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Die meisten Menschen gelangen auf die Spitze des Zuckerhuts in Rio de Janeiro, indem sie die Seilbahn benutzen. Tausende besuchen täglich die Aussichtsplattform auf dem Gipfel, einmal wegen des spektakulären Panoramas, aber nicht zuletzt auch wegen der Imbissrestaurants und der Souvenirläden. Von der Stadt aus betrachtet ähnelt der dreihundertfünfundneunzig Meter hohe Monolith, der die Einfahrt in die Guanabara-Bucht bewacht, einer auf ihrem hinteren Ende aufrecht stehenden Bombe mit steilen Felswänden auf allen Seiten. Von der Bucht aus ist jedoch ein mit kleinen Bäumen und schütterem Buschwerk bewachsener Grat zu erkennen, der vom Meer bis hinauf zum Gipfel verläuft. Kaum ein Besucher entscheidet sich für diese alternative Route über den Grat, einen rauen und schwierigen Wanderweg, der mit steilen Felsabbrüchen und mehreren nahezu senkrechten Kletterpassagen gespickt ist.
»Ich möchte bloß wissen, wer auf diese idiotische Idee gekommen ist«, schimpfte Hali Kasim und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er den ausgetretenen Kletterpfad dicht unterhalb des Gipfels hinaufstapfte. Der schlanke Amerikaner libanesischer Herkunft hatte die Position des Funkoffiziers und Kommunikationsexperten auf der Oregon inne und nahm nur höchst selten an aktiven Fronteinsätzen teil. Ganz sicher war er nicht an die Strapazen eines dreistündigen Fußmarsches mit einem schweren Rucksack auf den Schultern gewöhnt. Sein T-Shirt und seine Cargohose waren mit Staub bedeckt und schweißdurchtränkt.
Marion MacDougal »MacD« Lawless lachte verhalten.
»Ich glaube, es war deine Idee«, sagte der blonde Army-Veteran in seinem breiten, weichen Louisiana-Slang. Er folgte Hali dichtauf, um ihn aufzufangen, falls er stolperte und über eine der steileren Passagen rückwärts abzustürzen drohte. Obgleich MacD die gleiche Art von Rucksack trug, fand er den Fußmarsch gar nicht so übel. »Das ist noch gar nichts – im Vergleich mit der Ranger School. Unsere Rucksäcke wogen das Doppelte wie dieser, und wir sind zwanzig Stunden am Tag marschiert, bei zwei täglichen Mahlzeiten und vier Stunden Schlaf.«
Hali machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das kann ja sein, aber ich bin daran gewöhnt, in einem gemütlichen Sessel zu sitzen mit einem erfrischenden Getränk in Reichweite, und das Schwerste, was ich am Tag heben muss, ist der Kopfhörer, der um meinen Hals hängt. Du hingegen siehst aus wie das Ergebnis eines Experiments, römische Marmorstatuen zum Leben zu erwecken, um sie auf Rekrutierungsplakaten der Army zu verewigen. Wenn man dein Leben verfilmen wollte, fände man Chris Hemsworth wahrscheinlich zu hässlich, um deine Rolle zu spielen.«
»Und zu mickrig«, fügte MacD hinzu und spann fröhlich grinsend den Faden weiter. »Ich glaube, ich bin in einem früheren Leben Spartaner gewesen.«
MacD lachte, als Hali einen Blick über die Schulter warf und die Augen verdrehte. »Igitt. Ich bin nur froh, dass ich dich nicht in einem Lendentuch sehen muss. Das wäre wirklich die schlimmste Demütigung.«
»Ich glaube, dies ist der richtige Zeitpunkt, um dich daran zu erinnern, dass es schließlich dein Hobby war, das den Chairman darauf brachte, dies hier zu versuchen.«
»Ich hätte niemals damit gerechnet, dass er es tatsächlich ernst meint«, sagte Hali.
