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Die Oregon
suchte sich einen Weg durch das Gewirr von Wasserarmen in dem gewaltigen Amazonas-Delta, bis sie so weit wie möglich landeinwärts vorgedrungen war, ohne auf Grund zu laufen. Sie ankerte im trüben Schlick, weit vom jedem der wichtigen Flusshäfen entfernt. Als das Tor der Bootsgarage aufglitt, drang Juan der Geruch von Blumen, Schmarotzerpflanzen und Schimmel in die Nase, die in ihrer Gesamtheit den Lebenszyklus des Urwalds bestimmten. Er machte sich keinerlei Sorgen, von neugierigen Beobachtern entdeckt zu werden. Selbst so nahe an der Küste waren nur selten Städte und Siedlungen anzutreffen, und die nächsten Farmen waren fünfzig Meilen entfernt.
Da das RHIB
die Rettung Overholts in Buenos Aires nicht überstanden hatte, mussten sie zwei Zodiacs benutzen, um den Rest des Weges flussaufwärts zu bewältigen. Außer Eddie, Linc, Raven, MacD und Murph hatte auch Michael Bradley darauf bestanden mitzukommen. Obgleich der Navy SEAL
noch immer eine Schiene um den Arm trug, hatte Doc Huxley das Glasfasermaterial dergestalt geformt, dass er mit der Hand Gegenstände ergreifen konnte, daher fühlte er sich fit genug, um an der Mission teilzunehmen.
Ursprünglich hatte Juan ablehnend auf seine Bitte reagiert, weil er den Lieutenant lieber nach Hause zu seiner Einheit zurückexpediert hätte, aber Bradley hatte sich geweigert, das Schiff zu verlassen, ehe er ihnen geholfen hatte, die Bremen
zu finden und die Bestätigung zu erhalten, dass seine Mannschaftskameraden nicht umsonst gestorben waren. Um sich dafür zu revanchieren, dass er mitgenommen wurde, hatte Bradley sich bereit erklärt, seine Karte zur Verfügung zu stellen, die sich als Foto von einer Zeichnung entpuppte, das Carlos Jiménez’ Cousins diesem geschickt hatten. Bradleys Telefon war zwar mit der KC
untergegangen, aber er hatte das Foto in die Cloud verschoben, ehe sie den Hafen verließen, daher konnte er das Bild jetzt aufrufen, indem er sich einfach ins Internet einloggte.
Als Murph und Eric die Karte auf dem Bildschirm hatten, stimmten sie sie mit einer detaillierten Satellitenkarte von dieser Region ab. Innerhalb von Minuten errechnete der Computer als vermutliche Position des U-Boots eine Gegend südlich des Amazonas im Magni-Nutzreservat, einem weitläufigen, geschützten Regenwald, der von zahlreichen Flüssen durchschnitten wurde und eine kleine Population Eingeborener beherbergte. Jiménez’ Cousins hatten in einer der kleinen Siedlungen innerhalb des Reservats am Flussufer gelebt.
Juan saß mit Linc, Bradley und Murph in einem Zodiac, während Eddie, MacD und Raven das andere besetzten. Sie alle waren mit MP
5-Maschinenpistolen bewaffnet, nur Bradley nicht – trotz seiner Bitte um eine Waffe. Aber das war einer der Punkte, in denen Juan keinen Deut nachgab.
»Wir haben vier Stunden Tageslicht übrig, um heute unsere Suche auf den Dschungel auszudehnen«, sagte Juan. »Je nachdem wie genau diese Karte und wie dicht der Dschungel ist, könnte es mehrere Tage dauern, bis wir die gesamte Gegend abgesucht haben.«
»Ich behalte die Übersicht über unsere Suchraster«, sagte Murph und hielt einen GPS
-Tracker hoch. »Damit vermeiden wir, uns zu verirren und ein Raster in Angriff zu nehmen, das wir bereits abgesucht haben.«
Juan blickte zu Bradley. »Ihnen sind die Bedingungen dieser Abmachung klar, oder?«
»Ich bin ein Navy SEAL
und kein Baby«, knurrte Bradley mürrisch.
