18
PORTO DE SANTOS, BRASILIEN
Hafenmeister Matheus Aguilar wünschte sich, lieber auf ein derart üppiges Mittagessen verzichtet zu haben. Der Gestank, der ihn auf der Salem im Büro des Kapitäns einhüllte, kämpfte mit seinem Magen, und das Duell drohte mit einer Niederlage des Letzteren zu enden. Aber er würde das Schiff nicht ohne sein Schmiergeld verlassen, selbst wenn er sich in den Papierkorb übergeben müsste, um es zu kassieren.
»Sie verstehen sicher, dass wir unsere Inspektionen und Sicherheitschecks streng und gewissenhaft durchführen müssen, Captain White«, sagte Aguilar und schluckte krampfhaft, als bittere Galle in seiner Speiseröhre aufstieg. Sein Blick blieb an dem schmuddeligen Bad hängen, in dem die Toilette in einem fort gurgelte. Er befürchtete, dass sie jeden Moment ihren Inhalt hervorrülpste.
Der fette alte Seebär hinter dem Schreibtisch lehnte sich in seinem knarrenden Sessel zurück und strich sich durch den silbergrauen Bart. Dann massierte er das Hosenbein in Höhe seines Beinstumpfs. Wenn er sich gehend fortbewegte, dann mit einem ausgeprägten Humpeln. Er hatte Aguilar die Beinprothese gezeigt, als der Hafenmeister während ihres Rundgangs auf der baufälligen Kommandobrücke darüber gestolpert war.
»Ganz gewiss ist Sicherheit in diesen Breiten ein wichtiger Faktor«, sagte White. »Sie müssen sich regelmäßig davon überzeugen, dass gerade der Hafen ein sicherer Ort ist.«
»Deshalb muss ich Ihre Frachtbereiche und den Maschinenraum auch eingehend inspizieren. Sehen Sie sich nur an, was gestern in Rio de Janeiro passiert ist. Ich möchte nicht, dass es auch hier zu derartigen Vorfällen kommt.«
Die Explosionen und Schießereien überall in Rio und in der Guanabara-Bucht hatten die brasilianischen Nachrichtensendungen während der letzten vierundzwanzig Stunden beherrscht. Die Salem lag zurzeit am Ladekai des Porto de Santos, über den der gesamte Warenumschlag für São Paulo erfolgte. Er war der größte Hafen in Südamerika. Daher würde jede wesentliche Störung seines operativen Geschäfts die Wirtschaft der ganzen Nation in Mitleidenschaft ziehen.
»An was hatten Sie gedacht?«
»Wie bitte?«, fragte Aguilar.
»Ich meine den Preis«, sagte White. »Nennen Sie ihn.«
»Ich glaube, ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Aguilar hatte während seiner Tätigkeit als Hafenmeister schon oft Schmiergelder eingestrichen, aber niemand hatte sich bisher so unverblümt dazu geäußert.
White beugte sich vor, wobei sich unter seinem Oberhemd überraschend kräftige Muskelstränge abzeichneten.
»Ich meine, ich habe eine Fracht, die schnell gelöscht werden muss, und an meinen Turbinen sind einige kleinere Reparaturen auszuführen. Jeder bürokratische Ärger würde mich da nur behindern. Ich muss den Hafen in spätestens drei Stunden wieder verlassen und kann mir keine Verzögerungen leisten. Also was ist Ihr Preis?«
Die Art, wie Whites Blicke Aguilar durchbohrten, war verwirrend. Irgendetwas an dieser Situation war seltsam, aber er konnte sich nicht erklären, weshalb er so nervös war. Plötzlich verlor das Schmiergeld an Bedeutung. Es schien die Mühe nicht mehr wert zu sein, ganz gleich wie viel er in seine Taschen lotsen könnte.
»Vielleicht sollte ich noch ein paar zusätzliche Leute an Bord holen, um die Inspektion durchzuführen«, sagte Aguilar und erhob sich von seinem Stuhl.
»Hinsetzen«, sagte White, ohne sich zu rühren.