»Ich auch nicht. Aber das Video von dir in vollem Flug über Mexiko war wirklich beeindruckend. Du hast ein echtes Talent für so etwas.«
»Du auch. Es kann einen in Rage bringen, dass du nach nur zwei Tagen etwas beherrschst, was ich seit drei Jahren trainiere.«
»Ich würde es nicht ›beherrschen‹ nennen. Aber ich bin schon aus einigen Flugzeugen abgesprungen. Das ist nichts grundsätzlich anderes.«
»Gibt es irgendetwas, worin du nicht gut bist?«, fragte Hali.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte MacD grinsend. »Ich habe noch nicht alles ausprobiert.«
Sie waren jetzt etwa einhundert Meter von dort entfernt, wo der unbefestigte Querfeldeinpfad in einen asphaltierten Spazierweg überging, als sie über ihr Kommunikationssystem angerufen wurden.
»Gamma, hier ist Omega«, sagte Gomez. »Wir hatten bei uns unten einige Probleme. Ihr müsst euern Zeitplan erheblich verkürzen.«
Die beiden Männer blieben stehen und wechselten besorgte Blicke. Das klang nicht gut, zumal sich nicht Linda Ross – wie eigentlich erwartet – bei ihnen meldete.
»Ist alles okay?«, fragte MacD.
»Wir hatten einige Verluste. Die wahre Identität der CIA -Agentin könnte eher bekannt werden, als wir erwartet hätten.«
»Gilt unser Extraktions-Rendezvous noch?«
Eine kurze Pause setzte ein, ehe sich eine andere Stimme über ihre Zahnmikrofone meldete. Diesmal war es der Chairman selbst, der sie rief.
»Das Rendezvous findet statt wie geplant«, sagte Juan. »Wir treffen Sie unter den vereinbarten Koordinaten, wann immer Sie dort erscheinen. Geben Sie uns nur Bescheid, wenn Sie unterwegs sind.«
»Verstanden. Gamma Ende.«
Halis Gesicht war von Sorge zerfurcht. »Das klingt aber nicht gut.«
MacD schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gehört hatte. »Das begreife ich nicht. Was sie vor sich hatten, sah doch wie eine relativ einfache Operation aus. Aber momentan können wir ohnehin nicht viel für sie tun. Wir müssen uns auf unseren eigenen Job konzentrieren.«
Als brauchten sie noch weitere Ablenkung, trabten drei kleine Affen durch die Büsche am Wegesrand auf sie zu und bettelten um Futter. Aber MacD und Hali beachteten sie gar nicht. Die Affen schnatterten enttäuscht, blieben jedoch für alle Fälle in ihrer Nähe.
MacD inspizierte das Gelände auf beiden Seiten des Weges und fand zu ihrer Rechten eine relativ ebene Fläche, die sich bis zu einer Steilwand in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung hinabsenkte. Die winzige Insel Ilha da Laje mit ihrer verlassenen Betonfestung lag tief unter ihnen in der Einfahrt der Guanabara-Bucht, und dahinter erstreckte sich die zwölf Kilometer lange Rio-Niterói-Brücke von einer Seite der Bucht zur anderen. Weiter in der Ferne konnte er die Umrisse der Oregon erkennen, die wahrscheinlich gerade den Gator aufnahm, um die Verwundeten zu behandeln. Da sich das Schiff drehte, war davon auszugehen, dass es den Anker gelichtet hatte.
MacD und Hali befanden sich tief genug am Berghang, sodass sie von den Touristen auf der Aussichtsplattform nicht zu sehen waren, und eine dichte Baumgruppe versperrte die Sicht vom Weg weiter oben. MacD ging zu einem Gelände, das nur von hohem Gras bewachsen war, und nahm den Rucksack von den Schultern.
»Dieser Platz eignet sich zum Starten ebenso gut wie jeder andere«, entschied er. »Kannst du beides vorbereiten, während ich unterwegs bin?«
Hali studierte das Terrain und hob eine Hand, um die Richtung der leichten Brise festzustellen, die den Berghang heraufwehte. Er nickte.