»Aber wenn Sie uns begleiten, dann stehen Sie unter meinem Schutz und meinem Befehl. Abgemacht?«
Bradley nickte und schaute zu Linc. »Ich muss die ganze Zeit an seiner Seite bleiben.«
»Also, aus Ihrem Mund klingt das ja fast wie eine Tortur«, sagte Linc und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich so schlecht rieche.«
»Bei dieser Feuchtigkeit wird es nicht lange dauern«, sagte Murph und nebelte sich mit DEET
ein, um die Insektenschwärme abzuwehren, die den Regenwald bevölkerten. »Ich wünschte, ich hätte etwas, um Schlangen auf Distanz zu halten.«
Linc schlug mit der flachen Hand auf die Machete an seinem Gürtel. »Dafür gibt es dies her. Für den Fall, dass sie mir zu dicht auf die Pelle rücken.«
Murph lächelte Bradley an. »An Ihrer Stelle würde ich an seiner Seite bleiben.«
Sie kamen flussaufwärts etwa zwei Meilen weit bis zu dem Punkt, der dem Suchgebiet am nächsten war. Die restliche Strecke müssten sie zu Fuß zurücklegen.
Sie zogen die Zodiacs aus dem Fluss und drangen zu Fuß in den dichten Wald ein. Bäume ragten in die Höhe und verhinderten, dass das Tageslicht bis auf den Waldboden traf. An den wenigen Stellen, wo das Blätterdach eine Lücke aufwies, war das dichte Unterholz praktisch unpassierbar. Vögel, Frösche und Insekten zwitscherten ständig, und das Geräusch von fließendem Wasser und Ästen, die im Wind schaukelten, drang von allen Seiten auf sie ein. Welkes Laub, die Überreste der Trockenzeit, knisterte unter ihren Füßen.
Der Begriff »Trockenzeit« war in diesem Regenwald relativ. Sie mussten noch immer durch zahlreiche Tümpel und knietiefe Flüsse waten, während sie Murph und seinem GPS
durch den Urwald folgten. Das Gerät musste immer wieder neu gestartet werden, wenn sein Signal von dem dichten Laubdach verzerrt wurde. Nach fünfzehn Minuten war Juans Hose durchnässt, und eine dicke Lehmschicht bedeckte seine Stiefel.
Zwei monotone Stunden lang kämpften sie sich durch den Dschungel, ohne auf ein einziges Objekt zu stoßen, das von Menschenhand geschaffen worden war.
Dann drang ein Laut an Juans Ohren, der eindeutig von Menschen erzeugt wurde. Das pulsierende Flappen eines Hubschrauberrotors näherte sich. Juan hob eine Hand, und alle blieben stehen.
Der Hubschrauber passierte sie südlich in größerem Abstand, und der Lärm verlor sich in der Ferne.
»Offenbar ein Inspektionsflug«, sagte Eddie.
»Oder ein Personentransport«, meinte Raven.
»Hier draußen?«, fragte MacD.
»Sehen wir zu, dass wir weiterkommen«, sagte Juan, auch wenn ihn das Erscheinen des Helikopters ausgerechnet in dieser Gegend irritierte.
Sie setzten ihren Weg für fünfzehn Minuten fort. Juan, der dicht hinter Murph ging, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass sie noch eine Dreiviertelstunde Zeit hatten, ehe sie die Suche für diesen Tag aufgeben und zu den Zodiacs zurückkehren müssten.
In diesem Augenblick hörte er, wie Murphs Fuß einen metallischen Ton erzeugte, als er auf etwas trat, das wie ein halb verrotteter Baumast aussah.
Alle blieben stehen. Juan tippte mit der Schuhspitze gegen den Gegenstand. Ein hohler, schwingender Ton erklang. Murph bückte sich, wischte nassen Lehm beiseite, bis er graue Farbe und verrosteten Stahl erkannte.
Eine Buschgruppe versperrte die Sicht nach rechts, daher ging Juan gut zehn Meter weiter und drehte sich dann zu seinen Gefährten um, die alle wie gebannt auf ihre Entdeckung starrten. Erst in diesem Moment fiel ihm auch der Kommandoturm ins Auge, der wie der Stumpf eines Baumriesen aus dem Erdreich aufragte. Er hatte gerade das Heck eines U-Boots aus dem Ersten Weltkrieg überquert, das mitten im Regenwald des Amazonas lag.
Die in dieser Umgebung vollkommen surrealen äußeren Umrisse waren unverwechselbar, obwohl sie teilweise unter Schlingpflanzen und anderer Vegetation verschwanden. Der einzige Teil, der vollkommen freigelegt war, nachdem Schlamm und Bewuchs von früheren Besuchern weggewischt wurden, waren das Deutsche Eiserne Kreuz und der Name auf der Seitenfläche des Kommandoturms.
BREMEN
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