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Sie mussten fünf Minuten lang die Vorschlaghämmer einsetzen, die sie in ihrem Gepäck hatten, um den Rost zu entfernen und die Mechanik so weit zu lockern, dass sich das Verschlussrad der oberen Luke des Kommandoturms drehen ließ. Ein modriger Geruch stieg aus dem Bootsinnern auf, Luft, die neunzig Jahre lang eingesperrt war. Juan setzte seine Stirnlampe auf und kletterte die Leiter hinunter.
Als er auf dem Deck des Kontrollraums stand, erfasste der Lichtkegel seiner Stablampe eine mumifizierte Leiche, die in aufrechter Sitzhaltung am Periskop lehnte. Zwei weitere Leichen mit offenem Mund nahmen die Plätze an den Kontrollen ein.
Als weitere Mitglieder des Teams nach ihm in das Boot kamen, lieferten ihre Lampen genug Licht, um den winzigen Raum, der mit Rohren, Anzeigeinstrumenten, Hebeln und Schaltern vollgestopft war – alle in deutscher Sprache beschriftet –, ausreichend zu erhellen. Dutzende von Ventilreglern zur Steuerung der Ballast- und die Drucklufttanks saßen dicht an dicht auf den Armaturenbrettern. Fast alles war noch mit dem Schmutz früherer Tage bedeckt, aber während dieser vielen Jahre vor der feuchten Außenluft verschont gewesen zu sein, hatte die Korrosion auf ein Minimum beschränkt. Die Bremen
sah noch immer aus, als ob sie bereit sei, jeden Moment in See zu stechen.
»Verteilt euch und haltet Ausschau nach allem, was in irgendeiner Weise mit dem Sonar-Disruptor zu tun hat«, sagte Juan.
Raven und MacD gingen zum Bug, während sich Murph und Eddie im Heckabschnitt umsahen.
Bradley betrat das Schiff als Vorletzter, und er bewältigte die Leiter trotz seines gebrochenen Arms mühelos. Linc folgte ihm auf dem Fuße.
»Und ich habe die Kansas City
immer für besonders eng gehalten«, sagte Bradley und ließ den Raum, der mit Lincs mächtiger Gestalt, die eine Menge Platz einnahm, noch kleiner erschien, auf sich einwirken.
»Für seine Zeit war dies ein großes Unterseeboot«, sagte Juan, der sich während ihrer Fahrt auf dem Amazonas über die Bremen
informiert hatte. »Über zweitausend Tonnen mit einem erweiterten Operationsradius von zwanzigtausend Meilen.«
»Wie viele Mannschaftsmitglieder?«
»Acht Offiziere und sechzig Soldaten.«
Linc stieß einen Pfiff aus. »Hoffentlich waren sie alle freundlich zueinander.«
»Wenn sie es zu Beginn der Reise noch nicht waren«, sagte Juan, »dann gewiss am Ende.«
»Solange sie sich nicht vorher gegenseitig umgebracht haben«, scherzte Bradley, ehe er sich verlegen räusperte, als ihm bewusst wurde, dass seine Bemerkung daran erinnerte, was der KC
zugestoßen war. »Warum ist sie so groß?«
»Sie war als Blockadebrecher konstruiert«, antwortete Juan. »Die Briten wollten verhindern, dass kriegswichtiges Material in die deutschen Häfen gelangte, daher sollten die Bremen
und andere U-Boote wie sie sich unter der Blockade hindurchschleichen. Sie konnte bis zu siebenhundert Tonnen Fracht transportieren.«
»Die Frage ist nur: Wie und weshalb ist das U-Boot mitten im Amazonas-Dschungel gelandet?«, sagte Linc.
»Das Wie ist sicherlich einfacher zu beantworten«, sagte Juan. »Ich vermute, dass hier, wo wir momentan stehen, früher mal ein altes Flussbett existiert hat. Diese gesamte Region ist eine einzige riesige Überschwemmungsebene. Jedes Mal, wenn sie von einem starken Unwetter heimgesucht wird, ergibt sich die Möglichkeit, dass Flüsse sich, wenn sie Hochwasser führen, neue Wege graben. Das dürfte dazu geführt haben, dass die Bremen
hier gestrandet ist. Davon ausgehend, dass sie seit dem Ersten Weltkrieg hier liegt, ist das eine Menge Zeit, um vom Urwald überwuchert zu werden.«
»Und was ist mit dem Warum?«, fragte Bradley.
