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LANGLEY, VIRGINIA
Langston Overholt brauchte nicht sehr oft die CIA
-Zentrale zu verlassen, um sich mit Leuten aus seinem Dienstbereich zu treffen. Aufgrund seiner Position und seiner Erfahrung kamen sie ausnahmslos zu ihm. Aber als Verbindungsmann der Corporation gehörte es in seinen Verantwortungsbereich, den anscheinend verbrecherischen Aktivitäten der Oregon
auf den Grund zu gehen. Der Direktor persönlich äußerte Zweifel an Juan Cabrillos Integrität, und es hatte Overholt seinen gesamten beträchtlichen Charme und seine Überzeugungskraft gekostet, ihn davon abzuhalten, die Corporation offiziell zu einem kriminellen Unternehmen und einer verräterischen Organisation zu erklären.
Overholt musste Juan zusätzliche Zeit verschaffen. Er musste nach Washington, D. C., reisen und das Außenministerium aufsuchen, um zu verhindern, dass sich die Situation zu einer diplomatischen Krise zwischen Frankreich und Brasilien hochschaukelte. Zugleich instruierte er Juan Cabrillo, den Rahmen seiner Möglichkeiten voll auszuschöpfen und alles Menschenmögliche zu tun, um herauszufinden, wer diese Verbrechen der Oregon
anzuhängen versuchte.
Als er den Haupteingang erreichte, hörte Overholt, wie jemand seinen Namen rief. Er sah sich suchend um und entdeckte Catherine Ballard, die mit einem Aktenkoffer in der Hand eilig auf ihn zukam. Flachsblond, sportliche Figur und stets mit energischen Schritten unterwegs, trat Ballard nach wie vor wie eine Agentin im Fronteinsatz auf, obwohl sie drei Jahre zuvor befördert wurde und nun in Langley ihre eigenen Operationen leitete. Ihr maßgeschneiderter Hosenanzug und die Schildpattbrille unterstrichen ihr attraktives Aussehen, das sie im Laufe ihrer Karriere schon bei mehr als einer Mission zu ihrem Vorteil eingesetzt hatte.
»Sie wollen offenbar zum Außenministerium«, sagte sie. »Wir haben eben einige weitere Informationen über die Portland
erhalten, daher fahre ich jetzt zur NUMA
-Zentrale, um sie zu überprüfen. Können wir uns darüber unterhalten, wenn ich zurückkomme?«
Ballard leitete die Rebellen-Operation in Nicaragua und hatte sich mit Jack Perry angefreundet, dem Agenten, der mit dem falschen Juan Cabrillo verhandelt hatte.
»Offenbar haben wir die gleiche Richtung. Was halten Sie davon, mich zu begleiten und während der Fahrt darüber zu informieren?«, fragte Overholt.
Sein Angebot überraschte sie offenbar, aber nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte, willigte sie ein. »Ich kann nach der Konferenz ein Uber-Taxi bestellen, um zurückzufahren.«
Overholts schwarzer Suburban SUV
wartete vor dem Eingang. Während sie zu dem Wagen hinübergingen, fragte er: »Wie geht es Perry?«
»Er war ziemlich dehydriert, als sie das Rettungsboot fanden, aber er erholt sich schnell. In ein paar Tagen wird er seine Arbeit wieder aufnehmen können.«
»Finden Sie es nicht seltsam, dass sie die Leute am Leben gelassen haben?«
Ballard zuckte die Achseln. »Vergessen Sie nicht, dass der Mann, der sich Chester Knight nannte, wollte, dass er uns die Nachricht übermittelte, dass Knight nicht mehr für uns arbeiten wolle.«
Overholt nickte. »Ich finde es trotzdem sonderbar. Es war Perry, der die Portland
ausgesucht hat, um die Waffen aus Südafrika zu holen.«
»Ja, er kam durch die Empfehlung eines Emirs am Persischen Golf auf sie, der sie offenbar des Öfteren mit Sicherheitsaufgaben betraute.«
Das entsprach ganz Juans modus operandi. Die Corporation arbeitete nicht exklusiv für die CIA
und unterhielt ein Netzwerk von Kontakten, um andere Aufträge zu suchen, wie zum Beispiel die Bereitstellung des Geleitschutzes für die Schiffe befreundeter Nationen oder Wirtschaftsunternehmen.
