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VOR DER KÜSTE DES BUNDESSTAATES PARÁ, BRASILIEN
Wie Juan befürchtet hatte, ignorierte die U. S. Navy die Bitte Overholts, ihr Suchraster zu ändern, daher hatte die Oregon die östliche Spitze von Brasilien umrundet und war dem Verlauf der Kante des Kontinentalschelfs in hohem Tempo gefolgt. Nachdem sie vor der Küste Argentiniens gestartet waren, hatten sie nur vierundfünfzig Stunden gebraucht, bis sie kurz vor dem Amazonas-Delta anhielten. Sie begannen mit der Sonarsuche nach der Kansas City an einem Punkt südöstlich der kleinen Küstenstadt Algodoal.
Die Sensoren der Oregon strichen über den Steilhang des Schelfs und begrenzten den Suchbereich auf eine Wassertiefe von zweihundertfünfzig Fuß. Während der ersten vier Stunden fanden sie nichts, und Juan, der im Operationszentrum in seinem Kommandosessel thronte, begann sich schon zu fragen, ob das Ganze nicht nur eine von Tate inszenierte Finte war.
Als sie sich fast auf dem gleichen Breitengrad wie Algodoal befanden, machte sich Linda auf ihrem Platz vor dem Radarschirm durch einen lauten Ruf bemerkbar. Ihre Brille behinderte sie anscheinend kaum, zumal jeder im Operationszentrum Anwesende ein Lavalier-Mikrofon trug, um Linda zu helfen, die Stimmen der jeweiligen Sprecher voneinander zu unterscheiden.
»Chairman, ich orte gerade ein Schiff in unveränderter Position zwanzig Meilen vor uns.«
In unveränderter Position? Juan runzelte die Stirn. Konnte es die Portland sein, die auf der Lauer lag?
»Tate kann doch unmöglich vor uns hier angekommen sein. Oder etwa doch?«, fragte Max von seiner Konsole des Schiffsingenieurs und äußerte die gleiche Sorge wie Juan.
»Fahrt drosseln auf fünf Knoten«, befahl Juan.
»Fünf Knoten, aye«, erwiderte Eric vom Ruderstand.
»Es sendet kein AIS -Signal. Zu klein für einen Frachter. Aber größer als ein Fischkutter. Könnte ein Kriegsschiff sein.«
Handelsschiffe über dreihundert Bruttoregistertonnen waren verpflichtet, ein AIS -Signal zu senden, um sich einerseits zu identifizieren und andererseits mögliche Kollisionen zu vermeiden. Obgleich Kriegsschiffe ebenfalls mit dieser Technik ausgerüstet waren, neigten sie dazu, das Signal entweder mit Unterbrechungen zu senden oder nur unter schlechten Wetterbedingungen, um feindliche Schiffe davon abzuhalten, sie zu verfolgen.
»Geben Sie einen Ruf an sie durch«, sagte Juan zu Hali.
»Unbekanntes Schiff nördlich von uns«, sprach Hali in das Mikrofon seines Headsets, »hier ist das Frachtschiff Anacapa . Bitte antworten Sie.«
»Schalten Sie auf laut, damit ich mit ihnen reden kann«, sagte Juan.
Nach einem kurzen Moment antwortete eine Stimme mit Akzent: »Anacapa , hier ist die Korvette Barosso der brasilianischen Marine. Wir brauchen keine Hilfe.«
»Wir haben ein ungewöhnliches Signal aus dieser Region aufgefangen«, sagte Juan, obwohl es nicht zutraf. »Anscheinend kam es aus Ihrer gegenwärtigen Position. Deshalb haben wir uns Sorgen gemacht, als Sie stoppten.«
»Wir brauchen keine Unterstützung«, wiederholte die Stimme. »Kommen Sie nicht näher. Halten Sie mindestens zwei Meilen Abstand.«
»Verstanden, Barosso . Ende und aus.«
»Kommunikation beendet«, sagte Hali.
»Ja«, meinte Max. »Sie haben die Kansas City gefunden.«
»Murph«, sagte Juan, »glauben Sie, dass auf der Barosso Bergungstechnik zur Verfügung steht?«
Murph, der ein Experte für die Bewaffnung fremder Schiffe war, schüttelte den Kopf. »Sicher nicht, es sei denn, sie haben die entsprechende Ausrüstung speziell zu diesem Zweck mit hierhergebracht. Die Korvetten der Inhaúma-Klasse werden gewöhnlich zur U-Boot-Abwehr eingesetzt.«
»Wie lange dauert es, bis mit dem Eintreffen der U. S. Navy mit einem DSRV gerechnet werden kann?«
Ein Deep-Submergence Rescue Vehicle war ein Mini-U-Boot, das in der Lage war, an ein unter Wasser gestrandetes Atom-U-Boot anzudocken und dessen Mannschaft aufzunehmen und in Sicherheit zu bringen.
