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ARGENTINIEN
Am nächsten Morgen stand Eddie Seng in Mar del Plata auf dem Hafenkai, während der einzige funktionsfähige Kran der Oregon einen Lastwagen herabsenkte, den er vorher aus dem Laderaum gehievt hatte. Das kastenförmige Fahrzeug mit der breiten Führerkanzel, die vier Personen Platz bot, und den überdimensionalen Reifen sah genauso verrostet und schrottreif aus wie das Schiff, aus dessen Bauch es herausgeholt worden war. Die Seitenwände trugen die verblichene Aufschrift Vertegas Oil Exploration . Der PIG  – die Abkürzung stand für die unverfängliche Bezeichnung »Powered Investigator Ground«, was so viel wie »motorisierter Landaufklärer« bedeutete – sah, wie von seinen Betreibern beabsichtigt, vollkommen unscheinbar aus.
Der Zollinspektor betrachtete das Fahrzeug mit leicht angewiderter Miene.
»Soll dieses Ding tatsächlich fahrtüchtig sein?«, fragte er, während er die Frachtpapiere auf seinem Klemmbrett überflog. Wegen seines starken spanischen Akzents waren die englischen Worte kaum zu verstehen.
Eddie nickte. »Und wie. Sie würden staunen.«
»Ich staune. Zeigen Sie es mir.«
Als der Wagen auf festem Grund stand, lösten Raven und Linc die Kranseile, während Eddie mit dem Zollinspektor den Wagen umrundete. Er öffnete die Hecktüren und zeigte dem Hafenbeamten, dass sich im Gepäckabteil sechs Stahlfässer vom Boden bis zum Dach stapelten.
»Was ist darin?«, fragte der Inspektor.
»Reservetreibstoff«, erwiderte Eddie. »Wir wollen in einer einsamen Region im Süden einige Untersuchungen durchführen.«
Der Inspektor klopfte gegen eines der Fässer und hörte den typischen Klang eines mit einer Flüssigkeit gefüllten Behälters.
»Wenn Sie möchten, hole ich eins heraus, damit Sie einen Blick reinwerfen können«, bot Eddie an.
Der Inspektor überlegte, dann schaute er auf die Uhr.
»Sie haben es wahrscheinlich eilig«, sagte Eddie und erlaubte ihm einen kurzen Blick auf eine Rolle einiger Hundert amerikanischer Dollars, die er in der Hand hielt. »Vielleicht finden wir beide eine Möglichkeit, diese Prozedur ein wenig zu verkürzen.«
Der Blick des Inspektors saugte sich an den Banknoten fest, und er nickte. »Ich denke, das ist möglich.«
Der Beamte reichte Eddie das Klemmbrett, damit dieser die Zollformulare unterschreiben konnte. Eddie schob die Scheine unter die Papiere und gab das Brett lächelnd zurück.
»Vielen Dank, Señor.«
»De nada. «
Während sich der Inspektor entfernte und das Geld unauffällig in einer Tasche seiner Uniform verstaute, fragte Raven: »Musstest du jemals einem Zollbeamten zeigen, dass die Fässer tatsächlich mit Treibstoff gefüllt sind?«
Eddie schüttelte den Kopf. »Aber ich biete es immer an. Das überzeugt sie jedes Mal davon, dass wir nichts zu verbergen haben.«
Obgleich die sechs Fässer tatsächlich Reservebenzin enthielten, waren die Fässer, die dahinter zum Vorschein kämen, reine Attrappen, die das eigentliche Gepäckabteil vor neugierigen Blicken verbargen.
Der PIG war Max’ geistiges Kind, das er von Grund auf in allen Details konstruiert hatte. Das verstärkte Chassis eines Mercedes Unimog war mit einer gepanzerten Karosserie versehen worden, die leichtem Gewehrfeuer zu widerstehen vermochte, und die Räder mit den sich selbst versiegelnden Reifen wurden von einem achthundert PS starken Turbodieselmotor angetrieben, der, mit Nitrotreibstoff gespeist, kurzfristig bis zu eintausend PS zu leisten vermochte.
Eine Kaliber .30 Maschinenpistole war in der vorderen Stoßstange versteckt, und Raketen konnten von Trägergestellen abgefeuert werden, die aus den Seitenwänden des PIG herausgeklappt wurden. Eine nahtlos schließende Klappe im Dach des Wagen konnte bei Bedarf geöffnet werden, um Mörsergranaten abzuschießen, und ein Rauchgenerator war in der Lage, den Lastwagen innerhalb von Sekunden unsichtbar zu machen.
Eric und Murph hatten Max überredet, dem Drive-by-Wire-System ein weiteres Modul hinzufügen, das die Fernsteuerung des PIG mit einem Handgerät ermöglichte. Raven hatte es für alle Fälle in einer Tasche ihres Overalls verstaut.
Obgleich das Frachtabteil bis zu zehn vollständig ausgerüsteten Soldaten Platz bot, wären in diesem Fall Eddie, Linc und Raven die einzigen Passagiere, bis sie Juan gerettet hätten.