»Das dürfte kein Problem sein, solange mir die Affen nicht in die Quere kommen.«
»Gib mir Bescheid, falls es irgendwelche Schwierigkeiten gibt«, sagte MacD. »Ich melde mich, sobald ich sie gefunden habe.«
»Ich hoffe, sie hat keine Höhenangst.«
»Sie musste schließlich die Seilbahn nehmen, um hier heraufzukommen.«
»Das ist nicht das Gleiche«, sagte Hali und öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks.
MacD peilte über die Felskante auf die Wasserfläche dreihundert Meter unter ihnen. »Du hast recht.«
Während Hali ihre Ausrüstung auspackte, kehrte MacD zum Weg zurück und stieg das restliche Stück weiter hinauf, bis er die Stimmen der Menschen hören konnte, die sich auf der Aussichtsplattform drängten.
Das ausladende Deck spannte sich in einem Halbkreis um das Gebäude, in dem sich der Einstiegsbereich der Seilbahn und die Seilwinde befanden. Mehrere weitere Gebäude beherbergten Imbissrestaurants und Läden, in denen aller möglicher Klimperkram und Souvenirs verkauft wurden. Zu Hunderten lehnten Besucher am Geländer, um die Aussicht zu bewundern oder um Selfies zu schießen, oder sie saßen an Tischen und konnten sich an dem Panorama, das sich ihnen an diesem Punkt bot, nicht sattsehen.
MacD hielt nach einer CIA -Agentin namens Jessica Belasco Ausschau. Dem Foto zufolge und laut ihres Lebenslaufs, den er in Vorbereitung der Operation studiert hatte, war sie eins fünfundsechzig groß, hatte einen schwarzen Gürtel in Taekwondo und schwarzes Haar, markante Lippen sowie eine weiße, acht Zentimeter lange Narbe seitlich an ihrem Hals. Ihm war außerdem aufgefallen, dass sie ausgesprochen hübsch war, daher bezweifelte er nicht, dass sie leicht zu erkennen sein würde.
Belasco war in ein bolivianisches Kokainkartell eingedrungen und hatte die Aufgabe, Verbindungen zwischen dem Kartell und einer Serie Attentate auf Mitglieder südamerikanischer Regierungen aufzuspüren. Sie hielt sich zurzeit in Rio auf, um mit den Vertretern verbündeter brasilianischer Kartelle zusammenzutreffen.
Aus ihren allwöchentlichen Berichten ging hervor, dass Belasco und einige Bosse des Kartells Seilbahntickets gelöst hatten, die sie vor fünfzehn Minuten auf dem Gipfel des Zuckerhuts zusammengeführt hatten. Dies wäre der einzige Ort, wo sie während ihres Aufenthalts in Rio in der Öffentlichkeit anzutreffen wäre, daher musste die Extraktion dort ausgeführt werden.
MacD wanderte durch die Läden und über die Plattform und unterschied sich nicht von den anderen Touristen, die sich für die Aussicht von diesem markanten Punkt interessierten. Aber im Gegensatz zu den anderen Besuchern des Zuckerhuts würdigte er die Christus-Statue und den Copacabana Beach keines Blicks. Sondern er suchte die Touristenschar systematisch nach seiner Zielperson ab.
Schließlich entdeckte er sie an einem Tisch in Gesellschaft zweier Männer und einer Frau. Sie hatten sich große Eisbecher bestellt, unterhielten sich angeregt auf Spanisch und lachten. Belasco war offenbar bester Laune. Diese müsste MacD ihr leider schon in Kürze verderben.
Er schlenderte zu dem Tisch hinüber und bediente sich der französischen Sprache, die er, da er in der Nähe von New Orleans aufgewachsen war, perfekt beherrschte.
»Pardonnez-moi «, sagte er. »En aurez-vous bientôt fini avec cette table? «
Entschuldigen Sie. Haben Sie die Absicht, noch länger an diesem Tisch sitzen zu bleiben?
