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PUNTAS ARENAS, CHILE
Obgleich Sommer war, hatte Rashonda Jefferson eine Skimütze über ihre ebenholzschwarzen Locken gezogen und war in einen Wollcaban geschlüpft, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der über die Magellan-Straße wehte, jenem schmalen Kanal zwischen dem südamerikanischen Festland und der Insel Tierra del Fuego, der die Hauptschiffsverbindung zwischen Atlantik und Pazifik darstellte. In Atlanta geboren, hatte Jefferson den größten Teil ihres Erwachsenenlebens auf See verbracht, zuerst bei der Navy und nun bei der NUMA . Sie bevorzugte Missionen in tropischen Gewässern, also nicht an diesem eisigen Ende der Welt. Aber dies ließ sie sich keineswegs vor ihrer Mannschaft anmerken. Als Chefin ihres Schiffes, der Deepwater , musste sie jederzeit bereit sein, sämtliche Unbilden ebenso zu ertragen wie ihre Leute, ohne sich darüber zu beschweren.
Dennoch konnte sie es kaum erwarten zurückzukehren, nachdem sie den ganzen Tag damit zugebracht hatte, das Verladen der Vorräte für die bevorstehende Mission zu überwachen. Mit dreihundertzwanzig Fuß Länge war das meerwasserblaue NUMA -Schiff einerseits klein genug, um dicht an der Küste zu manövrieren, andererseits aber auch groß genug, um seiner dreiundfünfzig Personen großen Mannschaft Annehmlichkeiten bieten zu können, die ihr ein komfortables Leben an Bord ermöglichten. Jefferson lehnte an der Deckreling und trommelte ungeduldig mit den Fingern, während sie den Blick über den geschäftigen Hafen wandern ließ, der die Stadt mit ihren einhunderttausend Einwohnern mit allem Lebensnotwendigem versorgte, und fragte sich, wo ihre Lotsin blieb.
Die wissenschaftliche Ausrüstung, die sie für ihre Mission brauchten, war einen Tag früher als angekündigt eingetroffen, daher eilten sie ihrem Zeitplan voraus. Aber weil die Gewässer in dieser Region so unberechenbar und die Platzverhältnisse so beengt waren, verlangte die chilenische Regierung, dass alle Schiffe die Magellan-Straße ausnahmslos unter Anleitung einheimischer Lotsen, denen die Region vertraut war, durchfahren durften.
Um diese Jahreszeit war die Nachfrage nach Lotsen besonders stark, daher glaubte sie sich glücklich schätzen zu können, dass sie überhaupt einen hatte ergattern können. Sie zählte ein Kreuzfahrtschiff, zwei Eisbrecher und vier Antarktis-Tender unter den Schiffen im Hafen. Und dazu gehörten auch noch die Schiffe, die bereits in der Straße unterwegs waren. Natürlich konnten Frachter und Kreuzfahrtschiffe leicht ohne Lotsen den Weg ums Kap Hoorn nehmen, aber die dortigen Meeresverhältnisse waren ohne den Schutz der Inseln stellenweise derart gefährlich, dass die meisten Schiffsführer den ruhigeren Weg durch die Straße wählten.
Ein Land Rover kurvte über den Kai und hielt mit quietschenden Bremsen neben dem Schiff an. Eine junge Frau sprang heraus und angelte eine Reisetasche vom Rücksitz. Sie kam die Gangway herauf, wobei der lange dunkle Pferdeschwanz, zu dem sie ihr Haar zusammengerafft hatte, bei jedem Schritt heftig hin und her pendelte. Selbst aus dieser Entfernung konnte Jefferson erkennen, dass die Besucherin körperlich fit und ausgesprochen hübsch war, was der vorwiegend männlichen Crew sicherlich nicht lange verborgen blieb.
Jefferson erwartete sie am oberen Ende der Gangway und streckte ihr die rechte Hand entgegen. »Rashonda Jefferson, herzlich willkommen auf der Deepwater
Die Frau schüttelte ihr mit festem Griff die Hand. »Amelia Vargas. Freut mich, Sie kennenzulernen, Captain. Entschuldigen Sie, dass ich mich verspätet habe.« Ihr spanischer Akzent war nicht zu überhören, aber ihr Englisch klang flüssig.
»Ich bin nur froh, dass Sie es geschafft haben«, erwiderte Jefferson. »Ich hoffe, dass wir den Hafen noch heute verlassen können. Am besten gehen wir zuerst auf die Kommandobrücke, damit ich Ihnen die Route erklären kann, die ich nehmen möchte. Und dann zeigt mein Erster Offizier Ihnen Ihre Unterkunft.«
»Mit dem größten Vergnügen.« Sie gingen zum Deckaufbau in der Nähe des Schiffsbugs, gleich hinter dem Helikopterlandeteller, der über den Bug hinausragte. Durch diese Anordnung war im Achterbereich des Schiffes genügend Platz für Kräne, Sensorapparaturen und den Tender, der für kurze Landgänge in den abgelegenen Regionen benutzt wurde, die sie besuchen würden.
