EPILOG
RIO DE JANEIRO
ZWEI MONATE SPÄTER
Auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht, dem Lichterglanz Rio De Janeiros genau gegenüber, saß Juan Cabrillo mit einem Dutzend Arbeiter auf einer kleinen Fähre und war unterwegs zur Nachtschicht auf der Ilha do Viana. Es war lange nach Sonnenuntergang, und Frachtschiffe drängten sich um die Insel, während Warenladungen zwischen ihnen und dem neuen Umschlaglagerhaus, das vor Kurzem dort in Betrieb genommen worden war, hin und her transportiert wurden. Es stand direkt neben einer stillgelegten Fischverarbeitungsfabrik, die mindestens fünfzig Jahre alt war. Als sie am Kai anlegten, konnte Juan die Inschrift auf einer Seitenwand des neuen Gebäudes lesen.
Ferreira Indústrias Globais.
Juan verließ die Fähre mit den anderen Arbeitern und gähnte, als sei er soeben erst aus dem Bett aufgestanden. Ein bewaffneter Torwächter hielt die Gruppe an, um ihre Papiere zu kontrollieren.
Juan reichte ihm seinen Ausweis. Er war auf »Lucas Calvo« ausgestellt. Die von Kevin Nixon angefertigten Kunststoffteile in Juans Gesicht machten ihn zu einem Zwillingsbruder Lucas Calvos, der in diesem Moment in seinem Apartment saß und von Hali Kasim bewacht wurde. Als sie die Lagerarbeiter beobachteten, um sich über ihre Gewohnheiten zu informieren, hatten sie festgestellt, dass Calvo ein schweigsamer Typ war und sich daher bestens für diesen Personentausch eignete. Juan brauchte sich während der Überfahrt mit keinem der anderen Arbeiter auf der Fähre zu unterhalten.
Nach einer flüchtigen Kontrolle gab der Wachmann den Ausweis zurück und sagte: »Vá para dentro. « Geh hinein.
Juan, der während der vorangegangenen sechs Wochen in Vorbereitung auf diese Mission intensiv Portugiesisch gelernt hatte, erwiderte: »Obrigado. « Er betrat das Lagerhaus und folgte den Männern bis zur gegenüberliegenden Seite der Halle, in der Waren und Rohprodukte aus und für Ricardo Ferreiras Fabriken überall in Brasilien gestapelt waren.
Sie fuhren mit einem Lastenaufzug zwei Etagen tiefer. Die Türen öffneten sich zu einem breiten Tunnel von etwa zweihundert Metern Länge. Juan folgte dem Tunnel und bewegte ab und zu seinen linken Arm. Wie Julia prophezeit hatte, spürte er außer einem leichten Ziehen im Bereich der beiden Narben so gut wie nichts mehr von der Verletzung. Sein Arm fühlte sich nicht anders als zu der Zeit, bevor er von dem Schuss getroffen worden war.
Als sie das Ende des Tunnels erreichten, betraten sie einen anderen Fahrstuhl, der sich unter der anscheinend verlassenen Konservenfabrik befand. Zwei Stockwerke höher öffneten sich die Türen zu einer weitläufigen Fertigungshalle.
Das einzige Produkt auf dem Fließband waren Dutzende von Slipstream-Unterwasserdrohnen, von denen Juan seinerzeit auf Ferreiras Yacht nur einen Prototyp zu Gesicht bekommen hatte. Die Bestellungen von Drogenhändlern und Schmugglern waren derart zahlreich eingegangen, dass die Produktion mittlerweile mit Hochdruck angelaufen war. Die ersten fertigen Drohnen sollten schon bald ausgeliefert werden.
Juan sah ein erhöhtes luxuriöses Büro, von dem aus die Fabrikhalle zu überschauen war. In diesem Büro stand ein Mann in einem maßgeschneiderten Anzug und telefonierte angeregt. Der Mann wandte sich um, und Juan erkannte ihn auf Anhieb wieder. Es war Ricardo Ferreira. Und er war allein.
Dank Calvo wusste Juan genau, wo sich die Treppe befand, die zu dem Büro führte. Er trennte sich unauffällig von den anderen Arbeitern und eilte den Gang zu der Treppe hinunter, wo ein einzelner Wachmann seinen Dienst versah. Sobald sich Juan im Korridor befand, holte er ein Taschentuch hervor und hielt es sich vors Gesicht, als habe er Nasenbluten.
