Foto, schwarz-weiß:

Blick in eine einsame, wilde Dünenlandschaft im Abendlicht; Ritas langer Schatten fällt auf Sand.

Bildunterschrift: Das Wüstengespenst von Sylt, August 1962

Where does it lead?

Jeden Abend steigt sie allein die Holztreppe hinter dem Haus am Süderhörn hinauf und folgt dem hellen Pfad durch die grün bewachsenen Dünen. Sie läuft, bis sie die Wanderdüne erreicht. Weil sie dieser Berg aus weißem Sand an die Wüste erinnert? Eine abgegrenzte, bezähmbare Wüste für Rita Hellberg?

BND-Akte 24 881_OT.

E N T W U R F

23. 8. ​62 W 2318

Betr.: Deutsche Raketenexperten in Ägypten.

1. Die Anwesenheit deutscher Experten in Ägypten geht in ihren Anfängen bis in die Jahre 1950/​51 zurück. Bereits ab 1952 bestanden nachstehende Beratergruppen:

a) Militär-Experten-Gruppe (General FAHRNBACHER)

b) Forschungsgruppe Waffen und Munition (Prof. RÖMER)

c) Wehrwirtschaftliche und wirtschaftliche Gruppe (Ehemaliger Wehrwirtschafts- und SS-Führer Dr. VOSS)

d) Raketen-Entwicklungsgruppe (Prof. ENGEL, ehemaliges SS-Waffenamt)

2. Die Raketen-Entwicklungsgruppe unter Prof. ENGEL hat sich in erster Linie mit der Entwicklung von kleinen Raketen, die von Flugzeugen aus abgeschossen werden, oder der Panzerbekämpfung dienen sollten, befasst und nicht mit der Konstruktion von Fern-Raketen.

3. Die Tatsache, daß erneut eine Raketen-Gruppe unter Prof. SAENGER in Ägypten ist, war pressebekannt. Über ihre Tätigkeit hat die deutsche Botschaft Kairo wiederholt berichtet.

Kai hat sein Wort gehalten. Am Tag nach der Geburtstagsfeier finden sie sein Zimmer bei Oma leer, das Bett ordentlich abgezogen. Auf dem Tisch liegt eine Schallplatte.

Für Rita.

Ohne ein weiteres Wort.

Rita nimmt die Platte mit nach Stade, nimmt sie mit in die Ferien nach List auf Sylt.

Urlaub auf Sylt, das ist für die Hellbergs nicht das mondäne Westerland oder Kampen, das gerade in Mode kommt, sondern die alljährliche Pilgerfahrt zum Seefliegerhorst. Erste Atlantiküberquerung von Ost nach West, der Pilot Walter von Gronau liegt auf dem Dünenfriedhof. List, Außenposten im wilden Norden der Insel, Garnisonsstadt aus rotem Klinker.

Kindheitserinnerung. Rita lernt Fahrradfahren auf dem Ellenbogen, der eigenartig geformten Landzunge, die den Abschluss der Insel bildet. Kai ist viel weiter vorn, der Wind trägt ihr seine Stimme in Bruchstücken zu.

»Pass auf, dass du nicht weggeweht wirst!«

»Warte auf mich, Kai!«

Rita fühlt sich wie auf einem Foto, von dem jemand die Hälfte abgerissen hat. Sie weiß nicht einmal, wohin sie ihm das schreiben soll. Er hat keine Adresse hinterlassen, keine Telefonnummer. Nichts.

Nur Miriam Makeba.

Where does it lead, this strange young love of mine?

Auf Sylt verbringen Friedrich und Ingrid Hellberg die Tage zusammen. Sie muss nicht putzen, das lässt die Wirtin der Pension Heidkieker nicht zu. Er muss nicht arbeiten, das lässt Ingrid nicht zu. Sie sitzen zusammen im Strandkorb, lesen Zeitung, schippen Sand auf den Burgwall, den er nach ihrer Ankunft aufgetürmt hat, früher mit Kai und Rita, jetzt mit Pünktchen. Sie gehen abwechselnd mit den Kindern in die Brandung oder spielen, an seltenen windstillen Tagen, Federball. Sie unterhalten sich. Stundenlange, tiefschürfende Unterhaltungen sind es nie gewesen, eher ein friedliches Dahinplätschern um vertraute Menschen und Themen. Die Kinder, die Eltern, und wie schön, dass es endlich wieder aufwärts geht.

In diesem Sommer sitzen sie nebeneinander im Strandkorb wie Fremde, die sich plötzlich auf engstem Raum arrangieren müssen.

Du hast es versprochen. Durch dick und dünn. Noch nicht ein Jahr sind wir in Kairo.