Sie stiegen ins Führerhaus, das dank eines entsprechenden Farbanstrichs vernachlässigt und schmuddelig aussah. Obgleich die Ledersitze rissig und mit Flecken übersät waren, boten sie ein Höchstmaß an Bequemlichkeit. Eddie schob sich auf den Beifahrersitz, während sich Linc ins Frachtabteil verzog, um ihre Schusswaffen einsatzbereit zu machen. Raven nahm den Platz hinter dem Lenkrad ein und ließ den Motor an. Der blubberte kehlig wie ein reguläres Dieselaggregat, aber Eddie spürte seine enorme Kraft, die das Chassis in Vibrationen versetzte.
Raven legte einen Schalter um, und das altmodische Armaturenbrett drehte sich und wurde durch eine hochmoderne Kontrolltafel ersetzt, die den Zugriff auf sämtliche Waffensysteme ermöglichte, die sich an Bord befanden. Ein LCD -Display zeigte die Landkarte Argentiniens. Juans Peilsender wurde durch einen rot blinkenden Leuchtpunkt markiert.
»Sie haben Buenos Aires offenbar gut siebzig Meilen hinter sich gelassen«, sagte Raven.
Eddie rechnete und meinte dann: »Dann müssten wir sie etwa fünfundzwanzig Meilen nördlich von Las Armas abfangen. Das wird knapp.«
»Keine Sorge«, gab Raven zurück. »Ich habe einen Bleifuß.«
Sie legte den Gang ein und lenkte den PIG aus dem Hafengelände. Gleichzeitig machte die Oregon die Leinen los und stach in See.
* * *
Der Lastwagenkonvoi war mittlerweile seit zwei Stunden unterwegs. Und Juan, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, bewegte ständig die Finger, um den Blutkreislauf in Gang zu halten. Die Handschellen waren zwar nicht zu eng, aber lange in dieser Haltung auf dem Rücksitz des SUV zu sitzen, war höchst unbequem. Wenigstens hatten sie darauf verzichtet, ihm über dem Overall, den er trug, einen Sicherheitsgurt anzulegen. Dies hätte seine Bewegungsfreiheit im entscheidenden Augenblick zu stark eingeschränkt.
Dennoch war er von den Vorsichtsmaßnahmen, die Colonel Sánchez, der vor Juan auf dem Beifahrersitz saß, ergriffen hatte, beeindruckt. Tate musste ihn gewarnt haben, nicht das geringste Risiko einzugehen.
Neben Juan saß ein Söldner mit massiger Statur, der eine Heckler & Koch MP 5 Maschinenpistole auf Juan richtete. Er ließ Juan nicht aus den Augen. Vor und hinter dem SUV befanden sich gepanzerte Schweizer MOWAD -Grenadier-Fahrzeuge, jedes mit einem Kaliber .50 Maschinengewehr auf einer Turmlafette. Juan hatte außerdem beobachtet, wie die Söldner mehrere RPG -Rohre in die Fahrzeuge einluden.
Wenn sich Sánchez Tates Ratschlag wirklich zu Herzen genommen hätte, wäre er mit Juan in einen der Panzerwagen eingestiegen. Offenbar bevorzugte der Colonel stattdessen den Komfort weicher Ledersitze und einer Klimaanlage und wollte den Gefangenen in seiner Nähe haben.
Seitdem sie das Armeehauptquartier verlassen hatten, achtete Juan auf den herrschenden Verkehr. Falls die Oregon seinen Weg mithilfe des Peilsenders verfolgte, ergäbe sich auf der Autobahn sicherlich die beste Gelegenheit für einen Befreiungsversuch. Zumindest hoffte er das.
Ein paar Minuten später kam ihnen ein Lastwagen entgegen und passierte sie. Juan sah ihn nur für einen kurzen Moment, aber erkannte den Namenszug Vertagas auf der Seitenwand.
Es war der PIG .
»Colonel, was ist eigentlich, wenn ich die Toilette aufsuchen muss?«, fragte Juan.
»Dann müssen Sie warten. Wir sind nur noch fünfzig Kilometer von unserem Ziel entfernt.«
»Und wenn ich nicht warten kann?«
Sánchez drehte sich um und knurrte. »Wenn Sie meinen SUV versauen, wird Ihr erster Tag im Gefängnis um vieles schlimmer, als Sie es sich vorstellen können.«
»Ich dachte mir schon, dass er nicht sehr angenehm sein wird, auch wenn in der vergangenen Nacht der Betonfußboden in meiner Zelle erstaunlich komfortabel war.«
Sánchez sah den Söldner an. »Wenn er es nicht mehr aushalten kann, hast du die Erlaubnis, ihm in die Kniescheibe zu schießen.«
Der Söldner grinste. »Si, Colonel. «
»Schon okay«, sagte Juan. »Ich versuche es.«
Er wusste längst, was geschehen würde, und wollte mithelfen, so gut er konnte, daher veränderte er seine Haltung, als ob der Drang übermächtig würde und er Mühe hätte, ihm nicht nachzugeben. In Wirklichkeit bewegte er sein rechtes Bein hin und her und lockerte auf diese Weise die nur unzureichend angepasste Beinprothese. Nach einigen Sekunden spürte er, wie sein Beinstumpf so herausrutschte, dass er nur noch durch sein gesundes Bein gestützt und vor dem Umkippen bewahrt wurde.
Jetzt war er für den entscheidenden Angriff bereit.