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Die Sitzplätze in Höhe der Spielfeldmitte waren die besten im Maracanã-Stadion, aber Franklin »Linc« Lincoln achtete nicht auf das spannende Fußballmatch zwischen Peru und Mexiko, bei dem es mit eins zu eins zurzeit unentschieden stand. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Mann zwei Reihen vor ihm, Diego López. Der Agent begleitete jeden Spielzug mit begeistertem Applaus ebenso wie die Männer rechts und links neben ihm. Beide waren Auftragskiller des mexikanischen Juárez-Kartells.
Der Plan sah vor, López lange genug von seinen Begleitern zu trennen, um ihn lebend aus dem Stadion zu geleiten. Früher, nach seiner Fertigstellung, war das Maracanã-Stadion mit einem Fassungsvermögen von zweihunderttausend Zuschauern das größte der Welt gewesen. Seit der Durchführung umfangreicher Renovierungsarbeiten anlässlich der Olympiade und der Fußballweltmeisterschaft bot es immer noch achtundsiebzigtausend Zuschauern Platz, aber diese Menschenmenge reichte vollkommen aus, um ihren fluchtartigen Abgang am Ende des Spiels erfolgreich zu tarnen.
»Beta, hier ist Omega«, meldete sich Gomez’ Stimme in Lincs Ohr. »Du musst sofort starten.«
Linc warf einen Blick auf die Spielzeituhr. Drei Minuten bis zur Halbzeit. »Laut Plan sollten wir bis zum Spielende warten, um uns unter die hinausströmenden Zuschauer mischen zu können.«
»Dazu bleibt keine Zeit«, erwiderte Gomez. »Die Operation des Alpha-Teams ist schiefgelaufen. Es könnte sein, dass ihr schon bald enttarnt werdet. Ich rufe anschließend Gamma und gebe ihnen die gleichen Anweisungen. Das Rendezvous findet wie geplant statt.«
»Verstanden.« Die Verbindung wurde getrennt.
»Warum hat Gomez sich gemeldet?«, fragte Raven Malloy, die das Gespräch über ihr eigenes Zahnmikrofon verfolgt hatte. »Meinst du, dass Linda etwas zugestoßen ist?«
Ebenso wie Linc trug sie das Trikot der mexikanischen Nationalmannschaft, nur hatte sie es an der Taille zusammengerafft und verknotet, sodass es ihre schlanke, sportliche Figur unterstrich. Sein Trikot drohte von seinen athletischen Schultern gesprengt zu werden.
Linc, ein Afroamerikaner, und Raven, Amerikanerin von Geburt, verschmolzen perfekt mit dem multikulturellen Publikum. Außerdem gewährleistete ihre Kleidung, die sich in Nichts von der Aufmachung Tausender Mexikaner um sie herum unterschied, dass sie nicht auffielen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Linc. »Aber wenn Gomez für Linda übernehmen musste, ist das bestimmt kein gutes Zeichen.«
Raven deutete mit einem Kopfnicken auf López und seine beiden Begleiter. »Meinst du immer noch, dass die Toilette die beste Chance bietet, von hier zu verschwinden?«
Linc nickte. »Die beiden haben Bier getrunken, seit sie ihre Plätze einnahmen«, sagte Linc. »Sie werden ganz sicher die Halbzeit für einen ausgiebigen Boxenstopp nutzen.«
»Zumindest war López klug genug, sich zurückzuhalten. Er hat höchstens eine halbe Flasche geleert.«
Raven war früher als Ermittlerin der Army Military Police tätig gewesen, daher entging ihrem aufmerksamen Blick so gut wie nichts. Seit sie zur Corporation gestoßen war, hatte sie bewiesen, dass sie leistungsmäßig mit jedem Special-Forces-Veteran auf der Oregon
mithalten konnte. Außerdem war sie die schnellste Läuferin auf dem Schiff und eine Meisterschützin mit jeder Waffe in seinem Arsenal.
Unglücklicherweise war keiner von ihnen bewaffnet, da sie keine Pistole am Sicherheitsdienst des Stadions hätten vorbeischmuggeln können. Andererseits war Linc überzeugt, dass die beiden Männer in López’ Begleitung in dieser Hinsicht großzügig ausgestattet waren. Die weit geschnittenen Hemden, die sie trugen, verhüllten die Pistolen, die in ihren Hosenbünden steckten. Zweifellos hatten sie jemanden bestochen, um die Waffen unbeanstandet ins Stadion mitnehmen zu können.