Ich habe alles für dich getan. Jetzt muss ich einmal an mich denken.

Dein Sohn. Du hast ihm zu viel durchgehen lassen.

Unser Sohn. Ich will für ihn da sein, wenn er mich braucht.

Denken sie. Und bleiben stumm.

BND-Akte 24 881_OT.

Nr. 1242/​62 Geheim.

24. August 1962, 5. Ausfertigung.

An den

Staatssekretär des Bundeskanzleramtes

Herrn Dr. Globke – persönlich –

Betr.: Deutsche Raketenfachleute in Ägypten

Anfang 1960 hielt sich der Vorsitzende des FPS, Dr. ECKERT (DAIMLER-BENZ), in Ägypten auf. Ihm wurde – wie auch anderen Deutschen – die Frage gestellt, welcher deutsche Forscher für den Bau von Raketen in Frage käme. Es handelte sich hierbei um einen weiteren Versuch der VAR, die im Anfang der fünfziger Jahre von Dr. Wilhelm VOSS und anderen begonnene Forschungs- und Beratungstätigkeit deutscher Fachleute mit neuen Kräften fortzusetzen. Offensichtlich verwies Dr. ECKERT damals auf einzelne Angehörige des FPS, denn kurze Zeit darauf trat die ägyptische Regierung an Prof. Dr. SÄNGER heran mit dem Angebot, an der Technischen Hochschule Kairo Vorlesungen über Raketentechnik und Raumfahrt zu halten und sich im Rahmen des Baues von Flüssigkeitsraketen beratend zu betätigen. Geplant war zunächst der Bau einer zweistufigen Höhensonde mit einer Gipfelhöhe bis zu etwa 500 km. Prof. Dr. SÄNGER nahm diesen Vorschlag an. Er und seine Mitarbeiter Dipl.-Ing. PILZ und Prof. GOERCKE sowie Dr. jur. KRUG fuhren in der Folgezeit mehrere Male nach Ägypten.

Pünktchen und Rita machen es sich möglichst weit entfernt von den Eltern in den äußeren Gefilden der Strandburg mit ihren Handtüchern und Büchern unter einem Sonnenschirm bequem. Oder sie verbringen den Tag gleich auf eigene Faust. Rita hat sich vorgenommen, ihrer kleinen Schwester schöne Ferien zu bescheren, koste es, was es wolle. Sie fahren mit dem Ausflugsdampfer raus zu den Seehundbänken. Sie machen die Fahrradtour über den Ellenbogen zum Leuchtturm. Sie gehen baden, obwohl es verboten ist, und werden von riesigen Hummern kreischend an den Strand zurückgetrieben. Sie trinken heißen Kakao in der neuen Strandhalle. Sie kaufen Nordseekrabben vom Kutter und essen sie gleich auf der Hafenmole. Sie machen die Fahrradtour durch die Heide bis Westerland und bummeln durch die Friedrichstraße. Stärken sich mit einem Eis auf den Stufen vor dem historischen Rathaus.

Drinnen sitzt Bürgermeister Heinz Reinefarth, Parteimitglied im Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Ein Mann der Tat. Kann vermitteln zwischen den vielen Flüchtlingen auf der Insel und den verbliebenen Bewohnern des bei Kriegsende bankrotten Nordseebades.

Mann der Tat. Baut auf. Packt an.

SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth, bekannt unter dem Namen Der Henker von Warschau.

Mann der Tat.

Warschauer Aufstand 1944. Hundertfünfzigtausend Opfer.

Zur selben Zeit führt Otto Skorzeny das Unternehmen Panzerfaust in Ungarn durch.

Bis zum Letzten.

Männer der Tat. Amerikanische Kriegsgefangenschaft. Zusammenarbeit mit dem CIC.

Ein neues Leben.

Bürgermeister.

Kreistag.

Schleswig-Holsteinischer Landtag.

Erst 2014, am siebzigsten Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto, wird vor dem Rathaus Westerland eine Gedenktafel angebracht. Der Wortlaut ist unter den Einwohnern umstritten.

Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern und hoffen auf Versöhnung.

Eines Abends, nach einem endlosen, schmerzhaft schönen Sonnenuntergang über dem Weststrand, kommt Rita herunter von der Düne und sieht ihren Vater allein im Garten sitzen.

Eine Wolldecke über den Knien, seine Aktentasche auf dem Schoß, muss er eingenickt sein. Rita berührt ihn vorsichtig an der Schulter. Er schreckt hoch, versucht sich zu orientieren.

»Vatilein!« So hat sie ihn schon lange nicht mehr genannt. »Willst du etwa hier draußen übernachten?«

Er nimmt ihre Hand von seiner Schulter und hält sie ganz fest. »Rita.« Mehr sagt er nicht.

