13
Raven Malloy drückte sich in der Nähe des Abfalleimers herum, während sie den letzten Rest aus ihrer Wasserflasche trank. Die Halle mit den Tribünenzugängen des Maracanã-Stadions war noch ziemlich leer. Aber schon in wenigen Sekunden würde es dort von Menschen wimmeln, die es eilig hätten, die Toiletten oder die Imbissstände aufzusuchen. Momentan waren außer den wenigen, die es nicht bis zur Halbzeitpause erwarten konnten, nur die allgegenwärtigen Polizisten zu sehen, die jeweils zu zweit ihre regelmäßigen Runden durch das Gebäude machten.
Raven hatte die Tür der nächstliegenden Herrentoilette im Auge. Der mexikanische Killer war vor zwei Minuten dahinter verschwunden, und sie hatte die Absicht, ihn abzufangen, wenn er wieder herauskam.
Raven und Linc hatten geplant, bis zum Ende des Spiels zu warten, ehe sie aktiv wurden. Bei achtundsiebzigtausend Fußballfans, die das Stadion gleichzeitig verließen, wäre es einfach gewesen, sich im Strom der Menschen ungesehen nach draußen treiben zu lassen. Nun, mit deutlich verkürztem Zeitplan, mussten sie hoffen, dass der zur Halbzeit zunehmende Betrieb für ausreichende Ablenkung sorgte.
Sie blickte zu einem der Monitore hoch, auf denen das Spiel für all jene übertragen wurde, die nicht auf ihren Plätzen saßen. Die Uhr tickte. Nur noch drei Minuten Nachspielzeit mussten verstreichen. López würde den anderen Mexikaner zur Toilette lotsen, sobald die erste Halbzeit abgepfiffen wurde. Wenn der erste Mexikaner bis dahin nicht aus der Toilette herauskäme, würde die Mission um einiges komplizierter werden.
Raven hoffte, dass ihre Zielperson keine Verdauungsprobleme hatte. Allein die Möglichkeit rief bei ihr einen Würgereiz hervor.
Sie brauchte ihre Fantasie nicht lange anzustrengen. Sekunden später erschien der Mexikaner. In Gedanken taufte sie ihn Feo, denn er hatte unregelmäßige brüchige Zähne und eine buschige durchgehende Augenbraue. Obwohl sie Arabisch und Farsi fließend beherrschte, waren ihre Spanischkenntnisse nur sehr bescheiden, aber sie wusste, dass feo »hässlich« bedeutete.
Sie warf die Wasserflasche in den Abfalleimer, zupfte ihr auf dem Rücken zusammengeknotetes Hemd zurecht, um etwas mehr von ihrem flachen Bauch zu entblößen, und steuerte direkt auf Feo zu.
Als sie ihn erreichte, legte sie eine Hand auf seine Schulter und sagte auf Englisch: »Ich habe dich vor ein paar Minuten gesehen und hatte das Gefühl, ich müsste dich unbedingt kennenlernen.«
Er blieb stehen und sah sie verwirrt an, weil er kein Englisch verstand, daher schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Zum Lächeln war ihr allerdings in diesem Moment nicht gerade zumute, daher kostete es sie einige Mühe, überzeugend zu wirken.
Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß und erwiderte ihr Lächeln mit seinen TicTac-großen Zähnen, die in alle Richtungen ragten. Die Art und Weise, wie seine hungrigen Blicke ihren Körper taxierten, verursachte ihr Gänsehaut.
Trotz ihres Unbehagens blieb sie ihrer Rolle treu und deutete mehrmals auf sich selbst und auf ihn, ehe sie die universelle Geste des Fotografierens machte. Sie holte ihr Mobiltelefon heraus, um diesen Punkt zu betonen.
Die Vorstellung von einem Selfie mit einem hübschen Mädchen – und was noch besser war, mit einem Mädchen, das ein Trikot seiner Nationalmannschaft trug – war für Feo einfach zu verlockend, um sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen, wie Raven gehofft hatte. Er nickte, und sein Grinsen wurde noch breiter.
Sie deutete auf einen Platz unter einer der Mannschaftsfahnen, die in der Stadionhalle aufgehängt waren. Außerdem war dieser Punkt nur wenige Meter von zwei Polizisten entfernt, die in der Halle standen und sich miteinander unterhielten.
Feo nickte abermals und legte ihr eine Hand auf den Rücken, um sie dorthin zu dirigieren. Sie schwor sich, dass sie ihm alle Finger brechen würde, wenn seine Hand tiefer rutschen sollte, ganz gleich wie nachteilig es sich auf ihre Operation auswirken könnte.
Durch seine Dreistigkeit erhielt sie jedoch die Gelegenheit, seine Geste zu erwidern, und legte ihm ebenfalls eine Hand auf den Rücken. Mit ihr streifte sie die Pistole, die dort in seinem Hosenbund steckte. Mit einer unauffälligen Handbewegung hob sie sein Hemd hoch und legte die Pistole frei.
Als sie die Position für das Selfie erreichten, drängte sie sich dicht an den Mexikaner und bemühte sich, den penetranten Geruch seines Eau de Cologne nicht einzuatmen, mit dem er sich überschüttet haben musste. Sie hielt das Telefon mit einer Hand hoch, während sie mit der anderen Hand eine kleine Ampulle Expresskleber aus einer Hosentasche angelte.