Aguilar pumpte seinen Brustkorb auf und schlug den überheblichsten Tonfall an, zu dem er fähig war. Dies war sein Hafen, er hatte hier das Sagen. Niemand durfte in diesem Ton mit ihm reden.
»Ich empfehle mich lieber. Wir werden dieses Schiff mit einem Vergrößerungsglas bis auf die kleinste Niete durchkämmen.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Das würde ich nicht tun«, sagte White mit einem spöttischen Grinsen. »Wirklich nicht, es sei denn, Sie wollen, dass die Hafenbehörden erfahren, wie viel Sie von den Liegegebühren für sich abschöpfen.«
Aguilar erstarrte.
»Es dürfte so viel sein, dass Sie sich demnächst recht komfortabel zur Ruhe setzen können.« Whites Grinsen vertiefte sich, und er fuhr fort: »Natürlich werden Sie es nicht ausgeben können, wenn Sie im Gefängnis sitzen. Sobald die Zeitungen von Ihren Betrügereien erfahren, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis Sie vor Gericht gestellt werden.«
Aguilar wirbelte herum. »Woher wissen Sie darüber Bescheid?«
»Ich habe einen Computerexperten, der darauf spezialisiert ist, versteckte Dokumente zu finden. Ich brauche nichts anderes zu tun, als sie ins Internet zu stellen, und schon liegt alles offen zutage. Korrupte Politiker finden es gar nicht gut, von korrupten Bürokraten um ihre geheimen Geldzuflüsse gebracht zu werden.«
Aguilars Beine fühlten sich plötzlich ziemlich wacklig an, und er sank auf seinen Stuhl zurück.
»Was wollen Sie?«
»Ich erwarte, am Ende Ihrer Inspektion mit einem makellosen Ergebnis dazustehen. Und wenn ich wieder hierher zurückkomme, wünsche ich, mit den gleichen Samthandschuhen angefasst zu werden. Ich pflege das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche. Deshalb ist dies hier eine kleine Belohnung für Ihre Mühen.«
White schob ein dickes Bündel amerikanischer Dollars über den Tisch.
»Es gibt noch mehr davon, wenn ich zurückkomme. Ich möchte nicht, dass Sie mit unserem Arrangement unglücklich sind.«
White erhob sich und blickte drohend auf Aguilar hinunter, in dessen Magen nun das völlige Chaos herrschte.
»Aber wenn mein Schiff auch nur den geringsten Minuspunkt wegen eines Tippfehlers in den Frachtpapieren erhält, können Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie vor Ihrem siebzigsten Geburtstag eine Gefängniszelle von außen zu sehen bekommen.«
Aguilar schluckte und nickte. »Ich verstehe.«
Whites Gesicht verzog sich zu einem strahlenden, aber freudlosen Lächeln, das Aguilar noch mehr Angst machte. »Gut. Und nun möchte ich während dieses Besuchs weder Sie noch jemanden, der für Sie arbeitet, auch nur in der Nähe meines Schiffes sehen.«
Aguilar kam schwankend auf die Füße und angelte sich das Geld vom Tisch. »Sie haben die Inspektion mit fliegenden Fahnen hinter sich gebracht, Captain White.«
White nickte und winkte ihm zum Abschied lässig zu. »Adeus, amigo. «
Eilig verließ Aguilar das Büro. Er schaffte es nach oben bis aufs Außendeck, ehe er sich über die Reling erbrach.
* * *
Sobald Aguilar sein Büro fluchtartig verlassen hatte, brach Zachariah Tate in schallendes Gelächter aus, nahm den falschen Bart ab und entfernte die falsche Nase, sodass sein schmales Gesicht, seine schlanke Nase und das Kinn mit seinen Grübchen zum Vorschein kamen. Als Nächstes folgte die weiße Perücke, die jetschwarzes Haar bedeckte. Ganz gleich, ob er Charles White auf der Salem oder Chester Knight auf der Portland spielte, er hatte jedes Mal großes Vergnügen an den Abstechern ins Theaterfach.