Rita denkt an die gemeinsamen Abende im Garten der Villa in Maadi. Sie können doch jetzt miteinander reden. Entzieht ihm sanft ihre Hand, holt sich einen zweiten Liegestuhl und klappt ihn auf.

»Ist dir nicht kalt, Kind?«

»Ich habe genug Sonne getankt.« Rita deutet auf die hohen Dünen, die direkt hinter dem Garten beginnen.

Einen Moment lang herrscht Schweigen. Eine Möwe kreischt.

»Vati, hat Kai recht? Sind Professor Pilz und die anderen Nazis? Hast du davon gewusst?«

Es ist schon so dunkel, dass sie sein Gesicht kaum noch erkennen kann. Ist vielleicht besser so.

»Und was ist mit den Flugzeugen und den Raketen? Wird es wieder Krieg geben?«

»Rita.« Nochmal, aber jetzt mit einer anderen Betonung als vorher. Er ringt um Kontrolle, um die Vaterstimme.

»Ich bin kein Kind mehr«, fügt sie vorsichtshalber hinzu.

»Ich weiß.« Sie hört, wie er sich eine Zigarette anzündet und hätte auch gern eine. »Im Werk und auch sonst, Rita. Ich bin jetzt über ein Jahr in Kairo. Niemals fand eine politische Veranstaltung oder auch nur eine Diskussion statt. Außer uns sind doch auch Österreicher, Spanier, Schweizer dort. Und wir alle leben unser Familienleben und arbeiten Tag für Tag in den Büros und Werkhallen dafür, dass man uns anständig bezahlt. Wir sind doch keine Landsknechte! Keine Verbrecher!« Er zieht an seiner Zigarette.

Rita spürt die Anspannung.

Er spricht zu Kai, denkt sie, zu Kai durch mich.

»Wenn jemand Verantwortung trägt, dann sind es Messerschmitt, Brandner, Pilz und dieser Sänger. Die kennen die großen Zusammenhänge. Aber auch sie berufen sich auf das Wissen und Einverständnis deutscher Regierungsstellen. Was sollen denn wir kleinen Experten da sagen?«

Friedrich drückt seine Zigarette in dem Aschenbecher aus, den ihm die Wirtin vorsorglich auf den Gartentisch gestellt hat. »Dein Bruder und seine Freunde machen es sich zu einfach. Man kann doch nicht unsere ganze Generation für die Verbrechen Einzelner verdammen!«

Er sieht zu seiner Tochter hinüber, die ganz still dasitzt, den Blick auf die ersten Sterne gerichtet, die sich am Himmel sehen lassen. Warum hat er bloß ständig das Gefühl, er müsse sich verteidigen?

»Der Eichmann, das war ein Nazi. Es ist richtig, dass sie ihm den Prozess gemacht haben, dort in Israel. Aber wir Techniker und Ingenieure, wir haben mit der Politik nichts am Hut gehabt. Wir haben für unsere Arbeit gelebt, für den Fortschritt. Und das tun wir heute noch.« Seine Beine fühlen sich bleischwer an, viel zu lange hat er hier gesessen. »Und jetzt hilf mir hoch, Tochter. Es ist spät.«

BND-Akte 24 881_OT.

Nr. 1242/​62 Geheim.

Fortsetzung.

Am 1. September 1960 gründete der Angehörige des FPS, Dr. KRUG, in Stuttgart die INTRA-Handelsgesellschaft mbH., die ihre Büroräume in den Räumlichkeiten der ägyptischen Fluglinie UAA hat. Über die INTRA-Handelsgesellschaft mbH. sollen u. a. Käufe von Einzelteilen für die Herstellung der geplanten Höhensonde getätigt worden sein.

Es ist der letzte Tag im August. Der letzte Urlaubstag von Familie Hellberg. Morgen wird Hans Albers über den Hindenburgdamm in Richtung Hamburg rollen. Sie werden ihre Sachen packen, ein letztes Mal das Haus in Stade putzen, den Schlüssel bei den Nachbarn abgeben und nach Süden aufbrechen: Ingrid zu ihrer Kur ins Allgäu, Friedrich zu einer Konferenz in München. Rita und Pünktchen werden die Großeltern in Landsberg besuchen, bis es weitergeht nach Venedig, wo Brigitte Scholler an Bord der Ausonia zu ihnen stoßen soll.

Kein Lebenszeichen von Kai.

Die Sonne geht unter. Rita Hellberg steht allein auf der Wanderdüne von List auf Sylt.

Ein Lied von Miriam Makeba im Ohr.

Ein Bild von Hani Ayad vor Augen.

Where does it lead? This strange young love of mine?

Anywhere it takes me I will go.