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Juan musste so lange wie möglich trocken bleiben. Seine Zehen wurden nach dem kurzen Kontakt mit dem Wasser bereits taub. Es war schon dabei, die Oregon
zu verschlingen.
Von Sekunde zu Sekunde nahm die Neigung des Korridorbodens zu und machte es für ihn schwieriger, die Treppe hinaufzukommen. Gleichzeitig sank das Schiff immer schneller, und es fühlte sich an, als triebe die Wasserflut ihn vor sich her.
Er arbeitete sich die Treppe hinauf, indem er sich mit seinem gesunden Arm am Geländer hochzog und sich mit den Stiefeln gegen die Wand stemmte, als kletterte er an einer steilen Felswand empor.
Als er das obere Ende erreichte und hinter dem Deckaufbau ins Freie gelangte, nahm die Oregon
gerade einen extrem steilen Winkel ein und wurde bereits zur Hälfte mit Wasser überspült. Er kletterte über die Reling und benutzte das Kettengeländer, um sich zum Heck hinaufzuziehen.
Als Juan noch etwa fünfunddreißig Meter von dem Hecküberhang entfernt war, bewirkte die unnatürliche Schieflage des Schiffes, dass der am weitesten achtern stehende Kran umkippte. Die Stahlstreben krachten gegen den Deckaufbau, und der Ausleger stürzte auf das Schandeck hinter ihm, rutschte über das Deck abwärts und stürzte in die See.
Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Keine Schwimmweste befand sich in Reichweite. Juan blickte sich suchend um. Auch von Rettungsbooten war nichts zu sehen. Das überraschte ihn aber gar nicht. Er hatte veranlasst, dass sie im anderen Arm des Fjords in Sicherheit gebracht wurden für den Fall, dass der Untergang der Portland
länger dauerte als erwartet. Er wollte die Oregon
nicht opfern, nur um erleben zu müssen, dass Tate seine Mannschaft wie von Anbeginn geplant auslöschte.
Seine beste Chance bestand darin, zum Ufer zu schwimmen und darauf zu warten, dass jemand kam und ihn abholte. Der nächstliegende flache Uferabschnitt, an dem er aus eigener Kraft aufs Trockene gelangen konnte, befand sich etwa dreihundert Meter weit entfernt hinter dem Schiffsheck. Normalerweise konnte Juan diese Strecke schwimmen, ohne dass er einen Deut schneller atmen musste dank des regelmäßigen Trainings im Ballasttank der Oregon
, der als Schwimmbecken diente.
Aber in diesen eisig kalten Fluten – und mit einem nutzlosen Arm – würden seine Kräfte rapide nachlassen, wenn sein Organismus den Blutfluss zu den Extremitäten drosselte, um die Wärme und die Energie für die lebenswichtigen Organe in seinem Oberkörper aufzusparen.
Das Schiff hatte sich mittlerweile derart steil aufgerichtet, dass es ihm praktisch unmöglich war, sich einhändig bis zum Hecküberhang hinaufzuarbeiten. Selbst angenommen er würde es schaffen, bis dorthin zu gelangen, müsste er an den Öffnungen der Venturi-Rohre vorbeispringen. Falls er in ihren Sog geriet, wenn das Schiff endgültig versank, hätte er keine Chance mehr herauszukommen.
Es gab also nur eine Möglichkeit. Ohne lange nachzudenken setzte Juan über die Reling und wappnete sich für den Kälteschock, während er dem Wasser entgegenstürzte.
Die eisige Kälte, mit der es ihn umhüllte, war mörderischer, als er erwartet hatte. Er nahm einen so tiefen Atemzug wie möglich. Dann schwamm er in Richtung Ufer, während seine Finger vollkommen gefühllos wurden. Sein Kopf brach durch die Wasseroberfläche. Die schneidende Kälte fühlte sich wegen des kräftigen Windes, der ihm in das nasse Gesicht wehte, noch um einiges schlimmer an.
Er begann zu schwimmen und legte die ersten fünfzig Meter durch das vom sinkenden Schiff aufgewühlte Wasser zügig zurück. Aber er konnte deutlich fühlen, wie seinen Muskeln die Kraft ausging wie bei Batterien, die kontinuierlich an Leistung verloren.
Juan kämpfte sich dennoch weiter, nicht gewillt aufzugeben. Aber als er hochblickte, erschien ihm das Ufer nicht näher als noch eine Minute zuvor. Seine Kräfte waren nahezu aufgebraucht, und die vollkommene Erschöpfung setzte ein. Er würde sich noch für einige Zeit über Wasser halten können, mehr aber nicht. Er würde es nicht schaffen.