»Wenn die Navy es bereits hierhergebracht und auf ein anderes U-Boot gesetzt hat, etwa zwölf bis achtzehn Stunden, je nachdem wo sie sich zurzeit befinden. Doppelt so lange, wenn das DSRV noch in den USA ist.«
Bei einem manövrierunfähigen U-Boot zählte jede Minute. Falls Mitglieder der Mannschaft noch am Leben waren, könnte sich das sehr schnell ändern, sofern sie weitere zwölf Stunden warten müssten.
»Was hältst du davon, wenn wir runtergehen und uns einen eigenen Eindruck verschaffen?«, fragte Juan und sah Max gespannt an. »Die Luftschleuse des Nomads lässt sich auch als Dekompressionskammer nutzen. Falls es Überlebende gibt, könnten wir einige von ihnen herausholen.«
Max zuckte die Achseln. »Versuchen können wir es auf jeden Fall. Aber ich kann mir vorstellen, dass es die Besatzung der Korvette nicht allzu gern sieht, wenn wir in der Nähe herumschnüffeln, während sie versucht, das gesunkene U. S.-U-Boot zu beschützen.«
»Wir passieren sie langsam genug, um den Nomad anzusetzen, wenn wir zwei Meilen weit draußen sind. Du bringst die Oregon außer Radarreichweite, wendest und zeigst ihnen den neuen Namen am Heckspiegel. Auf dem Rückweg liest du uns wieder auf.«
»O nein«, sagte Max. »Diesmal begleite ich dich. Eric kann die Oregon führen.«
Auch wenn Eric Stone der beste Steuermann auf der Oregon war, zog Juan es doch vor, Max in seiner Abwesenheit das Kommando zu übergeben, für den Fall, dass sich eine brenzlige Situation ergab.
Als Juan Anstalten machte, ihm zu widersprechen, fügte Max warnend hinzu: »Zwing mich nicht, offen zu meutern.«
Juan lachte. Offenbar hatte er keine andere Wahl. »Na gut. Du kannst den Nomad lenken. Aber wir sind nur zu dritt – du, ich und MacD –, falls wir Platz für unerwartete Passagiere brauchen.«
»Wegen des Heliox?«
Juan nickte. Bei einer Wassertiefe von zweihundertfünfzig Fuß brauchten sie Trockentauchanzüge und in den Tauchflaschen eine Kombination aus Helium und Sauerstoff anstatt reinem Sauerstoff. Aber dieses Gemisch ohne vorheriges ausgiebiges Training zu atmen, konnte sich für den Taucher als heikel erweisen, und MacD war neben Juan das einzige Mannschaftsmitglied, das die Befähigung zum Heliox-Tauchen vorweisen konnte.
Da sie den Nomad bereits tauchfertig vorbereitet hatten für den Fall, dass sie tatsächlich auf die Kansas City stoßen sollten, würde es nur zwanzig Minuten in Anspruch nehmen, die Checkliste durchzugehen und das Mini-U-Boot zu Wasser zu lassen. Die Oregon könnte sich aus ihrer Position, zwanzig Meilen entfernt, innerhalb dieser Zeitspanne leicht bis auf die geforderten zwei Meilen Abstand der Barosso nähern. Aber ein Frachtschiff mit einer derart hohen Geschwindigkeit durch den Ozean pflügen zu sehen, würde dem Kapitän des brasilianischen Kriegsschiffs todsicher höchst verdächtig vorkommen.
»Stoney«, sagte Juan, »justieren Sie Ihre Geschwindigkeit dergestalt, dass wir in einer Dreiviertelstunde zwei Meilen von der Barosso entfernt sind. Sie haben das Kommando.«
»Aye, Chairman«, erwiderte Eric.
»Hali, rufen Sie MacD und bestellen Sie ihm, dass wir ihn am Moon Pool erwarten.«
»Aye, Chairman.«
Während Juan und Max das Operationszentrum verließen, sagte Juan: »Denk daran, dass wir es mit einer U-Boot-Abwehr-Korvette zu tun haben. Wenn sie in der Nähe der Kansas City ein U-Boot unbekannter Herkunft entdecken, könnten sie ein wenig verschnupft reagieren.«
»Kein Problem«, erwiderte Max. »Ich gehe bis unter die Thermokline, wo wir für ihr Sonar weitgehend unsichtbar sein dürften, und schalte die Motoren des Nomads auf Schleich-Modus. Niemand auf der Korvette wird uns hören.«