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Linda Ross kam es vor, als habe ihr Gehirn plötzlich ein Eigenleben entwickelt und schreie sie an. Sie riss sich den Kopfhörer von den Ohren, aber das war keine Hilfe. Irgendeine Stimme in ihrem Innern warnte sie, dass eine extreme Gefahr auf sie zukäme. Das Bild von Tentakeln, schleimig und mit Hunderten hungriger Saugnäpfe bedeckt, füllte ihren Geist. Sie musste diesen Ort um jeden Preis schnellstens verlassen. Obwohl sie wusste, dass der Chairman auf sie zählte, war der Drang zu fliehen um vieles mächtiger.
Gomez plapperte hinter ihr unverständliches Zeug und hantierte hektisch an seinen Kontrollen herum, als wolle er einen unsichtbaren Feind abwehren.
»Ich kriege sie!«, rief er. »Ich erwische sie alle!«
Quadrokopter in der Umgebung der Jacht explodierten und erzeugten dichte Qualmwolken. Linda wusste nicht, wen Gomez im Visier hatte, aber es war ganz gewiss nicht der richtige Feind. Ein riesiger Krake machte Jagd auf sie. Die Drohnen konnten nichts tun, um ihn aufzuhalten.
Murph rüttelte an der Luke und versuchte sie zu öffnen, während er irgendetwas von Gremlins murmelte, die aus den Batterien des U-Boots herauskrochen.
»Wir müssen das Boot verlassen!«, rief er und zerrte am Verschlussrad der Luke.
Gomez rang mit ihm und rief: »Sei kein Idiot! So lässt du sie doch nur herein!«
Linda musste irgendetwas tun, sonst schnappte der Krake sich den Gator und zerquetschte ihn. Danach würde er das Boot zerfetzen wie eine Getränkedose und sie alle verspeisen.
Sie wusste, dass sie es eigentlich nicht tun sollte, aber sie musste mit dem Boot auftauchen. Nur die Leistung der Dieselmotoren des Gators bot ihnen die Chance, dem Kraken zu entkommen.
»Auftauchen!«
Sie zog das Steuerhorn zurück, und das U-Boot brach durch die Wasseroberfläche. Linda blies den Ballast aus, und der Gator richtete sich horizontal aus.
Dann blickte sie durch die kleinen Fenster der Kommandokuppel und gewahrte ihre beste Chance, den gierigen Tentakeln zu entkommen. Es war ein kleines Boot, das südlich der Dragão langsam durch die Bucht glitt. Wenn sie es schaffte, den Gator hinter dieses Boot zu lenken, würde der Krake sich zuerst darauf stürzen und das Interesse am Gator verlieren.
Sie startete die Dieselmotoren und gab Gas.
Gomez und Murph stürzten zu Boden, als der Gator beschleunigte, aber Linda kümmerte sich nicht um die beiden. Sie dachte nur daran, sich und das U-Boot in Sicherheit zu bringen.
Murph schob Gomez von sich herunter und sprang auf die Füße, als sei er lediglich von seinem Skateboard abgerutscht. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin Linda steuerte, aber er wusste, dass Flucht keine Lösung wäre. Der Feind befand sich bei ihnen an Bord.
Er angelte eine Granate aus einem der Behälter und zog den Stift. In seinem verwirrten Zustand konnte er nicht erkennen, was für eine Granate er erwischt hatte. Aber das war im Grunde auch unwichtig.
Als er im Begriff war, sie ins Heck des U-Boots zu werfen, prallte Gomez gegen ihn, und die Granate wurde ihm aus der Hand geprellt.
Sie rollte ins Cockpit hinter Lindas Sitz.
Die Granate explodierte, und Murph sackte zu Boden, als eine Schmerzwoge über ihn hinwegrollte.
* * *
Farouk verfolgte gebannt, wie das U-Boot auftauchte und Kurs auf das Schnellboot nahm, in dem er und Li saßen.
»Sie kommen genau auf uns zu!«, rief Li entsetzt. »Gehörte das auch zu dem Plan?«
Farouk blieb unbesorgt, aber Li gab Gas und ergriff mit Höchsttempo die Flucht, um einer Kollision zu entgehen.
»Nicht ganz«, erwiderte Farouk gelassen. »Die Auswirkungen des Sonar-Disruptors sind unterschiedlich und lassen sich nicht immer vorherbestimmen.«
»Danke für die Warnung.«
»Ich glaube, es wird Zeit, dass wir die Operation abschließen. Wir haben unser Ziel erreicht.«
Farouk schaltete den Disruptor aus und programmierte die Rückrufkoordinaten ein, sodass die Drohne, die mit ihm ausgerüstet war, zu ihrem Schiff auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht zurückkehrte.
Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer.
»Ja?«, fragte eine Stimme.
»Wir kommen zurück«, sagte Farouk. »Die Mission verlief erfolgreich.«
»Ich weiß«, sagte der Commander. »Ich konnte es beobachten.« Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »So köstlich habe ich mich schon lange nicht mehr amüsiert.«
* * *
Linda schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie auf dem Steuerhorn des Gators lag. Irgendetwas war gegen ihren Kopf geprallt und hatte sie zeitweise außer Gefecht gesetzt, aber wie es geschehen war, wusste sie nicht.
Sie fühlte sich nur ziemlich angeschlagen. Aber die grässlichen Tentakeln, die sie einfangen wollten, waren verschwunden.
Sie lehnte sich zurück und wäre aus dem Sessel gekippt, wenn sie nicht angeschnallt gewesen wäre. Ein schmerzhaftes, dumpfes Pochen pulsierte durch ihren Kopf, als würde er mit einem Vorschlaghammer bearbeitet werden.
Ehe sie sich orientieren konnte, spürte sie Hände, die den Sicherheitsgurt lösten und sie aus dem Sessel zogen. Ihr Gesichtsfeld war verschwommen, aber sie erkannte Gomez und Murph, die sie vorsichtig in den hinteren Teil des U-Boots trugen. Sie wurde behutsam auf den Boden gelegt, und Murph deckte sie mit einer wärmereflektierenden Folie zu. Er hatte Tränen in den Augen.
Er sprach mit ihr, aber sie konnte ihn nicht hören. Eigentlich hörte sie gar nichts. Erst in diesem Moment wurde Linda bewusst, dass sie bis auf das ständige Klingeln in ihren Ohren vollkommen taub war.
Gomez sagte etwas, die beiden unterhielten sich kurz, und Murph nickte. Dann ging er neben ihr auf ein Knie herunter und wischte sich die Augen ab, während Gomez zum Cockpit ging.
Sekunden später spürte Linda, wie der Gator seinen Kurs änderte.
Und dann holte die Erinnerung sie mit erschreckender Klarheit ein.
Sie hatte ihre zugewiesene Position verlassen und damit Juan und Eddie zum Tode verurteilt.