»Eu preciso do banheiro «, sagte er. Wo ist die Toilette?
»Am anderen Ende des Gebäudes, idiota «, erwiderte der Wachmann auf Englisch und Portugiesisch. Dabei deutete er in die entsprechende Richtung.
Als sich seine Hand weit genug von der Pistole in seinem Gürtelhalfter entfernt hatte, rammte Juan ihm einen Ellbogen in die Rippen und stieß seinen Kopf auf sein Knie hinunter. Der Mann brach zusammen. Er war sicher nur kurz weggetreten, aber es würde reichen.
Juan steckte die halbautomatische Pistole des Wachmanns ein und schaute auf die Uhr. Er ging zur nächsten Brandschutztür, die mit einer Kette verschlossen und einem Alarm gesichert war. Juan öffnete das Vorhängeschloss mit einem Lockpick und deaktivierte den Alarm.
Als er die Tür öffnete, kamen vier Gestalten in schwarzen Kampfanzügen und Skihauben herein. Jeder der vier war mit einem schallgedämpften AR -15-Sturmgewehr bewaffnet. Einer hatte eine Armbrust aus Kohlefaser.
»Auf die Sekunde pünktlich«, sagte Eddie.
»Gab es Probleme?«, fragte Juan, während sie zur Treppe schlichen.
»Zwei Wachmänner dürften morgen früh heftige Kopfschmerzen haben«, sagte Linc.
»Und sie werden ein paar Eisbeutel für ihre Kronjuwelen brauchen«, fügte Raven hinzu und reichte Juan ein Paar Handschellen.
MacD hielt Juan einladend sein Sturmgewehr hin. Juan meinte jedoch: »Diesmal nehme ich lieber die Armbrust.«
»Wirklich?«, fragte MacD. »Kann ich fast verstehen. Sie ist auch eine wahre Schönheit.«
»Ich verspreche, dass ich sie ihr zurückgeben werde, sobald wir wieder im Gator sitzen.« Linda, der die Armbrust gehörte, wartete inzwischen mit dem U-Boot in einem der freien Docks.
Als sie vor dem Büro des Fabrikchefs standen, sagte Juan: »Geben Sie mir sechzig Sekunden, dann verschwinden wir von hier.«
Er eilte die Treppe hinauf. Ferreira fühlte sich in dem Gebäude offenbar absolut sicher. Die Tür zu seinem Büro wurde nicht bewacht.
Juan platzte hinein, und ein überraschter Ricardo Ferreira starrte ihn geschockt an. Juan zielte mit der Armbrust auf seinen Kopf.
»Quem é vocé? «, fragte Ferreira indigniert.
»Wer ich bin?«, antwortete Juan auf Englisch. »Erkennen Sie mich nicht?«
»Nein.«
»Ich habe Luis Machado etwas versprochen. Sie kannten ihn als Roberto Espinoza.«
Für einen kurzen Moment war Ferreira verwirrt. »Diesen Verräter? Wie sind Sie …«
Während er die Armbrust im Anschlag hielt, pflückte sich Juan die künstlichen Polster aus dem Gesicht. »Er hat herausgefunden, wo diese Fabrik steht. Und ich versprach ihm, diese Information zu nutzen, um Sie zu schnappen. Und hier bin ich.«
Endlich dämmerte es Ferreira, wer Juan war. »Jorge González. Sie waren doch dabei, als meine Jacht angegriffen wurde.«
»Am selben Tag, als Sie Machado ermordet haben. Und mein Name ist nicht Jorge González. Er lautet Juan Cabrillo.«
»Wer immer Sie sein mögen, Sie kommen hier nicht lebend raus.«
»Ich denke doch.«
Der Feueralarm erklang.
»Evacuar del edificio «, drang Eddies Stimme aus den Lautsprechern. Juan hatte es ihm am gleichen Tag beigebracht: »Verlassen Sie das Gebäude.«
Unten in der Fabrikhalle eilten die Arbeiter zum Fahrstuhl, der den einzigen möglichen Ausgang darstellte. Sobald sie verschwunden waren, schwärmten Eddie, Linc, Raven und MacD aus, um Sprengladungen zu verteilen.
»Das können Sie nicht tun«, rief Ferreira.
