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Tate wusste, dass er die Oregon schwer beschädigt hatte und ihr jetzt nur noch den Rest geben musste. Aber angesichts der Eisberge, die Cabrillo ihm in den Weg geworfen hatte, musste er auf einer anderen Route um die Insel herumfahren, um ihn zu fangen. In Verbindung mit dem dichten Nebel bedeutete die längere Strecke, dass, wenn er am anderen Ende des Kanals eintraf, die Oregon und die Deepwater längst verschwunden wären.
Er saß mit Catherine Ballard im Operationszentrum, brütete über einer Landkarte und versuchte, ihre nächsten Schritte zu planen.
»Vielleicht sollten wir warten, bis die Oregon oder die Deepwater aus dem National Reserve zurückkommen«, schlug Ballard vor. »Wenn sie tatsächlich dermaßen beschädigt sind, wie du annimmst, können wir sie doch auf dem offenen Meer leicht vernichten.«
»Ich nehme das nicht an, ich weiß es. Du hast doch selbst gesehen, dass die Oregon Schlagseite nach rechts hatte, bevor sie im Nebel verschwunden ist. Wenigstens hat einer der Torpedos getroffen.«
»Dann lass uns warten …«
Tate schlug mit der flachen Hand gegen den Bildschirm. »Nein! Wir wissen nicht, wie lange Juan für die Reparaturen braucht oder ob er jemanden zu Hilfe gerufen hat. Wir müssen ihn jetzt finden.«
Ballard schüttelte mit einem vielsagenden Blick auf die Karte den Kopf. Das komplizierte Netz aus Kanälen, Fjorden und Buchten hielt zu viele Plätze bereit, an denen die Oregon sich verstecken konnte.
»Aber die Abtao ist verschwunden. Selbst wenn die Wuzong im Anmarsch sein sollte, verringert sich unser Vorteil um ein Drittel. Wir können uns zurückziehen und unser Glück ein anderes Mal versuchen.«
Tate fuhr wütend zu ihr herum. »Bist du verrückt geworden oder bloß dumm? Wir haben die Oregon mit Torpedos und Raketen dreimal erwischt. Und auf unserer Seite haben wir ein chinesisches dieselelektrisches Unterseeboot. Eine Chance wie diese werden wir nie wieder bekommen. Bisher hast du niemals einen Mangel an Nerven gezeigt. Fang nicht ausgerechnet jetzt damit an.«
Ballard sah sich im Operationszentrum um und registrierte, dass Farouk und Li sie mit verlegenen Blicken von der Seite musterten, dann wandte sie sich wieder zu Tate um und funkelte ihn zornig an. Tate war es offenbar egal. Sie musste Rückgrat zeigen.
Schließlich hob Ballard die Hände und gab sich geschlagen.
»Schön. Und wie sieht dein Plan aus?«
»Gut. Nett, dass du zum Team zurückgekehrt bist.« Tate beruhigte sich und konzentrierte sich wieder auf die Landkarte.
»Also, obwohl wir auf einen Irrgarten von Kanälen blicken, gibt es, soweit ich erkennen kann, nur zwei Wege, die hinausführen. Einer ist hier im Norden, der andere befindet sich im Süden. Wir dirigieren die Wuzong zum nördlichen Eingang, während wir von Süden kommen. Wenn wir unsere Suche methodisch durchführen, werden wir irgendwann auf die Oregon und die Deepwater stoßen. Wenn eines von beiden Schiffen gefunden wurde, ist das Spiel vorbei.«
Ballard nickte. Tate erkannte, dass ihr der Plan gefiel.
»Entweder versenken wir die Oregon und können dann frei über die Deepwater verfügen und schaffen die Zeugen beiseite«, sagte sie, »oder wir nehmen die Mannschaft der Deepwater gefangen, wie wir es ursprünglich vorhatten, und zwingen die Oregon , zu ihrer Rettung zu erscheinen.«
»Richtig. Und da die Oregon beschädigt ist, haben wir bei jeder Auseinandersetzung die Oberhand. Wenn Juan den Kampf wünscht, dann können wir ihm standhalten. Tatsächlich würde ich es willkommen heißen …«
Farouk unterbrach ihn.
»Commander, uns erreicht soeben ein weiterer Anruf von Juan Cabrillo.«
Tate lächelte Ballard an. »Vielleicht will er kapitulieren.«
»Soweit ich ihn einschätzen kann«, sagte Ballard, »habe ich da meine größten Zweifel.«
»Komm schon«, sagte Tate, während er sich in den Kommandosessel sinken ließ. »Lass mich auch mal ein bisschen träumen.«
Er sah Farouk an. »Schalte Juan auf den Bildschirm, und Deepfake wie üblich.«
Nach einem kurzen Augenblick erschien Cabrillo, und er wirkte weitaus beherrschter als bei ihrer letzten Unterhaltung.