Sie tat so, als habe sie Probleme, das Foto zu schießen, aber das tat sie nur, um Zeit zu gewinnen. Hinter Feos Rücken öffnete sie die Ampulle. Sie drückte ein paar Tropfen Kleber auf den Hammer der Pistole, ehe sie das Hemd wieder zurückfallen ließ und die Ampulle wegschnippte.
Der Kleber brauchte ein paar Sekunden, um auszuhärten, daher schoss sie mit dem Smartphone mehrere Bilder aus verschiedenen Winkeln und Distanzen. Feo hatte es nicht eilig und spielte bereitwillig mit. Mehr noch, er genoss diese Situation aus vollen Zügen.
Nachdem sie im Stillen bis zehn gezählt hatte, wusste Raven, dass der Kleber hart geworden war, und plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte der Mexikaner sie gekniffen. Sie verpasste ihm eine Ohrfeige und begann, ihn auf Englisch zu beschimpfen.
»Hey! Dieser Kerl hat mich gerade begrapscht!«
Sie wandte sich um und winkte aufgeregt den beiden Polizisten.
Wie erwartet fluchte der Mexikaner und wollte zurückschlagen. Niemals würde er es sich von einer amerikanischen Schlampe gefallen lassen, angegriffen zu werden, ohne sich zu wehren.
Sie wich zurück, aber langsam genug, sodass er ihren Unterarm zu fassen bekam.
Genau das wünschte sie sich von ihm.
Mit dem Körper vollführte sie eine Drehung und packte sein Handgelenk, sodass sein Arm sich verdrehte. Feo stieß einen erstickten Schmerzensschrei aus. Raven setzte sein eigenes Körpergewicht gegen ihn ein, um ihn über ihre Schulter und mit dem Gesicht voraus auf den Boden der Halle zu werfen. Die Pistole war nun deutlich zu sehen, weil ihm das Hemd über den Kopf gerutscht war.
Entsetzt wich sie zurück und schrie: »Ele tem uma arma! « Sie hatte diese Phrase zuvor in einem Spanischwörterbuch nachgeschlagen und auswendig gelernt.
Er hat eine Pistole!
Die Polizisten entdeckten die Pistole und zogen ihre Waffen, während sie im Laufschritt herüberkamen.
Die Möglichkeit hatte bestanden, dass Feo eine Schießerei riskieren würde, anstatt Bekanntschaft mit einem brasilianischen Gefängnis zu machen. Deshalb hatte Raven den Hammer seiner Pistole mit Klebstoff fixiert. Selbst wenn er versucht hätte, die Pistole abzufeuern, wäre nichts passiert. Er wäre in einem Kugelhagel zu Boden gegangen, und keiner der beiden Polizisten wäre verwundet worden.
Aber dies wäre zu blutig gewesen. Da war diese Lösung bei weitem sauberer.
Einer der Polizisten setzte seinen Stiefel auf Feos Rücken, während der andere Beamte die Waffe konfiszierte, ehe er ihm Handschellen anlegte. Sie hievten ihn hoch und stellten ihn auf die Füße, während er im Maschinengewehrtempo eine ganze Salve spanischer Flüche ausstieß. Raven konnte zwar nichts verstehen, aber sie hätte gewettet, dass auch sie mit einigen besonders saftigen Verwünschungen belegt wurde.
Sie bemühte sich um eine verängstigte Miene und versuchte sogar, ein paar Tränen herauszuquetschen. Es gelang ihr zwar nicht, aber die Polizisten verstanden, wie sie sich fühlte. Einer der beiden versuchte sogar, sie zu trösten. Er sagte ein paar mitfühlende Worte auf Portugiesisch und nickte dann freundlich, als sie Anstalten machte, sich zu entfernen.
Während sie den noch immer tobenden Feo eilig abführten, ehe der Zwischenfall unliebsame Gaffer anlockte und die ausgelassene Halbzeitstimmung trübte, kehrte sie auf ihren Standplatz vor der Herrentoilette zurück.
»Der erste Kerl ist ausgeschaltet«, gab sie über das Kommunikationssystem an Linc durch, der soeben die Toilette betrat.
»Ich hab’s gesehen«, erwiderte er. »Guter Job. Wäre dieser Judogriff nicht gewesen, man hätte dich glatt für die klassische Jungfrau in Nöten halten können.«
»Es war ganz einfach. Männer sind Trottel.«
»Gegenwärtige Gesellschaft ausgenommen?«
»Ich bleibe bei meinem Urteil.«
»Ich gebe mir Mühe, mich dadurch nicht verletzt zu fühlen«, sagte Linc lachend.
»Vielleicht sollte ich auf der Oregon irgendwann ein Seminar abhalten, wie Männer es vermeiden können, als Trottel zu erscheinen«, sagte Raven.
»Du würdest mich in der ersten Reihe sitzen sehen.«
Diese Bemerkung löste bei ihr ein kurzes Grinsen aus, das jedoch augenblicklich verflog, als Leute von der Tribüne in die Halle strömten. Sie schaute zu den Monitoren, die zeigten, wie die Spieler für die Dauer der Halbzeitpause in ihre Umkleideräume eilten.
Nur wenig später konnte sie beobachten, wie López und sein Begleiter in der Herrentoilette verschwanden.
Raven sagte zu Linc: »Jetzt bist du an der Reihe.«