16
Raven und Linc hatten geplant, den breiten Boulevard zu nehmen, der auf direktem Weg zu der langen Autobahnbrücke führte, die Rio de Janeiro mit der Stadt Niterói auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht verband. Da jedoch nur wenig Verkehr herrschte, der ihnen andernfalls einige Möglichkeiten geboten hätte, ihre Verfolger abzuschütteln, mussten sie eine alternative Route wählen. Die Männer auf den Ducatis holten auf. Diese Motorräder waren schneller als die BMW s, und es war keine Hilfe, dass Raven auch noch einen Beifahrer bei sich hatte.
»Wie geht es Ihnen dahinten, López?«, fragte sie ihren Leidensgenossen.
»Ich schaff es schon«, antwortete er, aber seine Stimme klang schwach, wie auch der Druck seines Arms um ihre Taille ziemlich kraftlos war. Sie wollte nicht zu waghalsig fahren – aus Angst, dass er von der Maschine stürzte.
»Der Name lautet Raven. Sparen Sie Ihre Kräfte und halten Sie durch.«
»Okay.«
Linc befand sich hinter Raven und feuerte gelegentlich einen Schuss ab, um ihre Verfolger wenigstens auf Distanz zu halten. Anscheinend gelang es ihm aber nicht. Sie schaute in den Rückspiegel und sah die beiden Ducatis, dichtauf gefolgt von dem Porsche SUV .
Mit der Zunge aktivierte sie das Zahnmikrofon. »Omega, hier ist das Beta-Team. Wir haben einen Verwundeten an Bord und eine Bande wütender Drogenhändler im Nacken. Wir brauchen Hilfe, um einen anderen Weg zu finden.«
»Ich habe unseren diensthabenden Straßenscout in der Leitung«, sagte Juan am anderen Ende und meinte Mark Murphy. »Was können wir tun?«
»Wie sieht es mit Verkehrsstaus aus?«
»Bis zur Brücke ist keine Störung zu erwarten«, antwortete Murph.
»Nein, ich suche einen Verkehrsstau«, sagte Raven. »Auf diese Weise könnten wir wenigstens den SUV abhängen.«
»Schon verstanden«, sagte Murph. »Auf der Hauptstraße sind keine Staus zu sehen.«
»Dann leite uns auf eine Nebenstraße, und zwar eine möglichst schmale, wenn es geht.«
Raven wusste, dass Murph ihren Weg mithilfe des GPS -Moduls in ihren Mobiltelefonen verfolgen konnte.
»Ich habe eine neue Route«, sagte er. »Nehmt die nächste Straße rechts.«
»Schon dabei«, antwortete sie. Während sie sich in die Kurve legte, streifte eine Kugel das Schutzblech der BMW und verfehlte den Reifen nur um Haaresbreite. Linc hinter ihr feuerte als Antwort drei Schüsse ab.
»Mir geht allmählich die Munition aus«, meldete er.
»Am Ende dieser Straße«, sagte Murph, »kommt ihr an einen Kanal. Den werdet ihr überqueren.«
»Wie soll uns das weiterhelfen?«, fragte Raven.
»Es ist eine Fußgängerbrücke. Zu schmal für ein SUV . Nur drei Meter breit. Mit Stahlpfosten als Barrieren an beiden Enden, wie auf der Online-Straßenansicht zu erkennen ist. Hast du noch den Rucksack?«
»Ich kann ihn jederzeit abwerfen«, sagte Linc.
»Nach dem Überqueren der Brücke könntet ihr nach links abbiegen und habt freie Bahn bis zur Rio-Niterói.«
»Alles klar«, sagte Raven.
Sie konnte die Fußgängerbrücke bereits sehen. Fünf Treppenstufen führten zu ihr hinauf.
»Festhalten«, warnte sie López. Er versuchte seinen Griff um ihre Taille zu verstärken, aber sein Arm war schwach.
Sie riss die Lenkstange nach hinten, gab Gas und wurde vom Hinterrad die Stufen hinaufkatapultiert.
Linc folgte ihrem Beispiel, und sie rasten über die glücklicherweise leere Brücke.
»Ich werfe ab«, sagte er.