Als sie zu dem Suburban kamen, hielt Jeff Connolly, Overholts Fahrer und Leibwächter, die hintere Tür für sie auf. Ballard bedankte sich bei dem stämmigen Connolly mit einem Lächeln und stieg ein.
»Wie sieht der Verkehr heute Nachmittag aus?«, wollte Overholt von ihm wissen, ehe er seiner Kollegin folgte.
»Überraschenderweise fließt er auf dem G. W. Parkway weitgehend störungsfrei, Sir«, antwortete Connolly in leichtem Texas-Slang. »Wir sollten in einer halben Stunde am Ziel sein.«
»Ms. Ballard muss weiter zur NUMA
-Zentrale, nachdem Sie mich abgesetzt haben. Sie haben doch nichts dagegen, sie dorthin zu bringen, oder?«
»Kein Problem, Sir.«
Während sie sich in den fließenden Verkehr einfädelten, wandte sich Overholt an Ballard. »Welche neue Information über die Portland
ist zu Ihnen gelangt?«
Sie zögerte und warf einen warnenden Blick auf Connolly.
»Es ist vollkommen okay«, versicherte ihr Overholt. »Jeff ist ein ehemaliger Navy SEAL
, und seine Sicherheitsfreigabe ist fast genauso hoch wie meine. Er macht diesen Job nur für ein paar Monate, um in der Nähe seiner Familie zu sein.«
»Haben Sie Kinder?«, wollte Ballard von Connolly wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter erholt sich von einer Chemotherapie. Ich bin gekommen, um meinem Vater zu helfen.«
Sie lächelte mitfühlend. »Das tut mir leid.«
»Danke.«
Overholt sah, wie sie im Innenspiegel einen langen Blick wechselten. Er vermutete, dass Ballard Connollys nackter Ringfinger nicht entgangen war.
»Zurück zur Portland
«, sagte er zu ihr, da er wusste, dass sie und Connolly während der Fahrt zur NUMA
genügend Zeit für ein ausgiebiges Schwätzchen hätten. »Sind Sie auf irgendetwas gestoßen, aus dem hervorgeht, wer sie betreibt oder unter welcher Fahne sie unterwegs ist?«
»Nein. Nichts dergleichen. Ich kann gar nichts Offizielles über die Portland
finden. Meine Recherchen haben ergeben, dass der Name des Schiffes, das unsere Fracht in Kapstadt übernommen hat, Norego
lautete.«
Overholt durchfuhr ein eisiger Schock. Das war einer der Tarnnamen, die Juan für die Oregon
benutzte.
Ballard fuhr fort: »Wir brachten außerdem in Erfahrung, dass die Norego
Container von Stellenbosch geladen hatte, die nichts mit unserem Auftrag zu tun hatten. Jetzt gehen wir davon aus, dass sie zwölf Exocet-Antischiffsraketen enthielten.«
»Der gleiche Typ, der eingesetzt wurde, um die Avignon
zu versenken.«
Sie nickte. Für die Corporation sah es immer schlechter aus. Exocets waren Teil des regulären Waffenarsenals der Oregon
.
»Hoffen Sie, dass die NUMA
Ihnen behilflich sein kann, die Herkunft der Portland
aufzuklären?«, fragte Overholt. Die National Underwater and Marine Agency hatte die umfangreichste Schiffsdatenbank der Welt.
»Ich dachte, dass es in einem derart heiklen Fall wie diesem sicherlich angebracht wäre, meine Bitte in einem persönlichen Gespräch zu äußern.«
»Nicht unklug.«
Sie kamen auf dem Parkway zügig voran, wie Connolly schon prophezeit hatte, aber dann trat er plötzlich abrupt aufs Bremspedal, als sie sich der Ausfahrt der Chain Bridge Road näherten. Die Schnellstraße verengte sich bis auf eine Fahrspur, und ein Sattelschlepper drängte sich direkt vor ihnen vom Bankett in die Fahrzeugkolonne.
»So ein Idiot«, murmelte Connolly. Er stützte sich auf den Hupknopf, und der Lastwagen beschleunigte, bis sie wieder das ursprüngliche Tempo erreichten, aber nun versperrte er zwei Fahrspuren.
