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Juan stand auf dem Oberdeck der Oregon
, neben sich das Hoverbike, kurz HOB
genannt. Es ähnelte einer von Gomez’ kleinen Drohnen, allerdings nach einer längeren Steroid-Diät. Dieses Modell mit sechs Rotoren war mehr als dreieinhalb Meter lang und breit und besaß zwei Fahrradsättel mit Lenkstangen für beide Passagiere sowie Sitzgurten und Steigbügeln. Jeder Rotor war von einem Metallkorb umhüllt, um die Hände der Fahrer vor den messerscharfen Kanten der Rotorflügel zu schützen.
Linc kam auf ihn zu, ein Kaliber .50 Barrett-Scharfschützengewehr an einem Riemen über der Schulter. Sonst aber, um sein Gewicht niedrig zu halten – was angesichts der Körpermasse des ehemaligen SEAL
s nur als relativer Begriff zu verstehen war –, begnügte er sich mit einem Karton Reservemunition.
»Nur fürs Protokoll, ich finde es nicht so besonders prickelnd, als passiver Passagier auf diesem Ding zu sitzen«, sagte Linc.
Das HOB
hatte als weitere Gewicht einsparende Maßnahme keine Lenkkontrollen. Stattdessen wurde die Drohne mithilfe der winzigen Kameras und Sensoren an Bord ferngesteuert.
»Sie ist ausgesprochen stabil«, sagte Murph hinter ihm. »Gomez hat mir alles beigebracht, was ich darüber weiß, wie man dieses Ding fliegt.«
»Hat er dir alles beigebracht, was er weiß?«, fragte Juan und benutzte bewusst die Gegenwartsform, obgleich er noch nicht über Gomez’ aktuellen Zustand informiert war.
»Wahrscheinlich nicht. Ich glaube aber, dass ich mir den Rest selbst zusammenreimen kann.« Er zwinkerte Juan zu, ohne dass Linc es mitbekam.
»Du solltest so etwas lieber nur im Scherz sagen«, meinte Linc und überprüfte betont genau und kritisch die Magazine für die großen Patronen des Gewehrs. »Diese Munition hat eine Reichweite von zwei Meilen, weißt du.«
Murph hob beide Hände zu einer kapitulierenden Geste. »Ich werde mein Bestes tun.«
Eddie stieß als Letzter zu ihnen. Alles, was er bei sich hatte, war ein Fernglas mit starker Vergrößerung. Er wäre Lincs Beobachter. Beide trugen weiße Kaltwettertarnkleidung und hatten Skibrillen, die um ihre Hälse baumelten.
»Da oben wird es ziemlich eisig«, sagte Eddie und deutete auf den höchsten Punkt des Gletschers, zu dem sie unterwegs waren. »Ich wünschte, ich hätte einen Thermosbecher Kaffee mitgenommen.«
»Keine Sorge«, versuchte Murphy ihn zu trösten. »Ich hole euch runter, wann immer ihr wollt.«
Linc und Eddie wollten Juan frühzeitig vor der Ankunft der Portland
warnen. Die Kuppe des Gletschers bot einen weiten Blick auf den Fjord tief unten, aber die beiden hätten zu lange gebraucht, um sich durch die Eisbrüche zu kämpfen und seinen Gipfel zu ersteigen. Das HOB
bot die einzige Möglichkeit, sie rechtzeitig zu ihrem Aussichtspunkt zu bringen.
»Linc muss als Gegengewicht zu der restlichen Ladung vorne sitzen«, entschied Murph.
Linc streckte Juan mit ungewöhnlich ernster Miene die Hand entgegen.
»Chairman, es ist mir eine Ehre, mit Ihnen gedient zu haben.«
Juan ergriff seine Hand, drückte sie und sagte: »Mir
war es eine Ehre.«
Linc kletterte auf seinen Platz, und Eddie drückte Juan ebenfalls die Hand.
»Ich kann nicht glauben, dass wir dies hier tun«, sagte Eddie. »Ich hasse es, aber ich verstehe es. Wir werden unser Bestes geben, Juan.«
»Ich weiß, dass Sie das tun, Eddie«, sagte Juan. »Ich tue das Gleiche.«
Eddie schwang sich auf das Hoverbike, und Juan trat zurück, bis er neben Murph stehen blieb und hörbar schniefte.
»Ich glaube, ich habe mich erkältet«, murmelte Murph, aber Juan konnte hören, dass er eher ein trockenes Schluchzen unterdrückte.
Linc und Eddie gaben mit den Daumen das Okay-Zeichen, setzten die Skibrillen auf und legten die Hände um die Lenkstangen.