Damit meinte er, dass er das Zugband seines Rucksacks wie die Reißleine eines Fallschirms benutzte. Der Rucksack war mit vierhundert Krähenfüßen gefüllt. Geformt wie Spiel-Jacks, besaßen die kleinen Stahlwaffen vier nadelspitze Dornen, von denen immer einer senkrecht aufragte, ganz gleich wie der Krähenfuß auf dem Boden landete. Während des Römischen Reichs wurden sie benutzt, um Pferde und Kamele am Weglaufen zu hindern. Nun entfalteten sie ihre Wirkung genauso wirkungsvoll bei Luftreifen.
Als Linc die Reißleine zog, purzelten die Krähenfüße heraus und verteilten sich hinter ihm auf der Fußgängerbrücke.
Während Raven abbog, sah sie, wie die Motorradfahrer die Stufen zur Brücke hinaufschossen. Sie ignorierten die kleinen Stahlgebilde auf der Brücke und gaben Gas.
Sobald die Reifen auf die Dornen trafen, platzten sie. Ein Fahrer stürzte und rutschte über die restlichen Krähenfüße, während der andere mit seinem Motorrad im Kanal landete, nachdem seine Maschine ins Schleudern geraten, gegen das Geländer geprallt war und einen Salto darüber hinweg gemacht hatte.
Der Porsche kam vor den stählernen Sperrpfosten zum Stehen, aber er gab nicht auf. Der Fahrer setzte zurück und folgte ihnen auf der anderen Seite des Kanals.
Raven gab ihrer Maschine die Sporen. Sie und Linc waren viel schneller als der SUV und ließen ihn weit hinter sich zurück.
Trotzdem musste ihren Verfolgern klar sein, wohin sie wollten. Die Auffahrt zur Rio-Niterói-Brücke war nur eine Meile entfernt.
Sie waren mit einhundertsechzig Stundenkilometern unterwegs, als sie die Brücke erreichten, die zu den längsten der Welt gehörte. Weil Fracht- und Kreuzfahrtschiffe unter ihr hindurchfahren mussten, um in den Hafen zu gelangen, spannte sie sich an ihrer höchsten Stelle mit über achtzig Metern Höhe über das Wasser.
»Wie lange brauchen wir, um unseren Rendezvouspunkt zu erreichen?«, fragte López in Ravens Ohr. Jedes Wort klang, als kostete es ihn unendliche Mühe, es auszusprechen.
Sie schätzte die Entfernung auf der zwölf Kilometer langen Brücke ab, die sich vor ihr erstreckte. »Neunzig Sekunden.«
»Neunzig Sekunden?« Er musste eine schnelle Kopfrechnung angestellt haben, denn er hustete und krächzte: »Die Brückenmitte?«
»Richtig. Dort springen wir hinunter.«
»Aus dieser Höhe? Das ist Selbstmord!« Sein Ausruf löste einen weiteren Hustenanfall aus.
»Nein, das ist es nicht. Wir verwenden Bungee-Seile.«
Raven drosselte die Geschwindigkeit, als sie die orangefarbenen Markierungen entdeckte, die sie in der vorangegangenen Nacht auf die Brüstung gesprüht hatten. Sie befanden sich fast im höchsten Abschnitt und waren aus diesem Grund und wegen des Abstands zu den Brückenpfeilern ausgewählt worden.
Raven kam auf der rechten Fahrspur neben den Markierungen mit quietschenden Bremsen zum Stehen und stieg vom Motorrad ab. Sie holte eine Leuchtfackel aus einem Seitenfach unter der Sitzbank, setzte sie in Brand und warf sie hinter dem Motorrad an den Fahrbahnrand, damit sie nicht überfahren wurden. Linc, der neben ihr anhielt, tat das Gleiche.
Die Leitplanke sah wie eine lückenlose Reihe ein Meter hoher Betonbänke aus.
»Wir befinden uns am Rendezvouspunkt«, sagte Linc.
»Wir sind bereit, euch aufzufangen«, erwiderte Juan. »Die Krankenstation erwartet euch bereits.«
López rutschte von der Sitzbank herunter. Sein Gesicht war totenbleich, seine Augen blickten trübe. Die Kleidung in seiner Bauchregion war mit Blut durchtränkt.
»Sie alle sind vollkommen verrückt.«
»Davon leben wir«, sagte Raven und holte drei Gurtgeschirre aus dem anderen Gepäckfach. Linc hielt die Bungee-Seile bereit, die später daran befestigt wurden. Die Farbmarkierungen zeigten ihm an, wo die Seile an der Brücke verknotet wurden, und zwar im Abstand von jeweils sechs Metern, damit sie während des Absprungs nicht miteinander kollidierten. Die Länge jedes Bungee-Seils war entsprechend der Sprunghöhe und des Gewichts der Person, die es tragen musste, genau berechnet.
