Farouk. »Zu hell, zu sauber und viel zu auffällig. Dein Blick ist schon mehrmals darüber hinweggegangen, ohne ein zweites Mal hinzuschauen. Und genau das ist so von ihnen beabsichtigt. Das wünschen sie sich von jedem Beobachter.«
Lis Blick richtete sich auf das einzige Schiff, das ihn nicht hatte stutzen lassen. Es war ein altersschwacher Frachter, der in der Mitte der Bucht ankerte. Die Farbe blätterte von den Aufbauten ab, und große Rostflecken verunstalteten den Rumpf. Die baufälligen Deckaufbauten passten zu den Schrotthaufen, die als Kräne dienten.
»Dieser Eimer da?«, fragte Li entgeistert. »Ich dachte, sie warteten bloß darauf, zum Abwrackhafen geschleppt zu werden.«
Farouk lächelte. Ihm war der gleiche Gedanke durch den Kopf gegangen, als er die Oregon das erste Mal zu Gesicht bekam.
»Und was wäre, wenn ich dir sagte, dass dieses Schiff schneller ist als jedes andere, das sich zurzeit in der Guanabara-Bucht befindet?«
Ungläubig lachte Li und deutete auf ein Schnellboot, das soeben von der Jacht ablegte und rasant Tempo aufnahm. »Schneller als dieses Boot dort?«
»Viel schneller.«
»Erzähl keinen Blödsinn!« Er drehte sich wieder zur Oregon um und vollführte mit der Hand eine wegwerfende Geste. »Dieser Eimer dürfte mehr als einhundertsechzig Meter lang sein. Ich wäre schon geschockt, wenn er sich aus eigener Kraft in Bewegung setzen könnte.«
»Die Oregon hat keine üblichen Dieselmotoren. Sie wird von magnetohydrodynamischen Maschinen angetrieben.«
Li runzelte die Stirn. »Was ist das denn?«
»Rohre, die sich über die gesamte Länge des Schiffs erstrecken, nehmen am Bug Wasser auf, dem die freien Elektronen zur Energiegewinnung entnommen werden. Anschließend wird das Wasser am Heck durch Pumpen mit supergekühlten Magneten wie Luft aus einem Strahltriebwerk ausgestoßen. Diese Technik ermöglicht dem Schiff nicht nur eine ungewöhnlich hohe Geschwindigkeit, sondern sie macht es auch erstaunlich manövrierfähig.«
Li betrachtete es mit einem Ausdruck widerwilliger Bewunderung. »Seine Fähigkeiten sind geschickt kaschiert.«
»Das ist nicht alles, was vor neugierigen Blicken verborgen ist. Die Oregon ist überdies ein in jeder Hinsicht hochentwickeltes Kriegsschiff. Zu ihren Angriffswaffen gehören Torpedos, Anti-Schiffsraketen und eine 120 mm-Kanone, wie man sie bei einem Abrams-Panzer findet. Zur Verteidigung stehen ihr Flugabwehrraketen zur Verfügung, drei 20 mm Gatling Guns mit panzerbrechender Sprengmunition, die jedes herkömmliche Schiff versenken kann, sowie eine Metal-Storm-Kanone mit einhundert Läufen, die eine Feuerfrequenz von einer Million Schuss pro Minute entwickelt.«
»Eine Million Projektile pro Minute? Du machst Witze.«
»Das ist natürlich ein errechneter Wert«, sagte Farouk. »Sie verschießt lediglich eintausend Kugeln pro Feuerstoß. Aber sie ist in der Lage, sämtliche Patronen dank elektronischer Zündkapseln innerhalb von wenigen Millisekunden zu verschießen.«
»Dieser Höllenmaschine möchte ich lieber nicht in die Quere kommen.«
»Viele Schiffe haben sich schon auf ein Gefecht mit ihr eingelassen, darunter sogar der ein oder andere Zerstörer. Für kein Schiff hat das ein gutes Ende genommen.«
»Woher weißt du das alles?«
Farouk wandte sich wieder zu seiner Instrumententafel um. »Wenn es nach dem Commander geht, hätte ich dir das alles gar nicht verraten dürfen. Aber ich dachte, du solltest wissen, mit welchem Gegner wir es möglicherweise zu tun haben.«
»Aber das beantwortet noch nicht die Frage, weshalb wir hier draußen herumkurven.«
»Hebe auf keinen Fall den Kopf. Hast du verstanden?«
»Okay.«
»Bewege nur deine Augen und schaue zu dem Vogel hinauf, der hoch über uns seine Kreise zieht. Siehst du ihn?«
Li riss die Augen weit auf, um den Blickwinkel zu vergrößern. »Ich sehe ihn. Was ist damit?«
»Es ist kein Vogel. Sondern eine Drohne, die von der Oregon gestartet wurde. Sie kommuniziert mit einem U-Boot, das sich in diesem Augenblick der Jacht nähert. Ich kann nicht mithören, weil der Funkverkehr verschlüsselt ist, aber ich weiß, von wo aus sie gesteuert wird.«
Farouk deutete mit einem Kopfnicken auf den Bildschirm vor sich, und Li lehnte sich zu ihm hinüber. Auf dem Bildschirm war ein weißer Punkt zu erkennen, der sich stetig der Dragão näherte.
»Lass mich raten«, sagte Li. »Dieses U-Boot ist von der Oregon gekommen.«
»Du begreifst schnell«, stellte Farouk beeindruckt fest. »Im Zentrum der Oregon befindet sich ein Raum, Moon Pool genannt, der groß genug ist, um mehrere Mini-U-Boote aufzunehmen. Diese Boote können durch große Tore am Kiel des Schiffes vollkommen unbemerkt zu Wasser gelassen werden.«
»Demnach ist dieses U-Boot unser Ziel.«
»Genau.«
»Weshalb?«
»Weil es Teil einer Mission ist, die wir empfindlich stören werden. Der Sonar-Disruptor wird ihnen eine Überraschung bereiten, mit der sie nicht gerechnet haben.«
»Ich habe das System noch nie in Betrieb gesehen«, sagte Li.
»Seine Wirkung auf die Besatzung des U-Boots wirst du auch nicht sehen. Und du wirst noch nicht einmal das Gerät selbst zu Gesicht bekommen.« Der Sonar-Disruptor war an einer Unterwasserdrohne befestigt, die durch einen haarfeinen FiberWire-Faden mit Farouks Kontrollsystem verbunden war. Ironischerweise kam bei der Drohne die gleiche Technologie zur Anwendung wie bei dem Gerät, das sie Ricardo Ferreira verkauft hatten.
»Was werde ich sehen?«
»Die Ergebnisse.«
»Wer befindet sich in dem U-Boot?«
»Ich nehme an, dass du dich weit mehr für denjenigen interessierst, der sich in diesem Augenblick an Bord der Jacht aufhält.« Farouk aktivierte die Kontrollen des Sonar-Disruptors. Das Ziel war einprogrammiert.
In einer verzweifelten Geste hob Li die Hände. »Du kannst einen wirklich in Rage bringen. Wer ist es, verdammt noch mal?«
»Unser gemeinsamer Erzfeind. Der Mann, der dafür verantwortlich ist, dass du deine Firma verloren hast, und der dafür gesorgt hat, dass ich Ägypten verlassen musste. Derselbe Mann, wegen dem du und ich vom Commander in die Imito-Organisation aufgenommen wurden. Juan Cabrillo.« Farouk grinste bösartig. »Wir sind gerade im Begriff, dafür zu sorgen, dass er heute einen besonders schlechten Tag haben wird.«