»Er ist weg«, sagte Tate in das versteckte Mikrofon. »Können wir jetzt endlich diesen widerlichen Gestank loswerden?«
Ventilatoren vertrieben die künstliche Luftverpestung innerhalb von Sekunden aus dem Büro und ersetzten sie durch eine frische, salzige Seebrise, die Tate allen anderen Gerüchen vorzog.
Abdel Farouk betrat sein Büro und kicherte verhalten. »Sie brauchten ihm nicht gleich mit der Atombombe zu drohen, Commander.«
»Doch, das musste ich«, widersprach Tate und holte das Füllmaterial aus seinem Oberhemd. »Dieser Mistkerl hätte mir eine ganze Stunde meiner Zeit gestohlen. Das kann ich mir nicht leisten. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Sehen wir zu, dass wir die Fracht ausladen und ein wenig Geld verdienen.«
Die falsche Beinprothese war das Letzte, wovon er sich befreite. Die Kunststoffhülle um Tates gesunden rechten Unterschenkel war das unbeliebteste Element seiner Verkleidung, weil es ein unangenehmes Jucken verursachte.
Er ließ alles auf dem Schreibtisch liegen und geleitete Farouk durch den schmuddeligen Korridor mit seinen flackernden Neonröhren bis zu einem Besenschrank. Die Reinigungsutensilien, die auf dem Boden herumstanden und lagen und die Regale füllten, waren unbenutzt und schimmelig, und das Schmutzwasserbecken war bis zum Rand verdreckt. Tate bewegte die Wasserkräne in einer bestimmten Reihenfolge – wie ein Kombinationsschloss. Mit einem leisen Klicken gab daraufhin eine Geheimtür im Wandschrank nach.
Tate zog sie vollends auf und betrat einen von geschmackvollen Wandlampen erhellten Flur mit dickem, weichem Teppichboden. Es war, als befände er sich plötzlich in einem Fünfsternehotel.
Farouk schloss hinter ihnen die Tür. »Unsere Käufer halten sich bereit, die vier Container auf ihr Schiff zu transferieren, sobald wir sie ausgeladen haben.«
»Sind sie mit unseren Bedingungen einverstanden?«
Farouk nickte. »Es war ein faires Angebot. Ich würde wirklich gern wissen, wo die Waffen am Ende landen werden.«
»Wen interessiert’s?« Tate wischte dieses Thema mit einer Handbewegung vom Tisch. »Am besten gefällt mir an der ganzen Sache, zweimal für die gleiche Lieferung bezahlt zu werden.« Die Manticora -Operation war wie geplant verlaufen. Die Zahlung durch die Tarnfirma der CIA war über unzählige Scheinkonten geschleust worden. Kein Mensch könnte sie jemals zurückverfolgen.
Tate gelangte durch eine Tür ins Operationszentrum der Portland . Dieser Raum im Herzen des Schiffes diente als eigentliche Kommandobrücke. Die baufällige Konstruktion hoch oben auf dem Deckaufbau war nichts anderes als eine Täuschung.
Jede Funktion des Schiffes konnte vom Operationszentrum aus gesteuert werden, angefangen vom Antrieb über den Funkverkehr bis hin zu seiner Bewaffnung. Der Raum selbst ähnelte der Kommandozentrale eines Raumschiffs mit Flachbilddisplays, berührungssensiblen Kontrollen und einem überdimensionalen Bildschirm an der Stirnseite. HD -Kameras überwachten die äußere Umgebung des Schiffs.
Tate nahm seinen Platz auf dem Kommandodrehsessel in der Mitte des Raums ein. Mit den in die Armlehnen eingebauten Kontrollen konnte der Commander die meisten wichtigen Funktionen des Schiffes steuern.
»Status?«, fragte er.
Sein Erster Offizier, ein russischer Marineveteran namens Pavel Durchenko, sagte: »Wir laden gerade den ersten Container aus, Commander.«
Er nickte einem anderen Offizier zu, und auf dem Hauptbildschirm erschien der Hafenkran, der den Frachtbehälter am Haken hatte und anhob.