Juan zuckte die Achseln. »Wenn wir das Logbuch des Kapitäns finden, erfahren wir vielleicht mehr.«
Während sie begannen, den Kontrollraum zu durchsuchen, sagte Bradley: »Ich beherrsche kein Deutsch. Wie könnte dieses Logbuch aussehen?«
»Auf dem Deckel könnte das Wort Kriegstagebücher
zu lesen sein«, sagte Juan. »Oder Logbuch der Bremen
.«
»Im ersten Fall also ein langes Wort«, meinte Linc sarkastisch. »Habe schon verstanden.«
Sie blätterten die Seekarten und die Kodebücher durch, fanden jedoch nichts, das wie ein Logbuch aussah.
Dann fiel Juans Blick auf den Toten, der am Periskop lehnte, und er entdeckte die Ecke eines Buches, das halb unter seinem Körper lag. Er bückte sich und zog daran, bis es hervorrutschte.
Die Buchstaben KTB
waren auf dem Deckel zu lesen. Er klappte den Deckel vorsichtig auf. Obgleich die Seiten stark vergilbt waren, konnte man die akkurate deutsche Handschrift sehr gut lesen. Das Datum auf der ersten Seite lautete »Der 7.9.16.«
7. September 1916.
»Ich hab’s gefunden«, sagte Juan, während er in dem Buch blätterte.
Bradley und Linc kamen zu ihm herüber und blickten ihm über die Schulter.
»Was steht darin?«, fragte Bradley.
Juan schüttelte den Kopf. »Ich spreche auch kein Deutsch. Murph muss uns helfen, es zu übersetzen. Seltsam ist jedoch, wie das letzte Datum in dem Buch lautet – 18. Juni 1922.«
»Vier Jahre nach Ende des Krieges«, sagte Linc.
»Ich vermute, dass sie das Geschäft auf eigene Faust weiter betrieben haben«, sagte Juan.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Bradley.
»Weil ich einige Seiten beim Blättern überflogen habe. Dabei habe ich die Namen einiger amerikanischer Schiffe gesehen, darunter auch die Carroll A. Deering
.«
»Der Name kommt mir bekannt vor«, sagte Linc.
Juan nickte. »Weil sie von einem berühmten Geheimnis umgeben wird. Sie lief nach einem Sturm in der Nähe von Kap Hatteras auf Grund. Obwohl das Schiff vollkommen intakt war, ist die gesamte Mannschaft auf Nimmerwiedersehen verschwunden.«
»Wir wissen noch immer nicht, weshalb Tate so viel Aufwand betrieben hat, um Jiménez zu töten und die KC
zu versenken«, sagte Bradley. »Warum machte er sich Sorgen, dass wir das alte U-Boot finden könnten?«
Juan wollte seine Theorie über Tates Motive zum Besten geben, als er vom Bug einen lauten Ruf hörte.
»Chairman, ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich verschwinden!«, erklang Raven Malloys Stimme.
Juan reichte Linc das Logbuch und eilte nach vorn zum Torpedoraum. Dort standen Raven und MacD, sich mit den Rücken gegen die Stahlwand pressend, um von den beiden Torpedos, die in ihren Gestellen in der Mitte des Raums ruhten, so weit wie möglich entfernt zu sein.
Sie waren vollkommen intakt, aber eine der Kranketten, mit deren Hilfe die Torpedos in die Abschussrohre gehievt wurden, war heruntergefallen und hatte sich am Kontaktzünder an der Nase einer der beiden Waffen verhakt.
»War es schon so, als Sie beide in diesen Raum gekommen sind?«, fragte Juan.
»Ja«, sagte Raven absolut ruhig. »Genau so haben wir es vorgefunden.«
»Ich würde mich mit diesen Dingern nicht vom Fleck rühren«, stotterte MacD nervös.
»Okay«, sagte Juan. »Vermeiden Sie jeden Kontakt damit. Wir wissen nicht, ob die Gefechtsköpfe noch scharf sind, oder ob die Chemikalien, aus denen sie bestehen, sich verändert haben und eine verfrühte Zündung auslösen können.«
»Was ist mit dem Treibstoff?«, fragte Raven.
»Ich sehe nirgendwo ein Leck, aber bei Kerosin wäre auch eine erhöhte Druckempfindlichkeit denkbar, die bei der geringsten Bewegung eine Katastrophe auslösen könnte.«
»Von einem Funken ganz zu schweigen«, fügte MacD hinzu.
