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ATLANTISCHER OZEAN
Sobald er seine Kabine an Bord der Oregon
betreten hatte, duschte Juan lange – sehr lange – und sehr heiß, ein Luxus, den er nach seiner Nacht in der schmuddeligen Zelle in vollen Zügen auskostete. Während er in seinem Schlafzimmer die Beinprothese anlegte und sich anzog, hörte er, wie an die Kabinentür geklopft wurde. Dies musste Maurice mit einem späten Mittagessen sein, das der Chefkoch der Oregon
eigens für ihn zubereitet hatte.
»Herein!«, rief Juan.
Er hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde, aber das Klirren von Tellern und Gläsern, die auf den Tisch seines Wohn- und Arbeitszimmers gestellt wurden, folgte wenig später.
Als er vollständig angezogen war, verließ er das Schlafzimmer und sah, dass Maurice letzte Hand an den für zwei Personen gedeckten Tisch legte.
»Es freut alle, dass Sie wieder an Bord der Oregon
sind, Captain«, sagte Maurice. »Wie ich sehe, sind Sie auf dem Weg der Besserung.«
Juan betastete die Wunde an seiner Schläfe, die Julia mit vier Stichen genäht hatte.
»Nur ein kleiner Bums gegen die Birne«, sagte er. »Danke für dieses Menü. Die Verpflegung in meinem Gefängnis gestern war auf keinen Fall sternewürdig.«
»Nein, ich denke nicht. Aus der Küche kommen Filet Mignon mit Sauce Bernaise, Knoblauchkartoffeln und Rosenkohl in Orangenbalsamico. Ich war so frei, dazu einen Château Montrose Bordeaux auszuwählen.« Maurice schenkte den dekantierten Rotwein in große Kristallgläser.
Als das köstliche Aroma dieses Festessens seine Nase umfächelte, lief Juan das Wasser im Mund zusammen. »Ich vertraue wie immer blind auf Ihr Urteil, Maurice.«
»Das beruht durchaus auf Gegenseitigkeit, Captain.«
Dies war das äußerste an Kompliment, was Juan von dem unerschütterlichen Maurice jemals erwarten konnte.
Ein weiteres Mal wurde an die Kabinentür geklopft, und Juan öffnete sie für Langston Overholt, der davor wartete.
»Lang, willkommen auf der Oregon
«, sagte Juan und schüttelte seinem alten Mentor die Hand. »Bitte, kommen Sie herein, damit wir Ihren ersten Besuch auf dem Schiff angemessen feiern können. Ich muss allerdings zugeben, dass die Begleitumstände ganz und gar nicht nach meinem Geschmack sind.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Overholt, während er eintrat. »Es duftet auf jeden Fall köstlich.« Er warf einen Blick auf die Weinflasche, die neben der Dekantierkaraffe stand. »Château Montrose. Exzellente Wahl. Der 2007er?«
»Nein, der 2006er, Mr. Overholt«, antwortete Maurice.
»Es klingt, als seien Sie beide sich schon einmal begegnet.«
»Eigentlich noch nicht«, sagte Overholt.
»Mich wundert nicht, dass Maurice Ihren Namen kennt«, sagte Juan. »Er ist nicht nur der beste Steward auf den sieben Meeren der Welt, sondern auch die bestinformierte Person auf diesem Schiff.«
Die beiden älteren Herren wechselten einen Händedruck, Maurice allerdings mit fragender Miene.
»Verzeihen Sie, Sir, aber sind wir uns nicht doch schon einmal begegnet?«
In Overholts Augen stand die gleiche Frage. »Sie kommen mir ebenfalls bekannt vor. In diesem Zusammenhang kommt mir Admiral Beale von der Royal Navy in den Sinn.«
Maurice nickte. »Ich diente unter Admiral Beale, als er Kapitän der HMS
Invincible
war.«
»Ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Overholt. Er wandte sich zu Juan um und sagte: »Das reicht weit zurück bis in meine Zeit als aktiver Agent. Wir brachten einen KGB
-Offizier, der die Seiten wechseln wollte, auf den Flugzeugträger Ihres Stewards, und die Royal Navy beherbergte uns großzügigerweise ein paar Tage lang, bis wir ihn nach Amerika bringen konnten. Ich glaube, Maurice und ich, wir beide standen bei dieser Mission am Anfang unserer Karrieren.« Er warf einen Blick zu Maurice hinüber. »Wir können ja später noch bei einem Whiskey in alten Erinnerungen schwelgen. Es sind nicht mehr allzu viele Leute übrig, die sich an die alten Zeiten erinnern werden.«
»Es wird mir eine Ehre sein.« Maurice sah Juan an. »Captain, klingeln Sie, wenn ich den Tisch abräumen soll.«
»Danke, Maurice.«
Der vornehme Steward ergriff das Silbertablett und verließ die Kabine ebenso leise, wie er sie betreten hatte.