»Hallo, Juan. Sie sehen ja richtig gut aus. Nach Ihrem Wutanfall während unseres vorherigen Gesprächs hätte ich zumindest mit ein paar geplatzten Äderchen in Ihrem Gesicht gerechnet. Aber Sie wirken doch ein wenig gestresst.«
»Während der letzten Stunden ist mir eine Menge durch den Kopf gegangen, Tate.«
»Das kann ich mir vorstellen. Aber wie ich sehe, konnten Sie sich über Wasser halten. Ich hätte es auch nicht so schön gefunden, wenn Sie schon untergegangen wären und mich um das große Vergnügen gebracht hätten, Ihnen dabei zuzusehen.«
»Sie werden uns nicht finden«, sagte Cabrillo. »Schauen Sie sich die Karte der Gegend an.«
»Das habe ich getan. Ja, es ist ein verwirrendes Durcheinander von Inseln und Wasserstraßen, aber ich denke, dass wir uns trotzdem früher oder später über den Weg laufen werden.«
»Vielleicht sollten Sie lieber von hier verschwinden, solange Sie noch die Gelegenheit dazu haben.«
Tate lachte. »Ich habe gesehen, was mit der Oregon passiert ist, Juan. Auch wenn in Ihrem Operationszentrum alles gut ausgesehen hat, vermute ich, dass Ihre Reparaturtrupps rund um die Uhr arbeiten, um das Schiff wieder auf Vordermann zu bringen.«
»Ein paar kleine Beulen«, sagte Cabrillo. »Aber nichts, das sich nicht auf die Schnelle ausbessern ließe.«
»Sie sind ein grandioser Lügner. Kein Wunder, dass Sie in der CIA eine dermaßen strahlende Karriere gemacht haben.«
»Die CIA ist auch der Grund, weshalb ich anrufe. Sie wissen es.«
»Was wissen sie?«
»Sie wissen, dass Sie am Leben sind. Sie wissen, dass Catherine Ballard Langston Overholt entführt und sich mit Ihnen verbündet hat, um mir und meiner Mannschaft Verbrechen anzuhängen, die wir nicht begangen haben. Sie wissen außerdem, dass Sie eine genaue Kopie der Oregon bauen ließen.«
Tate grinste Juan an und drohte ihm wieder mit dem Finger, offenbar war dies seine Lieblingsgeste. »Lügen haben kurze Beine. Das haben Sie vielleicht behauptet, aber es klingt vollkommen absurd. Weshalb sollte man Ihnen auch nur ein Wort glauben?«
»Weil ich Sie aufgenommen habe«, erwiderte Cabrillo ruhig.
»Sie haben eine Aufnahme von sich selbst, meinen Sie.«
Cabrillo drehte sich zu jemandem um und sagte: »Spielen Sie sie ab.«
Plötzlich sah Tate sich selbst während ihrer letzten Unterhaltung, und er hatte das Gefühl, als befände sich dort, wo sein Magen war, plötzlich ein großes Loch. Er sah sein eigenes Gesicht. Im Hintergrund war Ballard zu erkennen mit jenem grünlichen Gesicht zu dem Zeitpunkt, als sie von den Wellen hin und her geworfen wurden. Cabrillo konnte all das auf keinen Fall künstlich geschaffen haben, ohne sie auch in diesem Moment in natura gesehen zu haben.
Tate erhob sich langsam aus seinem Sessel. Er ging zu Farouk hinüber und schlug mit der flachen Hand auf ihn ein.
»Du hast das zugelassen!«, brüllte er, ehe er sich wieder zum Bildschirm umdrehte.
»Wem platzt denn da gleich eine Blutader?«, fragte Cabrillo, während ein Lächeln um seine Lippen spielte. Er genoss diesen Augenblick in vollen Zügen.
»Das macht nichts«, sagte Tate und winkte ab.
»Das tut es doch, denke ich. Vizepräsident Sandecker und CIA Direktorin Kubo konnten das Gespräch in Echtzeit verfolgen. Sie haben alles gesehen.«
»Meinen Sie, die glauben Ihnen? Vielleicht behaupte ich, dass wir zusammenarbeiten.«
»Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird«, sagte Cabrillo. Er blickte zur Seite und nickte.
Zutiefst geschockt musste Tate erleben, wie ein sehr lebendiger Langston Overholt den Raum betrat.
»Hallo, Mr. Tate. Ich freue mich, noch immer auf beiden Füßen zu stehen. Aber ich bedaure, Sie wiederzusehen.«
Tate grinste sie höhnisch an. »Sie beide halten sich für so clever.«
»Nicht für so clever«, sagte Cabrillo, »aber für cleverer als Sie. Wenn Sie nämlich wirklich clever wären, würden Sie Chile noch in diesem Moment verlassen und irgendein Loch suchen, in dem Sie sich verkriechen können. Denn die amerikanische Regierung wird nach Ihnen suchen.«
Tate spürte, wie ihm die Kontrolle allmählich zu entgleiten drohte. Er setzte sich in seinen Kommandosessel und umklammerte die Armlehnen mit einem Schraubstockgriff.
»Sie sind hier der Dumme, Juan, wenn Sie glauben, ich würde mich jetzt verabschieden. Nicht wenn ich Sie so in den Seilen vor mir habe. Ich werde Sie finden, und es gibt keinen Ort, an dem Sie sich verstecken können.«
Er machte eine Bewegung, als würde er sich die Kehle durchschneiden, und das Bild verblasste.
Jeder der im Operationszentrum Anwesenden starrte ihn an, aber niemand wagte es, auch nur ein Wort zu sagen.
»Ruf die Wuzong «, bellte Tate Catherine Ballard an. »Sag Admiral Yu, dass wir in den Krieg ziehen.«