»Sie haben ein schönes Schiff«, sagte Vargas, während sie sich umschaute.
Aus der Nähe betrachtet sah die Lotsin deutlich jünger aus, als sei sie soeben erst dem Teenageralter entwachsen.
»Vielen Dank«, erwiderte Jefferson. »Ich habe nicht viel über Sie erfahren, als Sie uns zugeteilt wurden. Wie lange sind Sie schon als Lotsin tätig?«
Vargas lächelte nachsichtig. »Ich weiß, dass ich besonders jung erscheine. Aber ich arbeite seit vier Jahren als Lotsin, und vorher war ich drei Jahre bei der Küstenwache.«
»Dann müssten Sie sich in dieser Gegend gut auskennen.«
»Sehr gut sogar. Ich bin in Puntas Arenas geboren und aufgewachsen. Mein Vater hat ein Fischerboot besessen und mich, als ich noch klein war, im Sommer immer auf seine Fahrten mitgenommen. Ich glaube, ich kenne jeden Meeresarm von hier bis Valparaiso. Sie sind also in guten Händen.«
»Das hoffe ich«, sagte Jefferson, beeindruckt von dem Selbstvertrauen der jungen Frau. »Wir werden uns in ziemlich trügerischen Gewässern bewegen.«
»Ich liebe Herausforderungen«, sagte Vargas.
Sie betraten die Kommandobrücke, und Jefferson machte Vargas mit der Mannschaft bekannt. Sie rief die Landkarte des riesigen Archipels auf, der sich über Hunderte Meilen von Norden nach Westen vor der Küste Chiles erstreckte.
»Wissen Sie irgendetwas über diese Forschungsmission?«, fragte Rashonda Jefferson.
»Sie verfolgen die Wege, denen die Wale auf ihren Wanderungen im Alacalufes National Reserve folgen, glaube ich.«
»Richtig. Vor allem interessieren wir uns für die Buckel- und die Blauwale. Wir setzen in zahlreichen Kanälen zwischen den Inseln passive Sonarbojen aus, um ihre Bewegungen nachzuverfolgen. Außerdem stellen wir an sieben Pinguinkolonien Webcams auf.« Ihre Positionen waren rot markiert. »Jede Kamera hat eine direkte Satellitenverbindung und wird mit Solarenergie betrieben. Die jeweilige Kamera liefert Videobilder in Realzeit, und wir zeichnen sie auf, um die Pinguinpopulationen in dieser Region zu zählen. An jeder Position müssen wir vor Anker gehen und unser Boot an Land schicken.«
»Ich hoffe, Sie haben eine ausreichend lange Ankerkette«, sagte Vargas. »Die Wassertiefe kann an einigen Stellen bis zu dreihundert Meter betragen.« Sie beugte sich vor und fuhr mit dem Finger von Punkt zu Punkt, dann schüttelte sie den Kopf.
»Was ist los?«, fragte Jefferson. »Können Sie uns nicht durch diese Kanäle lotsen?«
»Das kann ich schon. Es ist nur so, dass wir während der nächsten Woche mit einer unsicheren Wetterlage rechnen müssen.«
»Mit Stürmen?«
»Nein, aber alles deutet auf eine niedrige Wolkendecke und dichten Nebel hin. Es liegt an der gebirgigen … Wie heißt denn das Wort?« Vargas hielt inne und suchte in ihrem Gedächtnis. »Ah, ja, Topografie. Die gebirgige Topografie erlaubt kaum eine sichere Prognose, wann der Nebel aufzieht. Es kann sehr kurzfristig geschehen, und dann müssen wir uns langsam vorwärts tasten und uns vor Hindernissen in Acht nehmen. In dieser Region gibt es zahlreiche Eisberge, und die kalben ständig. Diese Eisschollen könnten zu einem Problem werden.«
»Je eher wir aufbrechen, desto besser für uns«, sagte Jefferson. »Wenn Sie sich häuslich eingerichtet haben, erwarte ich Sie hier in einer Viertelstunde, damit wir aufbrechen können.« Ihrem XO gab sie den Befahl, das Auslaufen des Schiffes vorzubereiten.
Während sich Vargas ihre Reisetasche auf die Schulter schwang und mit dem Mann, der sie zu ihrem Quartier bringen sollte, zur Tür der Kommandobrücke ging, wandte sie sich noch einmal zu Jefferson um und sagte: »Einen Vorteil hat die Route, die Sie einschlagen wollen, der mir die Arbeit sehr erleichtert.«
»Und welcher ist das?«, fragte Jefferson.
»Wir bewegen uns dort in einer derart abgelegenen und einsamen Region«, antwortete Vargas, »dass ich bezweifle, dass wir in dieser Gegend auf ein anderes Schiff treffen werden.«