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SÜDPAZIFIK
Ein Matrose öffnete die Luke im Deck der Wuzon
, und zum ersten Mal in zwei Wochen stieg Admiral Yu Jiang dieser frische salzige Geruch des Ozeans wieder in die Nase. Er kletterte die Leiter hinauf, bis er auf der Beobachtungsplattform stand, einen tiefen Atemzug machte und es genoss, von den Körperausdünstungen und Dieseldämpfen befreit zu sein, die trotz der Luftfilter jeden Winkel des Unterseeboots ausfüllten. Er setzte ein Fernglas an die Augen und suchte den Horizont ab. Das einzige Schiff, das er entdeckte, war ein unter panamesischer Flagge registrierter Treibstofftanker namens Diamond Wave
, der fünfhundert Meter vor ihm reglos im Wasser lag, während seine Maschinen im Leerlauf dumpf blubbernd vor sich hin orgelten.
Die See war ruhig, und es dauerte einige Sekunden, bis Yus Augen sich auf den hellen Schein der Spätnachmittagssonne eingestellt hatten. Er hätte es vorgezogen, bei Nacht aufzutauchen, aber dies hätte die bevorstehende Operation um einiges erschwert.
Yu fand, dass er trotzdem kein allzu großes Risiko einging, gesichtet zu werden. Er hatte diesen Ort ausgewählt, weil er so abgelegen war. Die Schifffahrtslinien befanden sich in weiter Entfernung, und U. S.-Satelliten interessierten sich nicht für diese Ozeanregion, tausend Meilen vom nächsten Festland entfernt.
Der Erste Offizier kam zu ihm an Deck, und Yu sagte: »Was gibt es an Schiffsverkehr in diesem Gebiet?«
»Laut dem AIS
ist das nächste Schiff, der Containerfrachter Lookout Bay
, einhundertzwanzig Meilen in nördlicher Richtung von uns entfernt. Er wird diese Position mit einem Abstand von nicht weniger als fünfzig Meilen passieren.«
»Gut«, erwiderte Yu, sichtlich zufrieden mit seiner Ortswahl. »Dann bringen Sie uns mal längsseits an den Tanker heran.«
Die Wuzong
schob sich mit dem letzten Rest Batteriestrom an den Flottentanker heran. Das U-Boot war ein dieselelektrisches Schiff vom Typ 039A der Yuan
-Klasse mit luftunabhängigem Antrieb, sodass es lange Perioden in getauchtem Zustand operieren konnte, ohne einen Schnorchel benutzen zu müssen, der den Maschinen die dringend benötigte Luft zuführte. Seine äußere Formgebung machte es wesentlich leiser als ein Atom-U-Boot. Seine Batterien waren so gut wie vollkommen lautlos, während die Kühlmittelpumpen eines Atomreaktors ständig in Betrieb sein mussten, um eine Kernschmelze zu vermeiden.
Die Reichweite war sein entscheidender Nachteil. Ein Atom-U-Boot konnte mehrmals die Erde umrunden, ehe der Reaktortreibstoff ersetzt werden musste, aber Dieselöl war irgendwann restlos verbraucht.
Die Wuzong
war zwei Tage lang mit dem letzten Tropfen gefahren, ehe die Tanks am Morgen des vorangegangenen Tages endgültig knochentrocken waren und die Batterien sich rasant leerten. Es war im höchsten Maß riskant, den Pazifik in einem U-Boot zu überqueren, das die chinesische Küste bewachen und beschützen sollte, aber Yu war bereit, das hohe Risiko zugunsten dieser Mission einzugehen.
Diese Operation fand außerhalb der Befehlskette der Marine der Volksbefreiungsarmee statt. Es war eine verdeckte Mission, und er hatte die Mannschaft, allesamt Freiwillige, eigenhändig ausgewählt. Sie alle wussten genau, worauf sie sich einließen, und dass – wenn sie aufflogen und verhaftet wurden – sie damit rechnen mussten, als Meuterer oder Verräter in ein Umerziehungslager geschickt zu werden. Yu beschützte seine Vorgesetzten und seinen eigenen geliebten Wehrpass, indem er die Voraussetzungen für sie schuf, ihre Beteiligung glaubhaft dementieren zu können.
Seine Macht reichte zwar nicht aus, um ein Atom-U-Boot bei dieser Operation einzusetzen, aber er hatte genügend Einfluss, um das Kommando über ein dieselelektrisches U-Boot zu übernehmen. Er hatte jahrzehntelang U-Boote geführt, ehe er nach Peking in die Hauptverwaltung versetzt wurde. Doch er hatte diese Mission vorbereitet, nachdem Zachariah Tate mit ihm Kontakt aufgenommen und ihm den Beweis geliefert hatte, um endlich den Tod seines Bruders rächen zu können.
Jahre zuvor war Yu Tien der Kommandant des Zerstörers Chengdo
gewesen, der unter mysteriösen Umständen versenkt wurde. Jiang und Tien hatten einander nahegestanden, waren gemeinsam in die Marine eingetreten und hatten einen Wettstreit begonnen, wer von ihnen den schnellsten Aufstieg schaffte, Tien in der Überwasser-Kriegsführung, Jiang in der U-Boot-Flotte.
Tien war ein brillanter Kommandeur gewesen, daher hatte es Jiang zutiefst geschockt und geradezu am Boden zerstört, als er erfuhr, dass die Chengdo
untergegangen war. Aus Berichten ging hervor, dass sie zuletzt ein Handelsschiff angehalten und ein Enterkommando ausgesandt hatte, um es näher in Augenschein zu nehmen, und dann war sie einfach verschwunden. Sechs Monate verstrichen, ehe man Überreste des Schiffes mit eindeutigen Spuren fand, die auf Raketen- und Torpedotreffer sowie Geschützfeuer hindeuteten.