Als ehemaliger Navy SEAL
war Linc ein Experte, wenn es darum ging, Bedrohungen, Fluchtrouten und mögliche Fehler in Missionsplänen aufzuspüren und zu bewerten. Diese Situation hatte sowohl Probleme als auch – und zwar wegen der indirekt beteiligen Menschenmenge – Möglichkeiten zu bieten, sogar im Übermaß. Es gab jede Menge Zeugen, was sowohl gut als auch von Nachteil sein konnte, je nachdem wie die Operation verlief. Aber auch die Möglichkeit, sich im Gedränge der Menschen zu verlieren, die während der Halbzeitpause die Getränke- und Imbissstände und auch die Toiletten stürmten.
Linc war außerdem sicher, dass weitere Angehörige des Kartells im Stadion waren und López überwachten. Er war immer noch dabei, sich als Bankier zu etablieren, der Milliarden schmutziger Dollar waschen konnte. Sie würden ihn ganz gewiss nicht aus den Augen lassen.
Linc schaute auf die Spielzeituhr. Zwei Minuten von der regulären Spielzeit waren noch übrig. Er schätzte, dass vier Minuten abgestoppte Spielzeit angehängt würden. Sobald die Männer sich anschickten, ihre Plätze zu verlassen, würden er und Raven ihnen nach draußen folgen. Raven würde einen Mann isolieren und ihn im Gedränge ausschalten, während Linc dem Agenten und dem anderen Mann zur Toilette folgte. Diesen würde er außer Gefecht setzen, in einer der Kabinen deponieren und mit López das Weite suchen, ehe auch nur jemand mitbekam, was hier los war.
Der Plan klang ausgezeichnet, bis einer der beiden Kartellgangster mit dem Daumen über die Schulter deutete und durch den Gang zwischen den Sitzreihen heraufkam.
»Ich vermute, er konnte nicht so lange warten«, sagte Raven.
»Das könnte für Probleme sorgen. Denkst du daran, ihn jetzt schon auszuschalten?«
»Du hast es erraten.«
Raven wartete, bis er ihre Sitzreihe passiert hatte, dann folgte sie ihm zum Tribünenausgang.
Es wurde Zeit, dass López erfuhr, was ihn erwartete. Linc ergriff die Bierflasche neben seinen Füßen und stolperte den Aufgang hinunter, als sei er betrunken.
Er ließ sich auf den Sitz fallen, den der Kartellgangster soeben freigemacht hatte.
López, der schmale Lippen und eine Römernase hatte, musterte ihn überrascht und sagte etwas auf Spanisch. Linc beherrschte die Sprache nicht, daher lallte er seine Erwiderung auf Englisch.
»Wer seid ihr? Wo ist meine Frau?« Er trank einen tiefen Schluck von dem Bier, das mittlerweile warm und schal war.
»Verdünnisier dich, hombre
«, sagte López. »Dies ist nicht dein Platz.«
»Hombre?
Hey! Du musst Mexikaner sein! Wie meine Frau!« Er klopfte López auf die Schulter.
Der Mann neben López sah Linc drohend an. »Du solltest auf ihn hören, gringo
. Verschwinde lieber, sonst machen wir dir Beine.«
Linc hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Hey, Mann, tut mir leid. Ich dachte, dies ist mein Platz.« Er betrachtete eingehend die Flasche in seiner Hand. »Was tun sie eigentlich in dieses Bier? Schmeckt wie Mandarinenlikör aus Madagaskar. Ich habe nur acht Flaschen Bier geleert, und nun fängt es an zu wirken.«
López starrte ihn mit kaum verhohlener Überraschung an. »Mandarinenlikör aus Madagaskar« war das Codewort, wenn seine Tarnung aufgeflogen war. Linc kniff kurz die Augen zusammen, um López zu signalisieren, dass er nicht betrunken war.
Der Kartellkiller bekam nichts davon mit. »Verschwinde«, wiederholte er. »Auf der Stelle!«
Linc spielte weiter den Betrunkenen und kam schwankend auf die Füße. »Ich geh ja schon, bin schon so gut wie weg!« Er hickste. »Ich sollte wohl lieber auf die Toilette gehen, ehe hier alles rauskommt. Adios, muchachos.
«
Der verärgerte Kartellgangster hatte sich wieder abgewendet, um das Spiel weiter zu verfolgen, daher schickte Linc dem Agenten einen letzten Blick. López reagierte mit der Andeutung eines Kopfnickens.
Er verstand Lincs Botschaft. Er befand sich in tödlicher Gefahr. Und der einzige Weg aus dem Stadion führte durch die Herrentoilette.
Linc stolperte den Zwischengang hinauf und wappnete sich für den bevorstehenden Kampf.