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Juan stand auf der zerstörten Kommandobrücke der Oregon
und schaute auf die Kampfspuren hinunter, die ihr Deck verunstalteten. Ausgeglühte und verbogene Metallteile zeugten von den Schäden, die sie überstanden hatte. Trotz des umgestürzten Krans, der Löcher in ihrem Rumpf und der Zerstörung, inmitten derer er gerade stand, hatte das Schiff noch Leben in sich. Jemand anderem wären die verbrannte Farbe und der verformte Stahl hässlich erschienen, aber für Juan waren diese Blessuren bloß die äußeren Zeichen für die Gründe, weshalb er sein Zuhause auf dem Meer so leidenschaftlich liebte.
Schritte stampften die stählernen Stufen der Außentreppe zur Brückennock herauf, und Juan lächelte. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war.
»Sie ist ein zähes altes Mädchen«, sagte Max. »Jedes andere Schiff hätte längst schon ein kaltes Seemannsgrab gefunden.«
»Die Oregon
kann eine Menge Leid ertragen, zum großen Teil ist das dein Verdienst«, sagte Juan. »Du hast ein großartiges Schiff gebaut.«
Max seufzte. »Woraus folgt, dass ich auch die Portland
konstruiert habe. Ich hätte niemals geglaubt, dass wir eines Tages … sozusagen gegen uns selbst kämpfen müssten.«
»Und nun kämpfen wir auch noch mit beiden Händen auf dem Rücken. Tates Schiff ist unbeschädigt, und wir sind im Begriff, ihm mit einer halben Maschine und einem Minimum an Waffen gegenüberzutreten. Wenigstens hast du es geschafft, die Strahlruder wieder instand zu setzen.«
Ihre Aussichten waren kaum rosiger geworden, als ein kurzer Anruf von Linda sie erreichte, die ihnen berichtete, dass ihr Team den Angriff auf die Deepwater
abgewehrt habe und dass die Portland
unterwegs sei.
»Wir können noch immer recht kräftig austeilen«, sagte Max. »Das U-Boot auf dem Grund des Fjords ist der überzeugende Beweis dafür.«
Juan schüttelte den Kopf. »Das ist nicht genug. Tate hat Torpedos und Raketen.«
»Wir haben die Gatling Guns zur Verteidigung, und Murphs Pseudo-Schall-Disruptor hat doch bisher alle Torpedos ganz gut abgelenkt.«
»Tate hat gesehen, was geschehen ist, als er das letzte Mal Torpedos eingesetzt hat. Er ist zu clever, um den gleichen Fehler ein zweites Mal zu machen. In Zukunft wird er Drähte zum Lenken benutzen. Dann sind wir ein leichtes Ziel. Und wir können ihn nicht abhängen. Ich habe mir die Karte angesehen. Er schnappt uns sofort, sollten wir unser Heil in der Flucht suchen.«
Max lehnte sich neben Juan an die Reling. »Du klingst ziemlich niedergeschlagen. Ich hätte niemals erwartet, dass du aufgibst. Du denkst doch nicht etwa daran, vor Tate zu kapitulieren? Oder etwa doch?«
»Wenn ich der Meinung wäre, dass ein solcher Schritt die Mannschaft retten würde, dann täte ich es. Aber du hast ja selbst gesehen, wozu Tate fähig ist. Er wird sich nicht damit zufriedengeben, mich zu töten und das Schiff zu versenken. Er wird jeden Überlebenden dieser Auseinandersetzung ermorden, und dann wird er mit der Deepwater
das Gleiche tun.«
»Dann gehen wir eben kämpfend unter«, sagte Max entschlossen. »Keine schlechte Art zu sterben.«
»Ich möchte aber nicht sterben. Und ich will auch nicht, dass irgendjemand auf der Oregon
stirbt. Deshalb gibt es nur eine einzige Option.«
»Maurice hat überhaupt nicht gefallen, was du ihm erklärt hast. Und ich wette, dass auch mir nicht gefallen wird, was ich zu hören bekomme.«
Juan deutete auf die schmale Lücke in der Halbinsel, die sie von der Einfahrt in den Fjord trennte. Ehe er sich weiter dazu äußern konnte, summte sein Telefon. Selbst hier draußen, mitten im Nirgendwo, konnte er ein Signal des weltweiten Schifffahrtsnetzwerks empfangen. Er nahm das Gespräch an und schaltete die Mithörfunktion ein.