Juan Cabrillo und Langston Overholt setzten sich, ließen es sich schmecken und rekapitulierten gleichzeitig die Ereignisse der vergangenen beiden Tage.
Nachdem sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht hatten, kam Juan auf die Theorie über die Schallwaffe zu sprechen, die Julia skizziert hatte, während sie seine Platzwunde versorgte.
»Sie meint, dass der stählerne Rumpf der Oregon
mit einer Resonanzfrequenz zu vibrieren begann, als diese Schallquelle eingeschaltet wurde und das Signal durchs Schiff geleitet wurde und seine verheerende Wirkung auf die gesamte Mannschaft ausübte.«
»Ich schließe mich grundsätzlich dieser Theorie an, vor allem angesichts der Tatsache, dass Linda Ross auf Grund ihrer Taubheit offenbar immun dagegen war«, sagte Overholt.
»Die Frage ist, wie schützen wir uns vor einer solchen Waffe? Wie können wir sie abwehren? Ich kann schließlich meinen Leuten nicht die Ohren verstopfen.«
»Was ist mit Ohrenklappen oder –stöpseln?«
»Einen Versuch wäre es wert, aber Julia glaubt nicht, dass es funktionieren würde. Die Töne könnten im Infrabereich liegen, und niedrige Frequenzen lassen sich durch Hörschutzmaßnahmen nie besonders wirkungsvoll blockieren. Die Resonanzen könnten auch durch die Knochen übertragen werden, wie es bei unseren Zahnmikrofonen geschieht.«
»Ich weiß, dass das amerikanische Militär in dieser Richtung einige Experimente gemacht hat, aber bisher wurden keine Ergebnisse erzielt, die auch nur halbwegs dem entsprechen, was unsere Mannschaften erlebt haben.«
In hilfloser Ratlosigkeit schüttelte Juan den Kopf. »Sie berichteten, sie wären am liebsten über Bord gesprungen oder hätten unbedingt das Schiff zerstören wollen, nur um von diesen Halluzinationen befreit zu werden. Wir hatten großes Glück, dass Linda nicht beeinträchtigt wurde. Ich will mich nicht wieder auf unser Glück verlassen, aber solange wir keine wirkungsvollen Gegenmaßnahmen entwickeln, sind wir Tates Willkür ausgeliefert, wenn wir den Kampf gegen die Portland
aufnehmen. Es muss doch irgendeinen Weg geben, um diesen Effekt zu neutralisieren.«
Overholt lehnte sich zurück, und sein Blick ging ins Leere.
»Tate ist etwas herausgerutscht, während ich mich an Bord der Portland
befand. Er sagte, sie hätten die Kansas City
unter anderem deshalb versenkt, weil jemand an Bord irgendetwas wusste, das er für gefährlich hielt. Ich kann mich an den Satz genau erinnern, weil er irgendwie wichtig erschien. ›Außerdem war dieser SEAL
zu misstrauisch, was den Tod seiner Cousins betraf.‹«
»Demnach befand sich ein Navy SEAL
an Bord der KC
, der Tate so große Sorgen bereitete, dass er ein Atom-U-Boot versenkt hat, um es zu vertuschen?«
»Genau das scheint der Fall zu sein. Könnten sie noch am Leben sein?«
Juan ließ sich diese Frage kurz durch den Kopf gehen, ehe er antwortete: »Auch wenn seitdem schon zehn Tage verstrichen sind, wäre das durchaus möglich. Sofern der Schiffsrumpf nicht beschädigt wurde und kein Leck aufweist, könnte die Mannschaft mit der vorhandenen Atemluft so lange überlebt haben. Ich weiß, dass entsprechende Tests bei U-Booten der Los-Angeles-Klasse ergeben haben, dass ihre Mannschaften bis zu zwei Wochen mit dem Batteriestrom und CO
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-Notkerzen durchhalten können.«
»Aber wo sind sie?«, fragte Overholt. »Offenbar hat die Navy sie noch nicht gefunden. Wenn Tate sie mit dem SEPIRP
zum falschen Ort gelockt haben sollte, wird die Suche Hunderte Meilen vom tatsächlichen Ort der KC
-Havarie entfernt stattgefunden haben.«
Juan schnippte mit den Fingern. »Tate hat mir gegenüber noch etwas anderes durchsickern lassen. Er sprach davon, dass das U-Boot bei Algodoal irgendwo vor der Küste liege.«
Juan tippte auf seinem Tablet und rief eine Landkarte von Brasilien auf dem HD
-Wandschirm seiner Kabine auf. Er deutete auf eine kleine Stadt in der Nähe der Amazonasmündung.
