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Die Oregon
erschauerte und sackte nur minimal tiefer, als sich irgendein Hohlraum in ihrem Innern mit Wasser füllte. Es reichte aber aus, um Tate das Leben zu retten.
Etwas schnitt an seiner Wange entlang, und er zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. Dann hörte er den Knall eines Gewehrs irgendwo hoch über sich und begriff, dass Juan einen Scharfschützen auf dem Berg platziert hatte, mit Blick auf den Fjord. Cabrillo hatte ihn aus seinem Versteck herausgelockt, nur um ihm das Gehirn aus dem Schädel zu blasen. Und es hätte beinahe funktioniert.
Tate schoss ein ganzes Magazin in Juans Richtung leer. Und dann hechtete er sich gerade noch rechtzeitig in sein Versteck zurück, um zwei weiteren Geschossen zu entgehen, die dort, wo er soeben noch gestanden hatte, tiefe Furchen in die Deckplatten gruben. Als er sich wieder im Schutz des Deckaufbaus befand, warf er das Magazin aus seinem Sturmgewehr aus und ersetzte es durch ein volles. Blut sickerte an seinem Kinn herab und auf sein Hemd, aber Tate verspürte keinen Schmerz. Das Adrenalin in seinen Adern hatte ihn in einen Rauschzustand versetzt.
»Das war schlau!«, rief er. »Du hättest mich beinahe erwischt! Aber dein eigenes Schiff hat dich im Stich gelassen und deinen Plan vereitelt!«
Keine Antwort.
»Bist du noch da draußen, Juan? Ich habe kein Platschen gehört.«
»Es wird langsam Zeit, das Ganze zu einem fairen Kampf zu machen, Tate!«, rief Cabrillo zurück.
Tate hörte den Klang einer Lukentür, die zugeschlagen wurde.
Fairer Kampf? Um dies zu einem fairen Kampf zu machen, brauchte Cabrillo ein eigenes Sturmgewehr.
Er wollte zur Waffenkammer zwei Decks tiefer. Anstatt daran zu denken, wie er verhindern könnte, dass Juan sich eine eigene Waffe verschaffte, um sich ihm zu einem Duell zu stellen, versetzte diese Aussicht Tate in eine erwartungsvolle Hochstimmung. Er fühlte sich fast in die letzten Stunden ihrer früheren Partnerschaft zurückversetzt.
Er wagte einen Blick aus seiner Deckung hinter dem Deckaufbau und sah, dass Nebel die Bergkuppe verhüllte. Der Scharfschütze dürfte erst einmal blind sein.
Tate rannte zur Tür. Sie war einer der versteckten Eingänge, die zu den geheimen Bereichen des Schiffes führten. In seiner Hast, zum Waffenlager zu kommen, hatte Cabrillo sie halb offen stehen lassen.
Tate riss sie ganz auf und folgte Cabrillo ins Innere der sinkenden Oregon
.
* * *
Juan haderte nicht mit seinem Schicksal, während er die Treppe hinunterrannte. Er hatte lediglich ein bisschen Pech gehabt. Lincs Schuss war perfekt gewesen. Es war das Schiff, das Tate aus der Schussbahn bewegt hatte.
Juan brauchte nicht lange, um sich eine andere Strategie einfallen zu lassen. Der Nebel, der aufzog und Linc aus seinen Berechnungen eliminierte, zwang ihn, einen Plan C in Erwägung zu ziehen. Oder vielleicht fiel ihm an diesem Punkt auch ein Plan F ein. Dass das Schiff schnell sank, war keine Hilfe. Juan blieben nur noch wenige Minuten, ehe es vollends unterging.
Er hatte zu Max gesagt, dass er nicht sterben wolle, und dies traf noch immer zu. Aber Tate würde nicht zulassen, dass er lebend von der Oregon
herunterkam. Und Juan hatte keine weitere Waffe in seinem Kampfbein.
Es war eine Bemerkung Tates oben auf dem Deck, die ihn an eine neue Taktik denken ließ. Tate sagte, er kenne die Oregon
ebenso gut wie Juan.
Aber das traf nicht zu. Nur ein Mitglied der Corporation kannte das Schiff so in- und auswendig wie Juan. Es gab Dinge an Bord, die er modifiziert hatte, seit die Oregon
entworfen und gebaut worden war. Es waren Veränderungen, die nicht in den ursprünglichen Plänen enthalten waren, die Tate gestohlen hatte, um die Portland
zu bauen. Zwar waren das nur minimale Veränderungen, sie machten die Oregon
jedoch trotz ihrer Doppelgängerin absolut einzigartig.
Die Waffenkammer besaß eine dieser Modifikationen.
Er konnte nur hoffen, dass Tate den Köder schluckte und ihm folgte.