»Sehen Sie doch selber zu, wie ich es kann.«
»Mir gehört die Polizei. Sie holt Sie aus dem Verkehr!«
»Ich zittere vor Angst.«
Juan senkte die Armbrust, um die Handschellen aus der Tasche zu holen, und Ferreira witterte seine Chance. Er griff nach der Pistole, die Juan in seinem Schulterhalfter gesehen hatte. Ehe er sie auch nur zur Hälfte herausgezogen hatte, hob Juan die Armbrust und schoss ihm ins Herz.
Ferreira schaute überrascht auf seine Brust, dann kippte er nach hinten, und seine blicklosen Augen starrten Juan an.
»Versprochen ist versprochen.«
Er rannte zurück nach unten, wo die vier schon am Ausgang warteten. Der entwaffnete Wachmann war geflüchtet.
»Verschwinden wir«, sagte Juan. »Sie werden jeden Moment merken, was hier passiert ist.«
Sie rannten über den Lagerplatz zu dem baufälligen Dock. Dort wartete der Gator, und sie kletterten hinein. Während Juan in der Lukenöffnung stand, verwandelte eine Serie von Explosionen die stillgelegte Konservenfabrik in einen Trümmerhaufen. Die Slipstream-Drohnen wurden ebenfalls zerstört.
Juan reichte MacD die Armbrust und schloss die Luke. Linda ging mit dem U-Boot auf Tauchstation.
Aus dem Cockpit meldete sie: »In fünfzehn Minuten sind wir zu Hause.« »Zu Hause« – das war für den Gator momentan ein gemietetes Boot auf der anderen Seite der Bucht.
»Übrigens«, fügte sie hinzu, »Max hat angerufen. Er klang ziemlich aufgeregt.«
Juan holte sein Telefon hervor und wählte Max’ Nummer.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Max, während er den Anruf annahm.
»Mission abgeschlossen«, sagte Juan. »Es dauerte allerdings erheblich länger, sie von unserem derzeitigen Quartier aus zu planen und auszuführen.«
»Es könnte sein, dass ich für dieses Problem eine Lösung habe. Hier, ich zeige dir mal ein Video.«
Eine Sekunde später sah er, wie Max durch einen Hafen schlenderte. Juan konnte keine typischen Merkmale erkennen, daher wusste er nicht, wo sich dieser Hafen befand. Das Einzige, was er erkannte, war, dass Max sich auf der anderen Seite der Erdkugel befand. Dies verriet der helle Sonnenschein.
Während des vorangegangenen Monats hatte Max nach einem neuen Schiff für die Corporation gesucht, einem Schiff, das genauso umgebaut und modifiziert werden konnte wie die Oregon , die von einem Holzfrachter in ein Hi-Tech-Spionageschiff verwandelt worden war. Langston Overholt und Vizepräsident Sandecker hatten durchblicken lassen, dass ausreichend Geld vorhanden sei. Einiges komme von der CIA , nachdem Tates Offshore-Konten aufgelöst wurden, einiges sei als Belohnung für die Übergabe der Pläne anzusehen, die ihnen erlauben würden, eine Abwehrwaffe gegen den Sonar-Disruptor zu entwickeln.
Max hatte auf der Suche nach einem geeigneten Ersatz Häfen, Schiffsfriedhöfe und Werften von Italien über Malaysia bis nach Südkorea durchgekämmt. Der Verlust der Oregon hatte ihm zwar vollkommen die Laune verdorben, aber zum ersten Mal seit Monaten sah Juan jetzt wieder Freude und Hoffnung in seinem Gesicht.
»Du wirst nicht glauben, was ich gefunden habe«, sagte Max. »Du kannst dich doch sicher noch an die Pläne erinnern, an denen wir damals gearbeitet haben. Dieses Schiff ist genau das, was wir immer zu finden gehofft haben. Ich kann es kaum erwarten, dir alles darüber zu erzählen.«
Max’ Begeisterung war ansteckend. Juan empfand die gleiche Euphorie und freudige Erwartung, die ihn auch schon erfüllt hatte, als er die Corporation gegründet und damit begonnen hatte, eine passende Mannschaft zusammenzusuchen. Er wusste sofort, dass sein Freund etwas ganz Besonderes entdeckt haben musste.
»Erzähl mir nicht nur davon, Max«, sagte Juan. »Zeig es mir.«