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»Hast du gesehen, woher das gekommen ist?«, fragte Linc.
Eddie, der das Deck nach der Herkunft der Kugeln absuchte, die das Rettungsfloß zersiebt hatten, konnte niemanden sehen, der eine Schusswaffe trug.
»Nein, aber Juan ist noch am Leben«, sagte Eddie.
»Er war es. Siehst du irgendwelche Blutspuren auf dem Deck?«
»Soweit ich erkennen kann, nein, aber das ist aus dieser Entfernung schwer zu entscheiden.« Dann sah Eddie, wie Juan sich hochstemmte und auf die Knie kam. »Warte, er bewegt sich. Er setzt sich gerade auf. Und lehnt sich an einen Poller.«
»Wir müssen unbedingt denjenigen finden, der Jagd auf ihn macht.«
»Moment mal. Ich habe gerade das Bein des Burschen gesehen. Er hat sich hinter den Deckaufbau zurückgezogen. Siehst du ihn?«
»Schon entdeckt«, sagte Linc. »Aber ich kann nicht auf ihn schießen. Wie ist er überhaupt an Bord gekommen?«
»Keine Ahnung. Juan war der Erste, den ich auf dem Deck der Oregon
gesehen habe.«
»Kannst du den Schützen von hier erwischen?«, fragte Eddie.
»Wenn er vollständig in Sicht kommt und sich für ein paar Sekunden ruhig verhält. Die Windverhältnisse zwischen hier und dort unten sind ein wenig heikel, und es wird nicht so einfach sein, sie zu kompensieren … Ist noch immer nichts über den Sprechfunk gekommen?«
»Nein.« Es war frustrierend, Juan zu sehen, aber nicht mit ihm reden zu können.
»Ich habe gehofft, du könntest den Chairman bitten, den Kerl ins Freie zu locken«, sagte Linc.
»Das wäre eine Hilfe. Vielleicht erinnert er sich daran, dass wir hier oben sind.«
* * *
Juan benutzte das Keramikmesser aus seinem Kampfbein, um ein Stück von der Nylonschnur der Rettungsinsel abzuschneiden und damit seinen blutenden Arm abzubinden, indem er die Schlinge mit seiner heilen Hand und den Zähen so stramm wie möglich zuzog. Er konnte den Ellbogen zwar nur unter äußersten Schmerzen beugen, aber es sah nicht so aus, als habe die Kugel den Knochen verletzt.
Er hatte sich für alle Fälle für die Beinprothese mit dem Geheimfach entschieden. Nun war er froh, dass er es getan hatte. Er holte die Kaliber .45 ACP
Colt Defender heraus, in der sich insgesamt acht Kugeln befanden, sieben im Magazin und eine in der Kammer. Natürlich konnte die Waffe es mit der Feuerkraft der feindlichen Partei – das war ein G36-Sturmgewehr, wie er am Klang erkannt hatte – niemals aufnehmen.
Juan schaute zum Eisgrat hinauf, von wo aus, wie er wusste, Linc und Eddie ihn sehen konnten. Die Entfernung und ihre Tarnung machte sie unsichtbar. Er hatte den lauten Klang des Barrett-Scharfschützengewehrs nicht gehört, woraus er schloss, dass Tate für Linc nicht zu sehen war. Juans Vorteil war, dass Tate keine Ahnung hatte, dass sich die beiden oben auf dem Gletscher befanden.
Juan musste ihn ins Freie locken. Allmählich zog Nebel auf und staute sich am Eisgrat, daher hatte er nicht viel Zeit.
»Wie ich gesehen habe, sind Sie nicht mit Ihrem Schiff untergegangen, Tate!«, rief Juan.
»Hatten Sie etwa angenommen, ich glaube an diesen Unfug?«, rief Tate zurück. »Das ist doch nur was für Pfadfinder wie Sie. Außerdem wollte ich Sie noch ein letztes Mal sehen.«
»Ich bin hier. Kommen Sie und holen Sie mich.«
»Netter Versuch. Ich weiß über Ihr trickreiches Bein Bescheid. Sie haben sicherlich eine handliche kleine Pistole darin versteckt. Aber ein Sturmgewehr haben Sie bestimmt nicht. Damit kann ich
aber aufwarten.«
»Da haben Sie mich natürlich kalt erwischt.« Juan lugte um den Poller herum und schoss drei Mal kurz hintereinander, um Tate aus der Deckung zu scheuchen.
»Ich bin immer noch hier, Juan! Sie können versuchen, sich zu verstecken, aber bedenken Sie, dass ich die Oregon
genauso gut kenne wie Sie. Warum ersparen Sie mir nicht die Mühe und springen jetzt gleich über Bord? In diesem kalten Wasser sterben Sie schon nach zwei Minuten an einem hypothermischen Schock.«
Tate schien seinen Spaß daran zu haben, Juan zu belauern und zu warten, bis sie am Ende beide mit der Oregon
untergingen, deren Bug bereits stetig sank. Juan blickte zur nächsten Tür, die ins Schiffsinnere führte. Doch sie war zu weit entfernt. Tate würde ihn erwischen, ehe er die Hälfte des Weges zurückgelegt hätte.
Es wurde Zeit, drastischere Maßnahmen zu ergreifen und darauf zu vertrauen, dass Eddie und Linc bereit lagen, um ihm zu helfen.
Er stand auf und leerte sein Magazin in Tates Richtung, bis das Klicken des Hammers zu hören war. Daraufhin warf er die Pistole aufs Deck und blieb stehen.
Tate lugte hinter dem Deckaufbau hervor. »Nun, das war aber ganz schön dumm von Ihnen. Oder Sie haben selbstmörderische Anwandlungen, weil ich Sie geschlagen habe.«
Juan schüttelte den Kopf und hob die Hände. »Keins von beidem. Eine rein praktische Entscheidung.«
Tate kam mit einem breiten Grinsen aus seiner Deckung, das G36 lässig in der Hand neben seinem Oberschenkel. Er schlenderte auf Juan zu.
»Ich habe lange auf diesen Moment gewartet«, sagte er.
Juan nickte. »Ich auch.«
»Dann Good-bye, Juan.«
»Nun schießen Sie schon«, sagte Juan.
»Mit Vergnügen.« Tate blieb stehen und legte an.
»Sie meinte ich nicht.«
* * *
Auch wenn die ersten Nebelschwaden sie einzuhüllen begannen, sah Eddie, dass Tate sich gerade in einer ausgezeichneten Position befand – wie auf dem Präsentierteller – und stillstand. Tate sagte etwas und hob sein Gewehr.
»Leg ihn um«, sagte Eddie.
Linc drückte ab.