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Tate schüttelte den Kopf, um die Spinnweben vor seinen Augen zu vertreiben, aber dabei verschlimmerten sich die Schmerzen des Peitschentraumas in seinem Nacken. Er schlug die Augen auf und musste feststellen, dass das Operationszentrum vollständig zerstört war. Er war der Einzige, der sich angeschnallt hatte, daher war er auf seinem Platz geblieben, auch wenn sein Kommandosessel eine Schieflage von mindestens dreißig Grad hatte. Niemand bewegte sich. Leiber lagen ausgestreckt auf dem Boden, einige bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht von dem rostigen Rumpf der Oregon
, der nun den Raum ausfüllte, den kurz zuvor noch der Hauptbildschirm eingenommen hatte.
Blanke Stromleitungen versprühten Funken, Alarmhupen blökten, und Warnlichter flackerten. Tate überprüfte den Zustand des Schiffes auf dem Tablet in der Armlehne seines Sessels, und es blinkte heftig und lieferte zahlreiche Warnmeldungen.
Maschinen tot. Waffen off-line. Feuerlöschsystem ausgefallen. Mehrere Abschnitte überflutet. Die Liste erschien endlos.
Bei dem Loch, das die Oregon
in die Portland
gerammt hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis das Schiff unterging. Er musste schnellstens ins Freie gelangen und das Wrack verlassen.
Er öffnete den Verschluss des Sicherheitsgurts, aber ein neuer Alarm ließ ihn zusammenzucken. Es war das Feuersignal.
Er schaute auf das Tablet und rief ein dreidimensionales Bild des Schiffsinneren auf. Ein Brand tobte in dem Abschnitt dicht neben dem Munitionslager. Wenn das Feuer die Granaten oder Raketen erreichte, die dort gestapelt waren, würde die darauffolgende Explosion das Schiff in zwei Teile zerreißen.
Von rechts drang ein lauter Ruf an seine Ohren. Es war Farouk, der von seiner Konsole, die aus ihrer Verankerung im Boden gerissen worden war, gegen die Wand gepresst wurde. Verzweifelt winkte er mit einem Arm und rief um Hilfe.
»Bitte, Commander!«, flehte er. »Ich kann mich nicht bewegen!«
Tate schüttelte den Kopf. »Das geschieht dir recht, weil du mich in diese Lage gebracht hast. Du musst dich schon allein befreien.«
Er rannte aus dem Raum, verfolgt von Farouks Jammern, das bald hinter ihm verhallte.
Tate suchte die nächste Treppe, aber die war blockiert. Er kehrte um und versuchte es auf einem anderen Weg. Dieser Korridor hatte sich in ein Labyrinth aus Stützpfeilern, undichten Versorgungsleitungen und aus der Decke heraushängenden Drähten verwandelt. Wenn er versuchte, sich durch dieses Gewirr zu zwängen, würde er sich so gut wie sicher einen tödlichen Stromschlag einhandeln.
Die dritte Route, auf der er sein Glück versuchte, führte ihn am Schießstand und der Waffenkammer des Schiffes vorbei. Dann stand er vor dem Rumpf der Oregon
, der seitlich so sauber aufgerissen war, dass ihm die Öffnung genügend Platz bot, um sich hindurchzuzwängen. Sie schien seine einzige Möglichkeit zu sein, die Portland
zu verlassen.
Doch auch dies war höchst gefährlich. Er konnte sich denken, dass die Mannschaft der Oregon
nur darauf wartete, ihn zu töten, wenn er versuchte, durch ihr Schiff zu flüchten. Er musste sich also unbedingt bewaffnen.
Er rannte zum Schießstand zurück, öffnete die innere Sicherheitstür und erreichte das Arsenal. Nachdem er sich ein G26-Sturmgewehr und zwei Reservemagazine sowie eine Stablampe geangelt hatte, kehrte er auf dem Weg zurück, den er gekommen war.
Als er den Punkt erreichte, wo Oregon
und Portland
ihre untrennbare Verbindung eingegangen waren, richtete Tate das G36 auf die dunkle Öffnung. Er knipste die Stablampe an und blickte in einen leeren Korridor.
Der Weg war frei. Er kletterte in die Oregon
hinüber.
* * *
Juan öffnete seinen Sitzgurt und machte bei sich selbst Inventur. Überraschenderweise war er während der schweren Kollision unverletzt geblieben. Zu schade, dass er das Gleiche nicht von seinem Schiff sagen konnte.
Er war stolz auf das, was die Oregon
hatte ertragen müssen, aber der Zusammenstoß musste die Maschinen irreparabel beschädigt haben. Er versuchte, das Schiff aus eigener Kraft aus der Umklammerung der Portland
zu befreien. Keine Reaktion. Die Oregon
würde kein Ziel mehr ansteuern.
Juan musste das Schiff aufgeben. Wasser drang durch Löcher in der Rumpfseite und im Bug ein. Einige Flutungstore hatten sich zwar geschlossen, aber nicht vollständig – und was ihre Anzahl betraf, einfach nicht genug. Es war klar, dass für die Oregon
schon bald das letzte Stündlein schlagen würde.
Er versuchte, Eddie zu erreichen. Vergebens. Es gab keine Funkverbindung. Nicht mehr lange und die Oregon
wäre von eintausend Fuß Wasser bedeckt, und er wollte nicht in ihr gefangen sein, wenn dies geschah.
Er ging zur Tür und drehte sich um. Er wollte einen letzten Blick auf das Operationszentrum werfen. Dies war sein Lieblingsplatz im Schiff gewesen, wo er sich immer am wohlsten gefühlt hatte, und mit einer gewissen Wehmut dachte er an die Atmosphäre der Kameradschaft, die ihm und seinen Gefährten in den heikelsten Augenblicken ihrer zahlreichen Missionen neue Kraft gegeben hatte, ihrer gefährlichen Arbeit nachzugehen. Aber nun war niemand mehr hier. Der Raum – das Schiff – sie hatten ihr Werk vollbracht.
Es wurde Zeit, sich zu verabschieden.
Er machte kehrt und rannte um sein Leben.