»Dort. Die Kansas City
muss in Küstennähe dieser Region gesunken sein.«
»Das ist eine Menge Ozean, die darauf wartet, durchkämmt zu werden«, sagte Overholt.
»Dreitausend Quadratmeilen, je nachdem wie weit draußen die KC
sich befunden hat, als sie unterging. Trotzdem würde die Suche Wochen in Anspruch nehmen. Und wenn sie tiefer als zweitausend Fuß gesunken sein sollte, wäre ihr Rumpf zweifellos längst zerquetscht.«
»Nein«, widersprach Overholt. »Tate erwähnte, dass die Tiefe, die er Ihnen gegenüber nannte, den Tatsachen entspricht. Die Oregon
suchte lediglich zweitausend Meilen vom Unglücksort entfernt.«
»Demnach liegt die KC
wirklich und wahrhaftig in zweihundertfünfzig Fuß Wassertiefe auf Grund.«
Overholt nickte. »Ist das von besonderer Bedeutung?«
Darauf gab Juan keine Antwort. Stattdessen rief er eine Tiefenkarte des Atlantiks auf dem Wandschirm auf und rückte die brasilianische Küste in den Fokus. Er erhob sich und ging zum Display.
»Hier befindet sich der Rand des Kontinentalsockels«, sagte er und folgte mit dem Zeigefinger einer Linie, die in etwa dem Profil der Küste entsprach. »Die Meerestiefe beträgt im Durchschnitt einhundert Fuß bis zu dieser Kante. Danach geht es abrupt in die Tiefe. Die Kante des Schelfs ist der einzige Bereich, wo der Ozean eine Tiefe von zweihundertfünfzig Fuß hat.«
»Meinen Sie, dass die Kansas City
auf dieser Kante liegt?«, fragte Overholt.
»Genau das wurde von Tate angedeutet. Die Navy brauchte nichts anderes zu tun, als dieser Linie zu folgen, und würde innerhalb eines Tages auf die KC
stoßen.«
»Dann müssen wir die Navy benachrichtigen, dass sie ihr Suchraster ändern soll.«
»Erwarten Sie denn im Ernst, dass man Ihnen Glauben schenkt?«
»Da habe ich meine Zweifel«, gab Overholt zu. »Ich glaube, ich habe mein Guthaben an regierungsamtlichem Entgegenkommen weitgehend erschöpft.«
»Indem Sie mich gerettet haben?«, fragte Juan reumütig.
»Das war es allemal wert, alter Junge.«
»Danke.«
»Mal sehen, was ich bei der Navy erreichen kann.«
Juan betrachtete die Seekarte und stellte im Kopf einige Berechnungen an. »Für den Fall, dass sie ihnen keinen Glauben schenken, können wir mit dem Mini-U-Boot bis in diese Tiefe vordringen.« Er griff nach dem Telefon und rief im Operationszentrum an. »Hali, bestellen Sie Eric, er soll Kurs auf Algodoal in Brasilien nehmen, und zwar mit Höchstgeschwindigkeit.«
»Algodoal, Brasilien«, antwortete Hali. »Aye, Chairman.«
Juan legte den Hörer auf und nickte Overholt zu. »In gut zwei Tagen sind wir dort.«
Sie hatten nicht nur die Hoffnung, dass Mitglieder der Mannschaft der Kansas City
noch am Leben waren, sondern sie wollten außerdem in Erfahrung bringen, weshalb Tate den dringenden Wunsch hatte, sie zu versenken.