Murph tippte auf sein Kontrolltablet, und die Propeller begannen sirrend zu rotieren. Als sie ihre volle Drehzahl erreicht hatten, klangen sie wie ein Sextett dicker, fetter Hummeln.
Das HOB
stieg langsam vom Schiffsdeck auf und schwenkte in Richtung Gletscher herum. Sie schraubte sich bis auf die Höhe des Gipfelgrats hinauf, fast dreihundertfünfzig Meter, und Murph fand eine ebene Stelle, um zu landen. Zu Fuß hätte der Aufstieg Stunden gedauert, mit dem HBO
war es dagegen eine Sache von höchstens einer Minute.
Linc und Eddie winkten, als sie abstiegen, und Juan überprüfte die Sprechverbindung.
»Wie hören Sie mich?«
»Laut und deutlich«, antwortete Eddie. »Wir sollten nicht mehr als fünf Minuten brauchen, um unseren Aussichtspunkt zu erreichen.«
»Gut. Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie auf dem Posten sind!«
»Roger.«
Juan wandte sich zu Murph um, der das Tablet in die Tasche steckte.
»Wir könnten dem Moon Pool mal einen kurzen Besuch abstatten.«
Er hatte einen Rundgang durch das Schiff gemacht, wie es die seemännische Tradition von Kapitänen vor bedeutenden Schlachten verlangte, aber er hatte nichts gegen einen weiteren Kontrollgang.
Während sie die nächste Tür nahmen und die Treppe hinuntergingen, sagte Murph: »Die Betriebssysteme des Schiffs – wie Lenkkontrolle und Maschinensteuerung – wurden ausnahmslos auf Ihren Kommandosessel geschaltet. So haben Sie alles, was Sie brauchen, in Reichweite.«
»Danke, Mark«, sagte Juan. »Sie machen einen einzigartigen Job. Ich hoffe, das ist Ihnen klar.«
Murph nickte stumm. Offenbar zum ersten Mal in seinem Leben verschlug es ihm die Sprache.
Als sie den Moon Pool erreichten, ging es dort wie in einem Bienenkorb zu, da die Mannschaft hektisch um die beiden Tauchboote herumwieselte. Der Gator war im Wasser, während der Nomad über der Öffnung des Brückenkrans in Position gebracht wurde.
Eric und Hali kamen zu Murph herüber. Juan war beeindruckt, wie gefasst seine drei jungen Offiziere wirkten.
»Der Gator ist startbereit, Chairman«, sagte Eric, der ihn lenken sollte.
»Danke, Stoney«, sagte Juan. »Halten Sie sich versteckt, bis die Luft rein ist. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Das werde ich. Ich wünsche Ihnen gute Fahrt.«
Juan legte Eric eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass Sie tun, was getan werden muss. Das war bei Ihnen schon immer so.« Ein bitteres Lächeln spielte um Juans Lippen, ehe er sich an Hali wandte. »Bleiben Sie in Kontakt mit der Deepwater
. Halten Sie sie über das, was hier passiert, auf dem Laufenden.«
»Aye-aye, Chairman. Alles Gute für Sie.«
»Dasselbe für Sie.«
Die drei jungen Männer gingen zum Gator hinüber und kletterten hinein. Murph war der Letzte, und er schickte Juan einen letzten Blick, ehe er die Luke hinter sich schloss. Sekunden später sank der Gator ins Wasser und verschwand.
Juan schaute hoch und sah Max auf dem Laufgang, wo er das Gestell dirigierte, das den Nomad aufrecht hielt. Er stieg zu ihm hinauf, und als er neben ihm stand, tauchte der Nomad halb ins Wasser ein.
»Ich habe eure Abschiedszeremonie da unten gesehen«, sagte Max. »Diese jungen Leute schauen richtig zu dir auf.«
»Ich hätte mir keine bessere Mannschaft wünschen können. Apropos Mannschaft, konntest du alle in den Rettungsbooten unterbringen?«
Max nickte, ohne sich von seiner augenblicklichen Tätigkeit ablenken zu lassen. »Das erste wurde zu Wasser gelassen, und das zweite ist in ein paar Minuten an der Reihe.«
Nicht alle passten in die U-Boote, daher war der Einsatz der Rettungsboote unvermeidbar, auch wenn sie ein leicht verwundbares Ziel für die Portland darstellten. Wenn Juans Mission jedoch wie geplant ablief, drohte ihnen keine Gefahr. Er hätte sich gewünscht, jedem seiner Leute noch einmal die Hand zu drücken, aber dazu reichte die Zeit nicht aus.