Wie er erwartet hatte, sahen die drei Begleiter Belascos ihn verständnislos an. Aber MacD wusste, dass die CIA -Agentin Französisch sprach. Sie erwiderte: »Soweit ich sehen kann, gibt es hier genug freie Tische, Monsieur
Sie wechselte vom Französischen ins Spanische und erklärte, was er sie gefragt hatte. Sie musterten ihn, als hätten sie einen Geisteskranken vor sich.
»Ich weiß«, fuhr er auf Französisch fort, »aber dies ist mein Lieblingstisch. Er erinnert mich an einen Platz in einem kleinen Dorf in der Nähe von Chamonix, wo ich aufgewachsen bin.«
»Ein kleines Dorf in der Nähe von Chamonix« war der Code, der ihr signalisierte, dass ihre Tarnung geplatzt war. Sie aß einen Löffel Eiskrem und sah zu ihm hoch. Ihr Lächeln ließ nur für den Bruchteil einer Sekunde nach.
»Tut er das?«
Er nickte mit ernster Miene, um ihr zu bestätigen, dass sie richtig gehört hatte. »Während ich darauf warte, dass der Tisch frei wird, schaue ich mich in den Andenkenläden auf der anderen Seite der Plattform um. Ich suche eine Kleinigkeit, die mich an diesen Ort erinnert, wenn ich wieder in meiner Heimat bin. À bientôt. «
Bis nachher.
Lächelnd deutete er eine Verbeugung an, dann machte er kehrt und entfernte sich, überzeugt, dass sie die Botschaft verstanden hatte.
Zwei Minuten später, als er das Angebot an Ansichtskarten betrachtete, erschien sie neben ihm, blickte jedoch in die andere Richtung.
»Ich habe nur ein paar Minuten«, murmelte Belasco. »Ich sagte, ich wolle noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen, ehe ich wieder nach unten fahre.«
»Das können Sie nicht«, sagte MacD. »Ihre Tarnung ist geplatzt. Jeden Moment wird eine Textnachricht versendet, dass Sie in Wirklichkeit eine CIA -Agentin sind. Möglich, dass sie nicht einmal in die Seilbahn einsteigen können, ohne dass sie versuchen werden, Sie zu töten.«
»Und wer sind Sie?«
»MacD Lawless. Retter und ein ziemlich netter Kerl. Zumindest für meine Freunde.«
»Woher wissen Sie, dass meine Tarnung aufgeflogen ist?«
»In der CIA -Zentrale gab es eine undichte Stelle. Sie und zwei andere Agenten wurden verbrannt. Das ist alles, was ich weiß. Aber sie hätten mich bestimmt nicht hierhergeschickt, wenn sie die Meldung von dem Leck nicht ernst genommen hätten.«
Sie hob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Meine ganze Arbeit war umsonst und geht den Bach hinunter. Ich kann das nicht glauben.«
»Tun Sie’s lieber. Hätte Langston Overholt mir Ihren Schutzcode genannt, wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, dass Sie in Gefahr sind?«
Dass er Overholts Namen nannte, überzeugte sie anscheinend, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihre Mission abzubrechen.
»Selbst wenn wir uns der drei Personen in meiner Begleitung entledigen«, sagte sie, »wartet mindestens ein halbes Dutzend Killer in der Talstation der Seilbahn am Fuß des Berges.«
»Ich weiß. Sie könnten keine zehn Schritte aus der Seilbahnstation machen, ehe man Sie in einen Kombiwagen verfrachtet und mit Ihnen verschwindet.«
»Also, was ist zu tun?«, fragte sie und seufzte. »Begleiten Sie mich in der Seilbahn nach unten?«
»Nicht ganz. Sind Sie schon mal Fallschirm gesprungen?«
»Zweimal. Beide Male waren es Tandemsprünge.« Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn misstrauisch. »Warum?«
MacD grinste. »Weil wir einen kleinen Flug vor uns haben.«