Raven half López, sich ins Geschirr zu schlängeln, und war beeindruckt, dass er keinen Schmerzenslaut von sich gab. Vielleicht stand er unter Schock. Sie schlüpfte in ihr eigenes Geschirr und gab das dritte an Linc weiter, ehe sie sich und López an die Bungee-Seile anhängte.
»Haben Sie das schon mal gemacht?«, fragte sie ihn, während sie die Straße hinter ihnen beobachtete. Sie erwartete jeden Moment, entweder den Porsche oder die Polizei zu sehen …
»Ich bin zwei Mal mit einem Fallschirm abgesprungen«, sagte López. Seine Worte wurden von einem leisen Zähneklappern untermalt.
»Dies hier ist nicht viel anders. Denken Sie einfach nicht nach. Springen Sie bloß.«
»Unsere Freunde sind zurück«, sagte Linc und deutete auf das Ende der Brücke. Das schwarze SUV fuhr Slalom durch die Wagenkolonnen, um schneller zu ihnen zu gelangen. Weiter hinten war zuckendes Blaulicht zu erkennen. »Wenn wir von der Brücke herunterkommen, ehe sie uns erreichen, sind wir in Sicherheit. Sie werden sich ganz gewiss keine Schlacht mit der Polizei liefern.«
Sie begleiteten López zur Leitplanke und halfen ihm, hinaufzuklettern und sich hinzusetzen, sodass seine Füße siebzig Meter über dem Wasser baumelten.
»Es wird wehtun«, warnte Raven.
»Ich weiß«, murmelte López. »Geben Sie mir einen Stoß.«
Raven hatte keine Zeit, ihn zu fragen, ob er es ernst meinte. Sie gab ihm einfach den gewünschten Stoß.
Dann ging sie zu ihrer eigenen Markierung und sprang.
Für zwei Sekunden war sie schwerelos und hatte genug Zeit, um sich zu fragen, ob das Bungee-Seil halten würde oder ob es reißen und sie mit einer Geschwindigkeit in die Tiefe stürzen würde, bei der die Wasseroberfläche hart wie Beton wäre, wenn sie aufschlug.
Aber dann verspürte sie einen sanften Zug, als das Seil sich dehnte. Sie wurde einen Meter über dem Wasser abgebremst und schnellte wieder zurück, bis sie sich auf halber Höhe ihres Sturzflugs befand. Sie drehte den Kopf und sah, dass López genauso hoch geworfen wurde wie sie.
Nach mehreren Aufsprüngen kamen sie alle zur Ruhe und hingen schließlich wie Marionetten vom Brückenrand herab. Unter ihr und seitlich versetzt entdeckte sie den Gator. Die Luke glitt auf, und Juan kam mit einem Klimmzug zum Vorschein.
Raven löste den Schnellverschluss ihres Geschirrs und tauchte ins Wasser. Sie kam an die Oberfläche, und Juan zog sie auf den Gator hinauf. Linc folgte auf dem Fuße.
López blieb reglos hängen, wo er war. Er hatte das Bewusstsein verloren.
Juan rief durch die Lukenöffnung: »Manövrieren Sie uns unter ihn!«
Der Gator setzte sich in Bewegung, bis er sich genau unter dem CIA -Agenten befand. Während Juan und Linc den Mann festhielten, befreite ihn Raven von dem Bungee-Seil. Der CIA -Agent rutschte in Juans und Lincs Arme.
Sie ließen ihn behutsam durch die Lukenöffnung hinunter in den Gator, dann folgten sie ihm in das Mini-U-Boot.
Juan schloss die Luke und gab Befehl, mit voller Kraft Fahrt aufzunehmen, ohne zu tauchen. Zwei Sanitäter von der Oregon kümmerten sich um López, während sich Raven und Linc, vollkommen erschöpft von der Verfolgungsjagd, in freie Sessel fallen ließen. Gomez Adams hantierte an zwei Drohnen herum, als wollte er sie startbereit machen.
»Was haben Sie damit vor?«, erkundigte sich Linc bei Juan.
Der Chairman betrachtete López’ reglose Gestalt und schüttelte voller Abscheu den Kopf. Raven hatte ihn noch nie so wütend gesehen.
»MacD und Hali sind in Schwierigkeiten«, sagte Juan. »Aber wir werden heute niemanden mehr verlieren.«