»Wo ist Maurice?«, fragte Juan.
»Damit beschäftigt, den Auftrag auszuführen, den du ihm gegeben hast«, knurrte Max unwirsch.
»Du weißt genau, dass es die richtige Entscheidung ist.«
Max schien sich zu sehr auf seine Arbeit zu konzentrieren, um zu antworten. Als der Nomad im Wasser trieb, lösten die Techniker den Kranhaken, und Max schwenkte das Tragegestell zur Seite. Er legte das Bedienungsmodul aus der Hand und sah Juan schließlich an.
»Die einzige falsche Entscheidung, die du getroffen hast, war, dass du mich nicht mit dir zurückbleiben lassen willst«, sagte Max.
»Tate ist mein Problem. Die Mannschaft hat schon viel zu viel durch ihn ertragen müssen, du eingeschlossen.«
Max erwiderte seinen Blick. »Du sorgst dich um jeden anderen mehr als um dich selbst.«
Juan zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist eben meine große Schwäche.«
»Nein, es ist deine besondere Stärke. Und darum wird Tate verlieren.«
»Drücken wir uns die Daumen. Richte Julia meine besten Grüße aus. Wir sind beide während der letzten Stunden zu beschäftigt gewesen, um uns noch einmal zu sehen.«
»Das werde ich tun.« Vollkommen unerwartet schlang Max die Arme um Juan und drückte ihn an sich.
»Bis bald, alter Freund. Wir sehen uns«, sagte Juan.
»Ganz sicher. In diesem Leben oder im nächsten, Bruder«, erwiderte Max.
Dann löste er sich von ihm, sah ihm noch einmal in die Augen, ehe er sich abwandte, um das Tauchboot einsatzbereit zu machen.
Juan verließ den Moon Pool und ging in Richtung Heck. Er machte nur noch einen kurzen Abstecher in seine Kabine, um einen kleinen Karton an sich zu nehmen. Er traf keine lebende Seele an, als er durch die leeren Korridore ging. Da fast alle schon das Schiff verlassen hatten, erschien es vollkommen hohl und tot. So musste es sich auf dem Fliegenden Holländer anfühlen.
Er stieg die Treppe am Ende des Korridors hinauf und kam aufs Achterdeck. Dort erwartete ihn der leere Hubschrauberlandeteller, auf dem eigentlich Gomez’ Maschine hätte stehen sollen. Juan hoffte, dass der Pilot es irgendwie ohne weitere Blessuren geschafft hatte.
Er ging zum Hecküberhang und sah das zweite Rettungsboot, das sich vom Schiff entfernte. Er winkte den Insassen, die zu ihm hochblickten. Ihre Mienen waren düster, als sie seinen Abschiedsgruß erwiderten.
Am Flaggenstock flatterte gegenwärtig die iranische Fahne. Um nicht aufzufallen, fuhr die Oregon
meistens unter der Fahne eines Schurkenstaates wie Iran, Syrien oder Myanmar oder gelegentlich auch unter panamesischer oder liberianischer Registrierung. Auf diese Weise blieb die wahre nationale Zugehörigkeit des Schiffes im Dunkeln.
Aber es gab eine Flagge, die noch nie zuvor auf der Oregon
gehisst worden war.
Juan zog die iranische Flagge herunter und warf sie ins Meer. Er öffnete den Karton, den er aus seiner Kabine geholt hatte und der eine andere – noch zusammengefaltete – Flagge mit blauem Feld und weißen Sternen enthielt.
Er faltete sie beinahe andächtig auseinander, achtete darauf, dass sie nicht das Deck berührte, und befestigte sie an der Flaggenleine. Dann zog er sie am Mast hoch, bis die Stars and Stripes der Vereinigten Staaten in der leichten Brise flatterten.
Juan hörte ferne Jubelrufe von der bisher eher traurigen Schar der Rettungsbootinsassen, und triumphierend stieß er eine Faust in die Luft.
Wenn er mit seinem Schiff untergehen sollte, dann – so wünschte Juan es sich – im Dienst seines Vaterlandes.
Obgleich sie schwer verwundet war, steckte noch eine Menge Leben in der Oregon
, aber es gab keinen Grund, dass jemand anders für Tates mörderischen Plan zahlen sollte. Dank Murphs technischem Genie konnte Juan sämtliche Funktionen des Schiffes von seinem Platz im Operationszentrum aus steuern, um diese letzte Aufgabe zu bewältigen.
Er würde die Portland
mit der Oregon
rammen.