Gerüchte kamen auf, das Frachtschiff habe die Schäden verursacht, was Yu allerdings vollkommen absurd vorkam. Doch er war diesen Gerüchten trotzdem nachgegangen und hatte nichts in Erfahrung gebracht. Der Trampdampfer war offenbar ins Reich der Sagen und Mythen abgedriftet.
Dann erschien Tate und zeigte ihm eine Dokumentation, laut derer ein Spionageschiff, die Oregon
, dafür verantwortlich sei. Es stehe unter dem Kommando eines ehemaligen CIA
-Agenten namens Juan Cabrillo, der Tates ehemaliger Partner sei.
Yu holte sich die Bestätigung, dass ein Schiff, auf das die Beschreibung passte, Hongkong verlassen hatte, kurz bevor die Chengdo
im Südchinesischen Meer versenkt wurde. Er schenkte Tates Behauptungen Glauben, und sein anschließendes Angebot war einfach zu verlockend, als dass Yu es sich hätte entgehen lassen können. Er könnte sich endlich für den Tod seines Bruders revanchieren und gleichzeitig eine neuartige Schallwaffe für die chinesische Armee erwerben.
Alles, was er dafür tun müsste, wäre, Tate dabei zu helfen, die Oregon
zu versenken.
Die Wuzong
hielt neben dem Tanker an, der wie ein Wolkenkratzer neben dem niedrigen U-Boot aufragte. Seine Crew schwenkte einen Tankschlauch an einem Kran über die Reling, und die U-Boot-Matrosen schlossen ihn schnell an den Einfüllstutzen an, um das Dieselöl in die leeren Tanks zu pumpen.
»Admiral«, sagte der Erste Offizier mit einem Lächeln, während er das Sprechfunkgerät ausschaltete und sinken ließ, »der Kapitän des Tankers meinte, sie hätten eine Ladung frisches Obst und frischer Fische, die sie uns überlassen könnten.«
»Hervorragend«, sagte Yu. »Richten Sie dem Kapitän meinen Dank aus.« Er dachte, nach zwei Wochen Reis und Gemüse aus der Konservendose würde eine solche Abwechslung des Speiseplans die Moral der Mannschaft sicherlich deutlich heben.
Ein kleiner Kran ließ die Kisten auf das Deck der Wuzong
herab, wo sie eilig ausgepackt und ihr Inhalt durch die Luke zu seiner hungrigen und erfreuten Mannschaft hinuntergereicht wurde.
Alles schien glatt und ohne Zwischenfall über die Bühne zu gehen, bis der XO
ihm aufgeregt winkte.
»Admiral, der Tanker hat ein Segelboot in etwa zwei Meilen Entfernung ausgemacht. Offenbar ist es zu klein, sodass ihr Radar es erst vor zwei Minuten aufgespürt hat.«
In Gedanken stieß Yu einen Fluch aus. Wenn das Segelboot meldete, ein chinesisches U-Boot so weit im Südpazifik gesehen zu haben, würde unweigerlich die U. S. Navy davon Wind bekommen und ihren Verbündeten in Südamerika eine entsprechende Warnung zukommen lassen.
»In welcher Richtung ist es unterwegs?«, fragte Yu.
»Nach Norden. Es passierte Kap Hoorn im Zuge einer Weltumseglung und macht sich jetzt zu den Osterinseln auf. Bei seiner gegenwärtigen Geschwindigkeit sehen wir es in weniger als zehn Minuten.«
Der massige Tanker verbarg es zurzeit vor der direkten Sicht, aber der Kurs des Seglers würde seiner Mannschaft einen Blick auf die Wuzong
erlauben, sobald er auf Höhe des Tankerhecks gelangte.
Yu musste eine Entscheidung treffen. Wenn er das Segelboot versenken müsste, würde es vermisst werden, aber es wäre noch keine Garantie dafür, dass der Kapitän keinen Bericht über das chinesische U-Boot weitergeleitet hatte.
Er sollte lieber kein Risiko eingehen, erst recht nicht, wenn er achttausend Meilen für seine ersehnte Rache zurückgelegt hatte.
»Wie viel Sprit haben wir geladen?«
»Wir sind zu drei Vierteln voll«, antwortete der XO
.
»Das ist genug«, sagte Yu. »Teilen Sie dem Tankerkapitän mit, er solle warten, um uns später für die Rückfahrt vollständig aufzutanken. Wenn wir in einer Woche nicht hier sind, kommen wir auch nicht.«
Der Erste Offizier musterte ihn mit ernstem Blick, dann nickte er. »Verstanden, Admiral.«
»Trennen Sie uns von dem Tankerschlauch. Und treffen Sie Vorbereitungen für das Tauchmanöver.«
Die Matrosen beeilten sich, ihre jeweiligen Arbeiten abzuschließen und ins U-Boot zurückzukehren. Als Yu sah, dass er der Letzte auf dem Deck war, kletterte er in den Kontrollraum hinunter.
»Expresstauchgang marsch!«, befahl er.
Die Hupe ertönte, und die Ballasttanks füllten sich mit Wasser. Er verfolgte durch das Periskop, wie die Wuzong
langsam unter der Wasseroberfläche versank. Der Bug des Segelboots kam in Sicht, kurz bevor die Periskop-Optik von den Wellen verschluckt wurde. Sie hatten es geschafft, ohne gesehen zu werden.
Der nächste Stopp wäre das Rendezvous mit Tate und die lang ersehnte Vernichtung der Oregon
.
»Nehmen Sie Kurs auf Tierra del Fuego«, sagte Yu. »Mit Höchstgeschwindigkeit.«