»Sobald der letzte Container auf dem Kai abgesetzt wird«, sagte Tate zu Farouk, »sollte der Kaufpreis auf unseren Konten sein.«
»Jawohl, Sir.«
Zwei Mannschaftsmitglieder klatschten einander ab, und die anderen beschränkten sich auf ein zustimmendes Murmeln. Sie alle waren an der Beute eines jeden Coups beteiligt, den die Portland erfolgreich in Szene setzte.
»Haben wir den angeforderten Nachschub erhalten?«
»Unsere Lebensmittel- und Munitionslager werden innerhalb der nächsten Stunde aufgefüllt«, sagte Durchenko.
»In Ordnung. Dann zeigen Sie mir das Ziel des heutigen Abends.«
Eine andere Außenansicht erschien auf dem Bildschirm, diese war vom Heck der Portland aus aufgenommen worden. Zu sehen war ein großer Frachter, der mit Holz und Kaffee – beides für Frankreich bestimmt – beladen wurde.
»Das Schiff sieht brandneu aus.«
»Das ist es auch«, bestätigte Farouk. »Deshalb ertrinken die Eigner in Schulden. Sie können die bestehenden Pachtverträge nicht auflösen und schreiben rote Zahlen. Sie meinen, ihre Verluste ließen sich nur decken, wenn das Schiff sinkt und Lloyd’s of London die Versicherungssumme auszahlt.«
Tate hielt die Finger hoch und spielte die kleinste Geige der Welt. »Ich breche gleich in Tränen aus. Zahlen Sie unseren üblichen Prozentsatz?«
»Ja.«
»Dann sollten wir eine Doppelnummer inszenieren und noch eins draufsetzen.«
»Was meinen Sie?«
»Unser alter Kumpel Juan Cabrillo hatte gestern einen schlechten Tag. Wir wollen diese Pechsträhne noch ein wenig weiterspinnen, nicht wahr?«
Alle Köpfe im Operationszentrum nickten.
»Dann sollten wir dafür sorgen, dass der Frachter noch vor Sonnenuntergang sinkt und wir ein gutes Video bekommen, auf dem zu sehen ist, dass die Portland daran beteiligt war. Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Mannschaft der Manticora mitten im Atlantik gefunden wurde. Und dass die Navy noch immer nach der Kansas City sucht. Ich finde, nun wird es langsam Zeit, den Druck auf die Oregon zu erhöhen und ihr eine weitere Gräueltat anzuhängen.«
Wenn sie erst einmal als Schuldige dieser Katastrophen identifiziert war, würde sie von den USA für aussätzig erklärt werden – und ihr Kapitän ebenfalls. Niemand innerhalb der CIA wusste, dass die Oregon einen Doppelgänger hatte, eine identische Kopie bis hin zu ihren Waffensystemen und ihrer hochmodernen magnetohydrodynamischen Antriebstechnik.
Tates umfangreiche Pläne trugen bereits die ersten Früchte, es waren Pläne, die er in den Jahren der Folter und der Einzelhaft entwickelt hatte. Wie jedes Mannschaftsmitglied auf der Portland wollte er sich bei Juan Cabrillo revanchieren, jener Person, die für das bittere Schicksal eines jeden von ihnen verantwortlich war.
Aber Tate würde seinen ehemaligen Partner in der CIA nicht töten. Das wäre zu simpel. Vielmehr wollte er ihn bestrafen. Zuerst würde Tate seinen Ruf ruinieren. Dann würde er Cabrillos Mannschaft töten, dann sein Schiff versenken und ihn für den Rest seines Lebens in einem Gefängnis der Dritten Welt verrotten lassen, und zwar mit dem Bewusstsein, alles verloren zu haben, was ihm lieb und teuer gewesen war.
Tate genoss die Vorstellung, ihm so viel Leid zuzufügen, und grinste.
Er würde Juan Cabrillo vollständig vernichten.