Hinter sich hörte er ein mehrmaliges lautes Dröhnen. Er blickte über die Schulter und sah, wie das Heck der Oregon
nach unten zur Wasseroberfläche absank, auf der sich weißer Schaum gebildet hatte. Der Deckaufbau war bereits vollständig untergetaucht. Was Juan gehört hatte, waren vermutlich Lukentüren, die von dem enormen Wasserdruck aufgesprengt worden waren.
Mit tiefer Trauer im Herzen verfolgte er, wie der elegante Hecküberhang, geformt wie ein halbierter Champagnerkelch, ins Wasser glitt, das sich rauschend in die weit aufklaffenden Öffnungen der Venturi-Rohre ergoss, die die Oregon
im Laufe der Jahre während unzähliger Missionen zuverlässig angetrieben hatten.
Wasser spülte über die abblätternde Farbe und die Rostschicht des Rumpfs und wusch Letter für Letter den Namen Oregon
ab, der von Eisenspänen auf einer Magnetplatte am Heck geformt wurde. Das Letzte, was von dem Schiff unter der Wasseroberfläche verschwand, war der Flaggenstock mit der amerikanischen Fahne, die noch im Wind flatterte. Die Stars and Stripes breiteten sich auf der Wasserfläche aus, als wehrten sie sich dagegen unterzugehen. Doch dann wurden sie in die Tiefe gesogen.
Nur ein Wasserwirbel markierte den Untergang des Schiffes. Die scheinbar unzerstörbare Oregon
existierte nicht mehr.
Juan, dessen Energiereserven weiter rapide schrumpften, rotierte um seine Längsachse und erblickte niemanden. Nicht einmal Linc und Eddie konnten ihn wegen der dichten Nebeldecke sehen. Er war vollkommen allein.
Dabei empfand er einen tiefen inneren Frieden. Er hatte getan, was getan werden musste. An diesem abgelegenen Ort mit seiner natürlichen Schönheit würde er die ewige Ruhe finden.
Und dann hörte er auf zu paddeln. Er schloss die Augen, und sein Kopf tauchte unter.
* * *
Tate schlug gegen die Tür der Waffenkammer, verzweifelt bemüht, hineinzugelangen und eine Waffe zu finden, um mit ihrer Hilfe aus diesem Gefängnis auszubrechen. Sein G36-Gewehr lag auf dem Boden, das Magazin war leer. Kugeleinschläge bedeckten beide Türen.
Er stand jetzt fast auf der vorderen Wand der Schießbahn. Wie viel von dem Schiff sich bereits unter Wasser befand, konnte er nicht sagen, aber bislang war noch kein Wasser durch eine der Türen eingedrungen.
Sein Atem ging hektisch und pfeifend. Das tschetschenische Gefängnis war eine reine Folter gewesen, aber dies hier war noch schlimmer. So wollte er nicht sterben.
Sein Hals war wund vom Brüllen, aber er verstummte nicht.
»Juan! Ich weiß, dass du mich hören kannst! Dafür wirst du bezahlen!«
Er hörte etwas wie ein Klopfen an der äußeren Tür. Er ging dorthin und musste den Arm hochrecken, um sie zu erreichen. Das Metall fühlte sich eisig kalt an.
Dann spürte Tate, wie die Tür gegen seine Hand drückte.
Hoffnung keimte in ihm auf. Juan mit seinem Pfadfindergeist zeigte offenbar doch Erbarmen.
»Ich wusste, dass du zurückkommen würdest!«, rief Tate voller Freude.
Aber seine Euphorie hielt nicht lange an. Ein winzig dünner Strahl Wasser schoss aus einer Türfuge.
Dann ein weiterer. Und ein dritter. Ein Strahl traf Tates Arm, und sein Druck war so hoch, dass er die Haut so glatt aufschlitzte wie ein Skalpell.
Dann begriff Tate voller Grauen, dass niemand da draußen vor der Tür war. Das Schiff sank auf den Grund des Fjords. Der immense Wasserdruck war es, der die Tür nach innen wölbte.
Tate wich zurück. Und es gab nichts, wohin er sich hätte flüchten können.
Schließlich konnte die Tür die Wassermassen nicht länger zurückhalten. Sie barst an den Scharnieren und wurde in den Schießstand hineingeschleudert, gefolgt von einem Tsunami.
Tate öffnete den Mund, um noch einmal zu brüllen. Das Meer füllte seine Lungen, und das Letzte, was er spürte, war der Druck von eintausend Fuß Wasser, die das Leben aus ihm herauspressten.