»Ist das zu glauben?«, fragte Connolly. »Moment … was zum Teufel …«
Overholt beugte sich vor und sah, wie die Hecktür des Auflegers aufklappte. Im Dunkel des Laderaums entdeckte er die Spitzen zweier massiver Harpunen, die auf sie zielten.
»Bringen Sie uns von hier weg!«, rief Overholt. Doch es war zu spät.
Die Harpunen wurden abgefeuert und durchbohrten den Kühlergrill und verhakten sich im Motorblock. Eine Dampfwolke stieg aus der perforierten Kühlerleitung in die Luft. Gleichzeitig wurde eine Rampe aus dem Heck des Lastwagens ausgefahren.
Kabel, an deren Enden sich die Harpunen befanden, strafften sich und begannen, den Suburban an den Lastwagen heranzuziehen.
Connolly stand auf dem Bremspedal. Die Reifen quietschten und qualmten, aber die Kabel, die den SUV
zogen, waren zu stark und zerrten sie vorwärts, während sie den Highway hinunterrasten. Er riss das Lenkrad nach links und rechts, sodass der Suburban hin und her schlingerte, aber darüber hinaus hatte es keine Wirkung. Rauszuspringen war bei diesem rasanten Tempo auch keine Option, die sich anbot.
»Haben Sie eine Waffe?«, erkundigte sich Overholt bei Ballard. Er konnte erkennen, dass ihr Verstand auf Hochtouren arbeitete und ihre Möglichkeiten durchging.
»Nein«, sagte sie.
Connolly gab den Kampf mit dem Lenkrad auf, bückte sich und reichte ihr den Revolver aus seinem Knöchelhalfter, ehe er einen Colt Semiautomatic aus dem Schulterhalfter unter seinem Jackett zog.
Nach wenigen Sekunden gelangte der Suburban auf die Rampe und wurde in den dunklen Trailer gezogen, bis die Tür hinter ihnen nach unten klappte.
»Ich kann vier von ihnen sehen«, sagte Connolly. »Sie haben Schutzschilde. Aber wenn wir …«
Ein einziger Schuss erstickte Connollys letzte Worte. Catherine Ballard hatte ihm mit seiner eigenen Waffe in den Hinterkopf geschossen.
Sie wandte sich zu Overholt um, der sie entsetzt anstarrte. Sie hob eine Hand, um den Männern draußen anzudeuten, dass sie warten sollten. Offenbar wollte sie diesen Moment auskosten.
»Sie sind also der Maulwurf«, stellte Overholt nüchtern fest.
Sie nickte und grinste selbstzufrieden. »Sie wären irgendwann dahintergekommen, dass ich diejenige war, die die Identitäten von Machado, López und Belasco aufgedeckt hat. Es war ein Risiko, aber ich war zuversichtlich, dass wir Sie kidnappen konnten, ehe dies geschah.«
»Wie konnten Sie wissen, dass ich Sie einladen würde, in meinem Wagen mitzufahren?«
»Oh, das wusste ich nicht. Das war ein reiner Glücksfall. Ich hatte die Absicht, Ihnen in meinem eigenen Wagen zu folgen und dem Lastwagen zu gegebener Zeit ein Zeichen zu geben. Aber da ich bei Ihnen im Wagen saß, war die Verfolgung mit dem GPS
-Modul in meinem Telefon noch einfacher.«
Overholt war wütend, dass er auf diese Weise ausgetrickst worden war. »Dann war die Extraktionsmission der Oregon
eine einzige Täuschung?«
Ballard nickte. »Vom ersten Moment an. Und Sie haben wie erhofft mitgespielt.«
»Natürlich. Ich hatte nicht den geringsten Grund, eine verdiente Agentin wie Sie zu verdächtigen.«
»Natürlich nicht. Warum sollten Sie auch? Ich bin so rein und unberührt wie frisch gefallener Schnee.«
»Warum wollen Sie all das so einfach wegwerfen? Was wollen Sie von mir?«
»Sie und Juan Cabrillo sind Zachariah Tate für das, was Sie ihm angetan haben, einiges schuldig«, sagte Ballard und gab den Männern im Lastwagen ein Zeichen, Overholt aus dem Suburban zu holen. »Für das, was Sie uns angetan haben. Jetzt ist der Augenblick gekommen, um die Schuld zu begleichen.«