64
Der Helikopter der Portland
umkreiste die Deepwater
zum zweiten Mal, aber Ballard, die neben dem Piloten saß, konnte an Deck niemanden sehen.
»Offenbar haben sie sich vor Angst im Schiff verkrochen«, erklärte sie Tate über Funk.
»Ich wünschte, ich könnte jetzt bei dir sein«, antwortete er.
»Und ich wünschte, ich könnte mit dir den Platz tauschen. Wie lange dauert es denn noch, bis du die Oregon
erreichst?«
»Eine Stunde. Ich muss den langen Weg über die Insel nehmen, um zum Fjord zu kommen. Aber Juan konnte nicht an mir vorbei, selbst wenn er jetzt erst aufbricht. Ich habe ihn sicher.«
»Wie willst du es machen?«
»Kanonen, Torpedos, Raketen – das volle Programm. Ich möchte erleben, dass die Oregon
in einen Schrotthaufen verwandelt wird, ehe sie untergeht.« Sie hörte, wie er mit jemand anderem einige Worte wechselte, dann kam er ans Mikrofon zurück. »Farouk würde sie gern von hier aus mit einigen Exocet-Raketen versenken, aber dabei ergibt sich das gleiche Problem wie bei der Deepwater
. Wir können sie mit der Visierelektronik nicht auffassen, bevor wir im Fjord sind.«
»Du hast gesagt, du hättest den Kontakt zu der Wuzong
verloren?«, fragte Ballard.
»Ihnen wurde das Wort abgeschnitten, kurz nachdem sie berichteten, sie hätten ein Schiff gesichtet, das entweder wir oder sie sein könnte. Ich habe danach einen Schrei gehört, und dann brach die Verbindung ab. Ich vermute, dass Admiral Yu unseren Freund Juan erst unterschätzt und dann dafür bezahlt hat.«
»Mach bloß nicht den gleichen Fehler.«
»Das werde ich nicht. Ich gehe mit dem Bug gerade so weit hinein, dass ich Juan mit Radar und Sonar aufspüre. Danach ist die Oregon
Geschichte.« Tate klang geradezu ausgelassen vor Freude.
»Zeichne es für mich auf. Ich möchte es mir später ansehen.«
»Natürlich. Wir werden es auf dem großen Bildschirm abspielen.«
»Und ich bringe eine Tüte Popcorn mit«, sagte Ballard. »Gleich landen wir. Ich melde mich, sobald wir die Geiseln unter Kontrolle haben.«
»Beeil dich, wenn du zurückkommst.« Tate meldete sich ab.
Ballard machte den Piloten auf den Landeteller am Bug der Deepwater
aufmerksam. »Landen Sie dort. Sobald wir draußen sind, heben Sie wieder ab und geben uns Feuerschutz.«
Der Pilot nickte und ging in den Sinkflug zu dem still im Wasser liegenden Schiff. Er setzte auf, und Ballard, Li und zwei andere Männer ihres Angriffsteams, alle mit Heckler&Koch-G26-Maschinenpistolen bewaffnet und durch Kevlarwesten geschützt, sprangen aus dem Helikopter. Sie gingen auf die Knie herunter, während der Rotor die Drehzahl erhöhte.
Die Kommandobrücke direkt hinter ihnen war leer. Nirgendwo war eine Bewegung zu sehen. Offenbar mussten sie wohl oder übel das gesamte Schiff Raum für Raum durchsuchen.
Sie wartete, bis der Chopper startete, das Gewehr schussbereit im Anschlag.
* * *
Raven und MacD hatten auf beiden Seiten der Kommandobrücke Position bezogen und lagen unterhalb der Fenster auf der Lauer, bis sie hörten, wie der Hubschrauber vom Landeteller abhob. Raven nickte MacD zu, und sie drückte die Tür zur Brückennock auf der Backbordseite auf, während MacD das Gleiche auf der Steuerbordseite tat.
Dann nahm sie den aufsteigenden Hubschrauber ins Visier. Ravens Ziel war der Motor, während MacD auf den Piloten schoss. Sie leerte ihr Magazin im Dauerfeuer und musste etwas Lebenswichtiges erwischt haben, weil die Turbine bereits begann, schwarzen Rauch hervorzuhusten. Entweder hatte MacD sein Ziel getroffen oder der Pilot war nicht so gut wie Gomez, weil der Helikopter sich zu drehen begann, außer Kontrolle geriet und auf den felsigen Steilhang nicht weit von der Deepwater
zusteuerte. Er krachte seitwärts auf die Insel, und ein Raketenwerfer explodierte und zerfetzte den Hubschrauber. Seine Trümmer regneten ins Wasser hinunter.
Raven warf sich aufs Deck, als Kugeln über ihr gegen die Stahlwand prasselten. Sie verzichtete darauf, die vier Gestalten in Kampfanzügen auf dem Landeteller anzugreifen, die aus vollen Rohren auf die Kommandobrücke feuerten. Für sie war Linda Ross zuständig.