Juan nickte. »Eine statische Entladung sollten wir um jeden Preis vermeiden. Darum nichts wie raus hier, aber ganz langsam.«
Während sie sich schrittweise von den Torpedos zurückzogen, fragte Juan: »Haben Sie noch irgendetwas anderes gefunden, das von Interesse war?«
Raven schüttelte den Kopf. »Sieben weitere Leichen. Keine Papiere bis auf einige persönliche Briefe und ein paar Bücher.«
»Dann bleibt nur zu hoffen, dass Murph und Eddie mehr Glück hatten. Auf jeden Fall verschwinden wir in fünf Minuten von hier, ganz gleich, was geschieht.«
Als sie in den Kontrollraum zurückkehrten, registrierte Juan zum ersten Mal die Leichen, die Raven erwähnt hatte. Alle lagen in ihren Kojen, an denen er kurz vorher vorbeigeeilt war.
Juan schlängelte sich weiter bis zum Heck, vorbei an der winzigen Kapitänskabine, und traf Eddie und Murph dabei an, wie sie die Spinde der Mannschaftsangehörigen durchsuchten.
»War die Suche erfolgreich?«, erkundigte er sich.
»Eine Menge Kleidung und persönliche Gegenstände«, sagte Eddie, »aber nichts, was mit einem Sonar-Disruptor zu tun haben könnte.«
»Irgendwo muss es eine Bedienungsanleitung oder irgendwelche Schaltpläne oder wer weiß was sonst noch geben«, sagte Murph, verärgert darüber, dass sie noch immer mit leeren Händen dastanden.
»Ich denke, etwas derart Wertvolles haben sie bestimmt nicht an einer Stelle aufbewahrt, zu der jedes Mannschaftsmitglied Zugang hatte«, sagte Juan.
»Und es müsste ein Behältnis sein, das wasserdicht ist.«
»Ein Ort, auf den nur der Kapitän und vielleicht noch ein zweiter Mann im Schiff Zugriff hatten«, sagte Eddie.
Juan begab sich mit beiden zur Kapitänskabine, und sie fuhren mit den Fingern über jede Fuge und jede Kante.
Schließlich stieß Murph einen Freudenruf aus. »Eureka!«
Er zog ein Wandpaneel auf, hinter dem ein Geheimfach zum Vorschein kam. Darin lag ein ganzer Stapel Notizbücher.
Murph schlug das erste Buch auf dem Stapel auf. »Diese Sprache kenne ich nicht. Die habe ich noch nie gesehen.«
Er zeigte Juan, der Spanisch, Russisch und Arabisch sprach, den aufgeschlagenen Text, aber auch der Chairman konnte nichts damit anfangen.
Murph richtete sein Smartphone auf die Seite und machte ein Foto. »Ich versuche es mal mit einer Übersetzungs-App.«
Nach ein paar Sekunden meldete er: »Es ist Ungarisch. Der erste Satz lautet, grob übersetzt: ›Anleitung zur Herstellung von Schall erzeugenden Systemen zum Verändern von Denkprozessen und Verhaltensweisen von Istvan Horváth.‹«
»Hier sind auch deutsche Worte«, sagte Eddie und deutete auf eine handschriftliche Notiz am unteren Seitenrand.
Irrsinnswaffe.
Murph übersetzte wieder. »Verrückte Waffe.«
»Das ist es, was Tate geheim halten wollte«, sagte Juan. »Packen Sie alles ein, wir werden es auf der Oregon
entschlüsseln und übersetzen.«
Er kehrte in den Kontrollraum zurück und lächelte Bradley an. »Wir haben gefunden, weshalb wir hierhergekommen sind. Es war in der Kabine des Kapitäns versteckt.«
Bradley seufzte erleichtert. »Es tut mir unendlich leid, dass Jiménez nicht hier sein und dies alles sehen konnte. Sie werden Tate suchen und ihn zur Strecke bringen, nicht wahr?«
»Das ist der Plan. Aber ich glaube nicht, dass Sie daran beteiligt sein können.«
Bradley nickte. »Es wird Zeit für mich, nach Hause zu kommen.«
»Wir bringen Sie in der nächsten Stadt, die einen Flughafen hat, an Land und setzen Sie dort in ein Flugzeug.«
»Was soll ich der Navy erzählen?«
»Die Wahrheit. Aber man wird Ihnen wahrscheinlich nicht glauben.«
»Wenn ich sie hierherführe, werden sie es. Ich hätte niemals gedacht …«
Juan hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. Es war das Vibrieren in seinen Füßen, das er zuerst bemerkte. Dann war ein dumpfes rhythmisches Pochen gegen den stählernen Bootsrumpf zu hören. Wären sie auf Tauchstation gewesen, hätte er auf die Schrauben eines Zerstörers getippt, der sich näherte, um das U-Boot mit einer Wasserbombe anzugreifen.
Aber Juan fand, dass die Realität nicht weniger bedrohlich klang.
Linc schaute nach oben, als wollte er durch die Decke des U-Boots zum Himmel blicken, und stellte lakonisch fest: »Der Hubschrauber ist wieder da.«