»Was ist los, Hali?«, fragte er.
»Ich habe Linda wieder in der Leitung.«
»Stellen Sie sie durch.«
Ein Klicken, und die Verbindung war hergestellt. »Linda, Max ist gerade bei mir. Was gibt’s Neues?«
»Li Quon war sehr gesprächig, und er hat uns etwas verraten, von dem ich meine, dass es vielleicht nützlich sein kann.«
»Dass die Portland
eine kritische Schwachstelle hat, die wir aufs Korn nehmen können?«, fragte Max. »Wie zum Beispiel einen Auspuff von zwei Metern Durchmesser, der es uns erlaubt, sein Schiff mit einem einzigen Schuss auf den Grund des Ozeans zu schicken?«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte sie. »Aber Li hat erwähnt, dass Tate die Webkameras überwacht, die die Deepwater
aufstellte, um die Pinguin-Kolonien zu beobachten. Er hat sogar die Deepwater
im Hintergrund eines der Videos gesehen.«
»Eine dieser Webkameras steht in diesem Fjord, nicht wahr?«, fragte Juan und drehte sich zu der langen Schlucht um. »Ich kann die Pinguine auf dem Strand in etwa einer halben Meile Entfernung sehen.« Die kürzlich erfolgten Explosionen hatten sie anscheinend nicht im Mindesten gestört. Wahrscheinlich waren sie an den Lärm von berstenden Eisschollen und kalbenden Gletschern gewöhnt.
»Ich bin mir nicht sicher, wie uns das helfen kann«, sagte Max, »aber schaden kann es uns auch nicht. Ich habe es überprüft, und die Kamera zeigt in die andere Richtung. Er kann uns im Augenblick nicht sehen.«
»Ich dachte an die Deepfake-Technologie«, sagte Linda. »Captain Jefferson meinte, die Kameras würden automatisch aktualisiert werden. Wenn ich Eric und Hali den Zugangscode nenne, meinen Sie, die beiden könnten dann irgendeine Software installieren, damit es so aussieht, als habe sie die Oregon
im Bild? Es könnte uns ein wenig zusätzliche Zeit verschaffen, wenn Tate glaubt, dass Sie irgendwo sind, wo man Sie in diesem Moment gar nicht antreffen kann.«
Max sah Juan an, und sein Gesichtsausdruck sagte, dass dies möglicherweise funktionieren könnte. »Ich habe einige Sequenzen von der Oregon
, die wir verwenden können.«
»Es müsste ganz unauffällig sein. Wenn es nämlich zu offensichtlich ist, wird Tate den Schwindel sofort durchschauen.«
»Ich veranlasse, dass Eric und Hali sich sofort an die Arbeit machen«, sagte Max. Er holte sein eigenes Telefon aus der Tasche und begann, Text einzugeben.
»Okay«, sagte Linda. »Ich schicke Hali die Zugangscodes.«
»Bevor Sie sich abmelden«, sagte Juan, »hat sich Li auch über den aktuellen Zustand der Portland
geäußert?«
»Er behauptet, dass alles in funktionsfähigem Zustand war, als er sie verließ. Aber er meinte auch noch, dass Tate vom Tod Catherine Ballards zutiefst getroffen sein würde. Er glaubte, sie hätten sich sehr geliebt.«
»Danke, Linda, das hilft vielleicht. Ich gebe Sie an Hali zurück.«
Max legte sein Telefon beiseite. »Eric glaubt, dass er es in der nächsten Stunde schaffen kann, also bevor Tate hier erscheint.« Was die Wirkung betraf, schien er allerdings skeptisch zu sein. »Ich bin mir nicht sicher, welchen Unterschied es machen wird. Wir sind trotzdem erheblich im Nachteil.«
Juan betrachtete noch einmal die steilen Wände der Lücke, die der Gletscher hinterlassen hatte. Lindas Idee ließ seinen Wahnsinnsplan sofort etwas weniger wahnsinnig erscheinen.
»Sogar ein winziger, unbedeutender Trick kann eine Hilfe sein«, sagte er. »Er könnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.«