* * *
Zu ihrer Überraschung stellte Linda fest, dass die einzigen Personen an Bord der Deepwater
, die jemals ein Sturmgewehr abgefeuert hatten, Kapitän Jefferson, eine Ex-Navy-Angehörige, und Amelia Vargas waren, die bei der chilenischen Küstenwache gedient hatte. Sie gab beiden eine Waffe und skizzierte einen Plan, um mit Ravens und MacDs Hilfe unerwünschte Schiffsgäste abzuwehren.
Sie beobachteten ihre Umgebung, bis sie sahen, wie sich der MD
520N mit Raketen und Maschinengewehren näherte. Dies machte eine kurze Änderung des Plans notwendig, der nun vorsah, dass Raven und MacD den Helikopter ausschalteten, nachdem er wieder gestartet war.
Unterdessen machten sich Linda, Jefferson und Vargas bereit, ihr Versteck bei den Notfalltreppen am Bug zu verlassen, da sich alle auf Raven und MacD konzentrierten, die sich in sicherer Deckung der Brückennock-Reling befanden.
Linda hatte nicht die Absicht, fair zu kämpfen, wenn nicht daran zu zweifeln war, dass Tate sie um jeden Preis alle töten wollte.
Als sie das Gewehrfeuer hörte, gab Linda ein vereinbartes Zeichen mit der Hand, und die Frauen stiegen die Treppe hinauf, bis sie die vier Leute in Kampfkleidung auf dem Landeteller sehen konnten. Catherine Ballard war die Anführerin, daher streckte Linda sie als Erste nieder, und zwar mit einer einzigen Kugel. Jefferson und Vargas erschossen je einen der Männer. Linda erwischte den letzten in der Mitte mit einem Treffer im Rücken, und er brach auf dem Deck zusammen. Das ganze Gefecht hatte weniger als zwei Sekunden gedauert.
»Bleiben Sie hier und geben Sie mir Feuerschutz«, sagte sie zu Jefferson und Vargas. Beide standen sichtlich unter Hochspannung, hatten sich jedoch unter Kontrolle.
Sie nickten, und Linda bewegte sich langsam vorwärts, das Sturmgewehr im Anschlag.
Sie erreichte die vier Angreifer und sah, dass zwei Männer durch Kopfschüsse getötet worden waren. Jefferson und Vargas konnten offenbar sehr gut zielen.
Catherine Ballard lag auf dem Rücken und blutete aus einer tiefen Halswunde.
Linda schüttelte voller Abscheu den Kopf. »Sie werden als Verräterin sterben.«
Ballard grinste Linda mit blutigen Zähnen an.
»Und Ihr Kapitän ist ein toter Mann. Ihr Schiff ist …« Ihre Stimme versiegte.
Linda beugte sich vor und raffte ihre Weste auf der Brust zusammen. »Was ist mit meinem Schiff? Reden Sie!«
Ballard gab keine Antwort. Blutbläschen zerplatzten auf ihren Lippen, ehe sie ihren letzten Atemzug machte.
Der vierte Angreifer lag auf dem Bauch. Linda drehte ihn auf den Rücken, den Finger am Abzug ihres Sturmgewehrs.
Er war ein Asiate, und sein Gesicht war schmerzverzerrt.
»Eine falsche Bewegung, und Sie sind tot«, warnte Linda und hielt ihm die Mündung ihrer Waffe unter die Nase.
Sie gab Jefferson und Vargas mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie zu ihr herüberkommen konnten.
»Halten Sie ihn in Schach.«
Während sie ihre Gewehre auf ihn richteten, entfernte Linda mit einem Fußtritt sein Sturmgewehr, nahm ihm die Pistole ab und durchsuchte ihn. Er hatte keine weiteren Waffen bei sich. Ihr Schuss auf seinen Rücken war von seiner kugelsicheren Weste gestoppt worden.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
Er hustete und antwortete: »Li Quon.«
»Werden Sie mir etwas Nützliches erzählen, Mr. Li, oder soll ich Sie jetzt gleich erschießen?«
Niemals würde sie einen unbewaffneten Menschen erschießen, aber das wusste er nicht. Ihren entsetzten Mienen nach zu urteilen, ahnten es Jefferson und Vargas auch nicht.
»Nicht schießen!«, flehte Li. »Ich erzähle Ihnen alles, was Sie wissen wollen!«
»Wo ist die Portland
?«
»Zurzeit auf dem Weg zur Oregon
. Tate kennt ihren Standort.«
»Das wissen wir«, sagte Linda und drückte die Mündung ihrer Waffe gegen seine Stirn. »Wie weit ist es?«
»Sie wird in weniger als einer Stunde dort sein«, jammerte Li verängstigt. »Tate meinte, es gebe für die Oregon
keine Möglichkeit zu entkommen.«